Religion und Bildung
An die Stelle der Katholiken sind die Muslime getreten
Der Mythos von Bildungsarmut des katholischen Arbeitermädchens vom Lande ist entlarvt. Tatsächlich bedingen soziale Unterschiede den Bildungserfolg, nicht die Religionszugehörigkeit. Dennoch verkaufen sich Bücher über die „Bildungsunwilligkeit“ von Muslimen gut – zu Unrecht!
Von Helbig, Schneider Dienstag, 21.10.2014, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 26.10.2014, 21:05 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Zu den bekanntesten Kunstfiguren der deutschen Bildungsforschung gehört das „katholische Arbeitermädchen vom Lande“. Religion, soziale Herkunft, Geschlecht und Region – diese Faktoren waren nach Analysen von Hansgert Peisert und Ralf Dahrendorf in den 1960er Jahren entscheidend für eine Benachteiligung im Bildungssystem. Heute spricht die Forschung nicht mehr von einem katholischen Bildungsdefizit. An die Stelle der Katholiken sind aber aus Sicht einiger Autoren die Muslime getreten.
Religionszugehörigkeit hat eine lange Tradition in der sozialwissenschaftlichen Forschung als Einflussfaktor für Bildungserfolg. Für Deutschland existieren bisher aber keine Analysen auf Basis großer Datensätze, die sich auf die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen in Abhängigkeit von der Religionszugehörigkeit ihrer Familie beziehen. In einer gerade erschienenen Studie widmen wir uns dem Thema religionsbedingter Bildungschancen von Schülerinnen und Schülern im Vergleich zur Situation der 1960er Jahre. Ferner nimmt unsere Studie auch religionsbedingte Bildungsunterschiede in 19 europäischen Ländern in den Blick. Insgesamt greifen wir bei unseren Analysen auf Daten von fast 400.000 Kindern und Jugendlichen aus fünf Datensätzen zurück.
Hat es das katholische Arbeitermädchen je gegeben?
Hansgert Peisert stellte 1967 fest, dass in den südlichen Bundesländern Katholiken seltener das Gymnasium besuchten als evangelische Kinder. Schon er sprach die Möglichkeit an, dass sich hinter dieser vermeintlichen Benachteiligung katholischer Kinder andere Merkmale verbergen, wie etwa die soziale Herkunft. In unseren Analysen finden wir Ende der 1960er Jahre ebenfalls schlechtere Gymnasialchancen von katholischen Kindern in Bayern und Baden-Württemberg (-4,4 bis -7,8 Prozentpunkte im Vergleich zu evangelischen Kindern). Demgegenüber hatten katholische Kinder in den nördlichen Bundesländern Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen sowie Berlin (die stärker evangelisch geprägt waren), bessere Chancen, das Gymnasium zu besuchen (+6,4 bis +10,1 Prozentpunkte).
Im Gegensatz zu bisherigen Studien konnten wir untersuchen, ob diese Bildungsdifferenzen auf Unterschiede in der sozialen Lage zurückzuführen sind. In der Tat zeigt sich, dass Ende der 1960er Jahre katholische Kinder vor allem in Baden-Württemberg und Bayern in ungünstigeren sozialen Verhältnissen aufwuchsen. Ihre geringeren Gymnasialquoten lassen sich vollständig durch die soziale Lage des Elternhauses erklären. Die Kunstfigur des „katholischen Arbeitermädchens vom Lande“ sollte die schlechteren Bildungschancen von Katholiken in Bayern und Baden-Württemberg illustrieren. Wenn diese aber nun bei gleicher sozialer Lage nicht seltener das Gymnasium besuchten, dann wird die Kunstfigur zum Mythos. Die Benachteiligung von katholischen Mädchen aus Arbeiterfamilien vom Lande (in Bayern und Baden-Württemberg) war nicht stärker als die der evangelischen Mädchen. Die unterschiedlichen Bildungschancen von Kindern verschiedener Konfessionen sind zu dieser Zeit auf Unterschiede in der Sozialstruktur zurückzuführen. Eine weitere Bestätigung hierfür ist, dass katholische Kinder in den evangelisch geprägten nördlichen Bundesländern eher in besseren sozioökonomischen Verhältnissen lebten als der Durchschnitt der dortigen Bewohner und gleichzeitig überdurchschnittliche Bildungsergebnisse erzielten.
Die Rolle der Geografie
Dabei zeigt sich, dass sich die Bildungschancen von katholischen und evangelischen Kindern je nach räumlichem Kontext unterscheiden. Auch heute gilt in Westdeutschland: Je niedriger der Bevölkerungsanteil der Katholiken in einem Kreis ist, desto höher ist dort die Gymnasialquote der Katholiken.
