Zu den bekanntesten Kunstfiguren der deutschen Bildungsforschung gehört das „katholische Arbeitermädchen vom Lande“. Religion, soziale Herkunft, Geschlecht und Region – diese Faktoren waren nach Analysen von Hansgert Peisert und Ralf Dahrendorf in den 1960er Jahren entscheidend für eine Benachteiligung im Bildungssystem. Heute spricht die Forschung nicht mehr von einem katholischen Bildungsdefizit. An die Stelle der Katholiken sind aber aus Sicht einiger Autoren die Muslime getreten.
Religionszugehörigkeit hat eine lange Tradition in der sozialwissenschaftlichen Forschung als Einflussfaktor für Bildungserfolg. Für Deutschland existieren bisher aber keine Analysen auf Basis großer Datensätze, die sich auf die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen in Abhängigkeit von der Religionszugehörigkeit ihrer Familie beziehen. In einer gerade erschienenen Studie widmen wir uns dem Thema religionsbedingter Bildungschancen von Schülerinnen und Schülern im Vergleich zur Situation der 1960er Jahre. Ferner nimmt unsere Studie auch religionsbedingte Bildungsunterschiede in 19 europäischen Ländern in den Blick. Insgesamt greifen wir bei unseren Analysen auf Daten von fast 400.000 Kindern und Jugendlichen aus fünf Datensätzen zurück.
Hat es das katholische Arbeitermädchen je gegeben?
Hansgert Peisert stellte 1967 fest, dass in den südlichen Bundesländern Katholiken seltener das Gymnasium besuchten als evangelische Kinder. Schon er sprach die Möglichkeit an, dass sich hinter dieser vermeintlichen Benachteiligung katholischer Kinder andere Merkmale verbergen, wie etwa die soziale Herkunft. In unseren Analysen finden wir Ende der 1960er Jahre ebenfalls schlechtere Gymnasialchancen von katholischen Kindern in Bayern und Baden-Württemberg (-4,4 bis -7,8 Prozentpunkte im Vergleich zu evangelischen Kindern). Demgegenüber hatten katholische Kinder in den nördlichen Bundesländern Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen sowie Berlin (die stärker evangelisch geprägt waren), bessere Chancen, das Gymnasium zu besuchen (+6,4 bis +10,1 Prozentpunkte).
Im Gegensatz zu bisherigen Studien konnten wir untersuchen, ob diese Bildungsdifferenzen auf Unterschiede in der sozialen Lage zurückzuführen sind. In der Tat zeigt sich, dass Ende der 1960er Jahre katholische Kinder vor allem in Baden-Württemberg und Bayern in ungünstigeren sozialen Verhältnissen aufwuchsen. Ihre geringeren Gymnasialquoten lassen sich vollständig durch die soziale Lage des Elternhauses erklären. Die Kunstfigur des „katholischen Arbeitermädchens vom Lande“ sollte die schlechteren Bildungschancen von Katholiken in Bayern und Baden-Württemberg illustrieren. Wenn diese aber nun bei gleicher sozialer Lage nicht seltener das Gymnasium besuchten, dann wird die Kunstfigur zum Mythos. Die Benachteiligung von katholischen Mädchen aus Arbeiterfamilien vom Lande (in Bayern und Baden-Württemberg) war nicht stärker als die der evangelischen Mädchen. Die unterschiedlichen Bildungschancen von Kindern verschiedener Konfessionen sind zu dieser Zeit auf Unterschiede in der Sozialstruktur zurückzuführen. Eine weitere Bestätigung hierfür ist, dass katholische Kinder in den evangelisch geprägten nördlichen Bundesländern eher in besseren sozioökonomischen Verhältnissen lebten als der Durchschnitt der dortigen Bewohner und gleichzeitig überdurchschnittliche Bildungsergebnisse erzielten.
Die Rolle der Geografie
Dabei zeigt sich, dass sich die Bildungschancen von katholischen und evangelischen Kindern je nach räumlichem Kontext unterscheiden. Auch heute gilt in Westdeutschland: Je niedriger der Bevölkerungsanteil der Katholiken in einem Kreis ist, desto höher ist dort die Gymnasialquote der Katholiken.