Regionale Besonderheiten zeigen sich auch im Osten Deutschlands. Dort sind katholische und evangelische Kinder tendenziell (nicht statistisch signifikant) häufiger auf dem Gymnasium vorzufinden. Beide Religionsgruppen sind im überwiegend konfessionslos geprägten Osten eine Minderheit (außer im thüringischen Eichsfeld). Allerdings ist die Anzahl der religiös gebundenen Kinder und Jugendlichen in unseren Datensätzen im Osten sehr gering; die Ergebnisse sind daher mit Vorsicht zu interpretieren.
Zum Weiterlesen: Helbig, Marcel/Schneider, Thorsten: Auf der Suche nach dem katholischen Arbeitermädchen vom Lande. Religion und Bildungserfolg im regionalen, historischen und internationalen Vergleich (unter Mitarbeit von Julia Dohrmann/Andrea Palasciano). Springer VS: Wiesbaden 2014.
Émile Durkheim und Max Weber haben bereits um 1900 darauf hingewiesen, dass sich die Angehörigen einer Religionsgemeinschaft unterschiedlich verhalten, je nachdem, ob ihre Religionsgemeinschaft sich in der Minderheits- oder der Mehrheitsrolle befindet. Die beiden Wissenschaftler haben angenommen, dass Menschen in der Diaspora eine höhere Anstrengungsbereitschaft aufweisen und dadurch höhere Bildungserfolge erzielen bzw. höhere Bildungserfolge bei ihren Kindern erwarten können. Die höhere Anstrengungsbereitschaft wird auf eine Diskriminierungserwartung der Minderheitsreligion zurückgeführt: Durch höhere Leistung sollen erwartete Nachteile ausgeglichen werden. Dieses Argumentationsmuster findet sich auch für ethnische Minderheiten, um deren höhere Bildungsziele zu erklären (Verlinkung – Brief Teney). Ob Katholiken oder Protestanten allerdings heute noch Diskriminierungserwartungen haben, wenn sie sich regional in der Minderheit befinden, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden.
In Analysen auf der Ebene der Kreise zum Einfluss der Konfession auf die Bildungsteilhabe zeigte sich jedoch, dass sich die besseren Bildungsergebnisse der Minderheitsreligion ausschließlich für jene Kinder finden lassen, deren Eltern erst in den Kreis zugezogen sind. Das deutet eher darauf hin, dass die erhöhte Wahrscheinlichkeit, sich in der Diaspora zu befinden, mit beruflicher Mobilität einhergeht und dass die gefunden Ergebnisse durch unbeobachtete individuelle Merkmale (etwa die Arbeitsmotivation der Eltern) beeinflusst sein könnten. Diese Erklärung würde gegen einen möglichen Diaspora-Effekt sprechen. Ganz ausgeschlossen werden kann er allerdings nicht. Gesellschaft Leitartikel Meinung
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Der Unterschied zwischen Katholiken und Protestanten war nie derart groß wie er heute zwischen Christen und Muslimen ist. Und der Besuch eines Gymnasiums sagt inzwischen gar nichts mehr aus, da diese Anstalten gerade in linksregierten Ländern bedenklich an Qualität verloren haben. Nirgendwo ist die „Entbürgerlichung“ der Gesellschaft so deutlich sichtbar wie im deutschen Norden.
Wenn katholische Bauernmädchen früher keine höheren Schulen besuchten, hing das mit bestimmten verbohrten Leitbildern, mit verkrusteten sozialen Hierarchien, mit mangelnden finanziellen Ressourcen, mit z.T. verheerenden Sozialbedingungen und einem fehlenden Angebot an Bildungseinrichtungen zusammen. Höhere Bildung war Privatsache. Man zahlte dafür.
Die genannten Faktoren treffen auf die allermeisten Migranten heutzutage gerade nicht zu. Für Berliner Schüler, von denen fast die Hälfte Migranten sind, wird pro Kopf weitaus mehr ausgegeben als etwa für bayerische Schüler. Das Angebot ist überreich. Darum hinkt der Vergleich gewaltig.
Außerdem: Einfache Leute hatten auch damals schon eine recht komplexe Ausbildung, wenn man etwa an das Handwerk denkt, auch die landwirtschaftlichen Tätigkeiten waren keineswegs so primitiv, wie man denkt. Schulabschlüsse waren auch in der Regel mehr wert als heute. Deutschland war eben kein Drittweltland.
Das Problem heute liegt eher darin, dass akademische Arbeit in der Relation zu „normaler“ Arbeit wenig rentabel ist. Als Handwerker oder qualifizierter Arbeiter ist man nicht selten deutlich besser dran. Wieso soll ich als Migrant für ein Studium plus Promotion 300.000 Euro ausgeben, wenn ich das Geld anderweitig besser anlegen kann? Als tüchtiger Pizzabäcker verdient man mehr als ein Professor!
[…]
Von welchen Muslimen ist hier die Rede und in welche n Ländern?