Regionale Besonderheiten zeigen sich auch im Osten Deutschlands. Dort sind katholische und evangelische Kinder tendenziell (nicht statistisch signifikant) häufiger auf dem Gymnasium vorzufinden. Beide Religionsgruppen sind im überwiegend konfessionslos geprägten Osten eine Minderheit (außer im thüringischen Eichsfeld). Allerdings ist die Anzahl der religiös gebundenen Kinder und Jugendlichen in unseren Datensätzen im Osten sehr gering; die Ergebnisse sind daher mit Vorsicht zu interpretieren.
Zum Weiterlesen: Helbig, Marcel/Schneider, Thorsten: Auf der Suche nach dem katholischen Arbeitermädchen vom Lande. Religion und Bildungserfolg im regionalen, historischen und internationalen Vergleich (unter Mitarbeit von Julia Dohrmann/Andrea Palasciano). Springer VS: Wiesbaden 2014.
Émile Durkheim und Max Weber haben bereits um 1900 darauf hingewiesen, dass sich die Angehörigen einer Religionsgemeinschaft unterschiedlich verhalten, je nachdem, ob ihre Religionsgemeinschaft sich in der Minderheits- oder der Mehrheitsrolle befindet. Die beiden Wissenschaftler haben angenommen, dass Menschen in der Diaspora eine höhere Anstrengungsbereitschaft aufweisen und dadurch höhere Bildungserfolge erzielen bzw. höhere Bildungserfolge bei ihren Kindern erwarten können. Die höhere Anstrengungsbereitschaft wird auf eine Diskriminierungserwartung der Minderheitsreligion zurückgeführt: Durch höhere Leistung sollen erwartete Nachteile ausgeglichen werden. Dieses Argumentationsmuster findet sich auch für ethnische Minderheiten, um deren höhere Bildungsziele zu erklären (Verlinkung – Brief Teney). Ob Katholiken oder Protestanten allerdings heute noch Diskriminierungserwartungen haben, wenn sie sich regional in der Minderheit befinden, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden.
In Analysen auf der Ebene der Kreise zum Einfluss der Konfession auf die Bildungsteilhabe zeigte sich jedoch, dass sich die besseren Bildungsergebnisse der Minderheitsreligion ausschließlich für jene Kinder finden lassen, deren Eltern erst in den Kreis zugezogen sind. Das deutet eher darauf hin, dass die erhöhte Wahrscheinlichkeit, sich in der Diaspora zu befinden, mit beruflicher Mobilität einhergeht und dass die gefunden Ergebnisse durch unbeobachtete individuelle Merkmale (etwa die Arbeitsmotivation der Eltern) beeinflusst sein könnten. Diese Erklärung würde gegen einen möglichen Diaspora-Effekt sprechen. Ganz ausgeschlossen werden kann er allerdings nicht.
Gottesdienstbesuch und Bildungserfolg
Wir können zeigen, dass der Besuch von Gottesdiensten positiv mit den Bildungsergebnissen im Zusammenhang steht. Für Deutschland zeigt sich eine höhere Gymnasialquote, für die untersuchten europäischen Länder ein besseres Abschneiden in standardisierten Schulleistungstests. Allerdings ist der Einfluss des Gottesdienstbesuchs auf den Bildungserfolg nicht linear. Die Analysen weisen lediglich darauf hin, dass Kinder und Jugendliche einen niedrigeren Bildungserfolg haben, wenn sie gar nicht zur Kirche gehen bzw. an religiösen Veranstaltungen teilnehmen. Zwischen jenen, die nur zu „Weihnachten und Ostern“ in die Kirche gehen, und jenen, die mindestens einmal im Monat in die Kirche gehen, zeigen sich hingegen keine Unterschiede.
Auch in der amerikanischen Forschung zeigt sich, dass Kinder und Jugendliche, die an Gottesdiensten teilnehmen, einen höheren Bildungserfolg haben als jene, die dies nicht tun. Hierbei wird angenommen, dass Kinder, aber auch Eltern, die häufig einen Gottesdienst besuchen, Sozialkapital akkumulieren und darüber höhere Bildungserfolge erzielen. Die Wirkweise sozialen Kapitals wird in der Theorie unterschiedlich beschrieben. Durch den häufigen Kirchenbesuch könnten Netzwerke aufgebaut werden, durch die nützliche Informationen bereitgestellt werden. Für die Kinder könnten sich förderliche Kontakte entwickeln (zum Beispiel zu Mentoren), die sie ohne den Kirchenbesuch nicht hätten. Schließlich könnten soziale Normen zur Pflichterfüllung und Vermeidung abweichenden Verhaltens etabliert werden, deren Verletzung durch die Mitglieder der Kirchengemeinde sanktioniert werden. Auf der Basis dieser Annahmen wäre zu erwarten, dass der Bildungserfolg umso höher ist, je stärker das Engagement in der Gemeinde ist. Unsere Ergebnisse für Deutschland bestätigen diesen Sozialkapitalansatz allerdings nicht, da auch seltene Gottesdienstbesuche mit höherem Bildungserfolg einhergehen. Eine gesicherte Erklärung für die Wirkung seltener Kirchgänge haben wir nicht anzubieten. Es liegt die Vermutung nahe, dass der Besuch eines Gottesdienstes an hohen Festtagen ein Maß für die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung sein könnte.
Und der Islam?
An die Stelle der Katholiken als angebliche Bildungsverlierer sind heute Angehörige einer anderen Religionsgemeinschaft getreten: die Muslime. Bücher, die von der „Bildungsunwilligkeit“ von Muslimen sprechen, verkaufen sich gut.
Die empirischen Befunde spielen einer Stigmatisierung allerdings nicht in die Hände. Zwar können auch wir zeigen, dass muslimische Kinder in Westdeutschland eine um 32 Prozentpunkte niedrigere Gymnasialbesuchsquote haben als konfessionslose Kinder. Auch in den anderen untersuchten westeuropäischen Ländern erzielen muslimische Kinder in Schulleistungstests unterdurchschnittliche Ergebnisse, und zwar in Österreich, der Schweiz, Belgien, Luxemburg, den Niederlanden, Dänemark und Norwegen.
Aber: Das schlechtere Abschneiden muslimischer Kinder ist in Westdeutschland vollständig durch die schlechtere soziale Lage ihrer Eltern zu erklären. Auch in den meisten anderen Ländern Westeuropas lässt sich der niedrigere Bildungserfolg vollständig über die soziale Herkunft erklären. Muslimische Kinder und Jugendliche erzielen nicht wegen ihrer Religion schlechtere Bildungsergebnisse, sondern weil sich ihre Eltern in einer schlechteren sozialen Lage befinden als die Angehörigen einer anderen Religionsgemeinschaft bzw. konfessionslose Kinder und Jugendliche.
Fazit
Hängen Religion und Bildung miteinander zusammen? Diese Frage ist nicht einfach mit Ja oder Nein zu beantworten. Zwar weisen die Mitglieder einzelner Religionsgemeinschaften in der Vergangenheit (Katholiken) und in der Gegenwart (Muslime) im Durchschnitt einen geringeren Bildungserfolg auf. Allerdings ist das katholische Bildungsdefizit der 1960er Jahre, das nur in wenigen Bundesländern vorzufinden war, Resultat der schlechteren sozioökonomischen Lage katholischer Kinder und Jugendlicher in eben diesen Bundesländern. Ebenso ist die heutige Benachteiligung von muslimischen Kindern in Deutschland ausschließlich über ihre schlechtere soziale Lage zu erklären. Gleiches gilt in Bezug auf Muslime fast ausnahmslos für andere westeuropäische Länder.
Die erstmalige Untersuchung für Schüler mit Individualdaten im Rahmen unserer Studie hat zwar einige Anhaltspunkte über den Zusammenhang von Religion und Bildung liefern können, lässt uns aber mit einer Reihe weiterer Forschungsfragen zurück:
Warum haben katholische Kinder in protestantischen Regionen einen höheren Bildungserfolg, warum protestantische in katholischen Kreisen? Verbirgt sich dahinter tatsächlich ein Diaspora-Effekt? Warum hängt der Kirchgang mit dem Bildungserfolg zusammen? Unterscheiden sich die Bildungsergebnisse von Schülern konfessioneller Schulen von denen anderer Schulen? Warum unterscheiden sich die gefundenen Ergebnisse stark von den Ergebnissen der amerikanischen Forschung zu diesem Themenkomplex? Wie sieht das Bild für kleinere Religionsgemeinschaften – wie etwa dem Judentum – aus, die in dieser Studie nicht untersucht werden konnten?