Der Beitrag ist total verzerrend und desinformierend.
Wer so etwas schreibt kann kein Professor sein.
Im Iran sollen 95% der Frauen studieren. In der Türkei ist die Hälfte der Studierenden im Maschinenbau Frauen, was in Deutschland nicht der Fall ist.
In der „westlichen“ Berichterstattung wird der Islam immer als Rückständig und mitteralterlich dargestellt.
Das scheint eine imperialistische Wunschvorstellung des „Westens“ zu sein.
Die Zeiten sind vorbei !!!
@Surviver Die muslimische Welt ist rückschrittlich. Wenn ich mich nicht nicht irre, gibt es mehr Übersetzungen ins Griechische als in Arabische. Von flächendeckender Fortschrittlichkeit kann man daher wohl nicht sprechen.
Bildung als Wert an sich!
Wir sind in Deutschland auf dem richtigen Weg, Bildung hat eine sehr hohe Wertschätzung.
Wenn manchmal bedauert wird, dass das Niveau in höheren Schulen angeblich abgesenkt wird, sollten wir nicht übersehen, dass die MINT- Fächer einen ständigen Zufluss an Information haben. Der Bildungsstand der Bevölkerung wächst schnell an.
Religion, soziale Herkunft, Geschlecht und Region haben noch nie eine so geringe Rolle im Bildungssystem gespielt wie heute.
Joachim Datko Ingenieur, Physiker, Philosoph
Forum für eine faire, soziale Marktwirtschaft
http://www.monopole.de
Oh Yeah, der imperialistische Westen……
Im Artikel geht es um muslimische Kinder in Deutschland. Aber schön, dass Sie den Iran und die Türkei als Beispiel anbringen. Sehr sinnvoll im Vergleich zu Deutschland.
Vielleicht stellen Sie survivor mal den Unterschied zwischen dem Gymnasialbesuch von katholischen Schülerinnen In Südost-Tadschikistan im Vergleich zu Nord-Lesotho auf, das könnte ähnlich hilfreich sein.
@Joachim Datko.
„Der Bildungsstand der Bevölkerung wächst schnell an.
Religion, soziale Herkunft, Geschlecht und Region haben noch nie eine so geringe Rolle im Bildungssystem gespielt wie heute.“
Das halte ich für das Märchen des Monats:
http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/alle-ergebnisse-die-pisa-studie-im-detail-a-521201-4.html
http://www.n-tv.de/panorama/In-einer-Welt-ohne-Lesen-und-Schreiben-article12384531.html
Wenn ich solche abwertenden Sprüche höre, wie „früher waren die Abschlüsse viel mehr wert“ usw, dann kommt mir wirklich alles hoch.
Ich kann mich Herrn Datko absolut anschliessen, „dass die MINT- Fächer einen ständigen Zufluss an Information haben. Der Bildungsstand der Bevölkerung wächst schnell an.“
Fakt ist, die heutigen Schüler/Studenten sind mit einem höherem Wissensstand konfrontiert, als jemals in der Menschheitsgeschichte zuvor, weil die Menschheit noch nie ein derart geballtes und komplexes Wissen hatte. Hinzu kommen beschleunigte Entwicklungen in der Wissenschaft und derzeit besonders im IT-Bereich.
@ Kritika. Was hat denn der Zufluss an Informationen mit dem persönlichen Bildungsgrad, mit Sprachfertigkeiten oder mit Allgemeinbildung zu tun? „Wissen“ ist keine „Bildung“ und Wissen ist auch kein stabiles Aggregat, weil Wissen auch verloren gehen kann. Im Deutschen Kaiserreich betrug die Analphabetenquote 1% und das obwohl es kein Internet gab. Wenn man sich den Literatur-, Kunst und Wissenschaftsbetrieb ansieht, sieht der heutige halt auch erbärmlich aus. Berlin ist schon lange kein „Weltzentrum“ der Physik mehr. Es hat die größten Mühen etwas auf die Beine zu stellen!
Zu 22. Oktober 2014 um 17:18
Ich bin gerne bereit, eine Lanze für unser Bildungssystem zu brechen, es ist spitze! Unseren Wohlstand verdanken wir unter anderem auch dem exzellenten Bildungssystem.
@Joachim Datko
Ja mag schon sein. Aber sind auch unsere Lehrer so gut? Sind sie so motiviert? Gut genug bezahlt? Taugen die Direktoren etwas? Herrscht überhaupt ein Klima, in dem Unterricht möglich ist? Wird schulische Leistung belohnt? Herrscht überhaupt eine bildungsfreundliche Atmosphäre? Ich weiß aus den USA, dass Unterricht in wirklich multikulturellen Klassen für den Lehrer sehr, sehr schwierig sein kann. „System“ ist nicht alles, da kommt viel mehr zusammen.