Bades Meinung

Kulturangst, Willkommenstechnik und Willkommenskultur

Kulturoptimisten, Kulturpragmatiker und Kulturpessimisten erleben den kulturellen Wandel in der Einwanderungsgesellschaft jeweils anders. Willkommenskultur ist hier als Vermittlung hilfreich, greift aber insgesamt noch zu kurz - Prof. Klaus J. Bade kommentiert.

Von Montag, 13.10.2014, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 16.10.2014, 17:09 Uhr Lesedauer: 9 Minuten  |  

Integration ist in Deutschland besser als ihr Ruf im Land. So lautete die wichtigste Kernbotschaft des ersten Jahresgutachtens des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) unter dem Titel ‚Einwanderungsgesellschaft 2010‘. Das gilt heute noch mehr als damals, trotz aller noch immer herrschenden Chancenungleichheiten in den Bereichen Bildung und Arbeitsmarkt.

Auch andere Schattenseiten bestätigen als Ausnahmen eher die Regel der insgesamt relativ positiven Integrationsbilanz; relativ im Blick auf die lange wenig integrationsfördernden politischen Rahmenbedingungen, unter denen sich diese Integration entwickeln musste – in einem vermeintlichen Nicht-Einwanderungsland mit Jahrzehnte überdauernden politischen Erkenntnis- und Handlungsblockaden. Das hat sich im Kern erst seit rund anderthalb Jahrzehnten zunehmend und in den letzten Jahren nachgerade rasant verbessert.

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Viele im Ausland beneiden uns um diese relativ positive Integrationsbilanz. Sie wundern sich über das deutsche Gejammer auf hohem Niveau und besonders über ‚the German Kulturangst‘. In der Außensicht auf Deutschland ist ‚the German Kulturangst‘ als neues teutonisches Hystericum dabei, in der Rangliste der deutschen kollektiven Todesängste den Klassiker ‚le Waldsterben‘ zu überrunden.

Kulturangst ist die Angst vor einer Gefährdung der eigenen Wertvorstellungen und Lebensformen bzw. dessen, was man je und je darunter versteht, durch als fremd empfundene oder so beschriebene Wertvorstellungen und Lebensformen bzw. das, was man je und je darunter versteht. In beiden Perspektiven erscheint Kultur nicht als historischer Prozess, sondern als ahistorischer Zustand.

Kulturangst ist kein tragfähiges Fundament für Willkommenskultur; denn Einwanderer willkommen heißen kann nur, wer keine Angst vor ihnen hat.

Kulturangst hat auch mit Identitätsfragen in der Einwanderungsgesellschaft zu tun; denn Einwanderung in großer Zahl verändert auch Gesellschaft und Kultur des Einwanderungslandes. Das Zusammenwachsen von Mehrheits- und Einwandererbevölkerung zur Einwanderungsgesellschaft ist ein eigendynamischer, unübersichtlicher und mitunter anstrengender Kultur- und Sozialprozess. Er kann auch Identitätsängste, Vertrauenskrisen und Aggressionen auslösen.

Kulturvielfalt und Kulturangst – das deutsche Kulturparadox
Jüngere Menschen akzeptieren den alltäglichen kulturellen und sozialen Wandel in der Einwanderungsgesellschaft inzwischen weithin als alltägliche Struktur ihrer Lebenswelt. Bei älteren Menschen gibt es oft eine niedrigere Schwelle zur Kulturangst. Sie spricht zum Beispiel aus dem Gefühl, ‚Fremde im eigenen Land‘ zu werden.

Das ist aber nicht nur ein Generationenproblem. Es gibt vielmehr eine paradoxe kulturelle Spannung in der Einwanderungsgesellschaft: auf der einen Seite die stark wachsende Zahl der verhaltenen Kulturoptimisten oder doch nüchternen Kulturpragmatiker; auf der anderen Seite die schrumpfende, aber umso lauter protestierende Zahl der Kulturpessimisten. Diese Spannung wird zu wenig ernst genommen.

Kulturangst ist ein wesentlicher Hintergrund für Abwehrhaltungen gegenüber starken Zuwanderungen aus anders geprägten Kulturen. Das reicht bis zum mentalen Schulterschluss kulturell verunsicherter Kreise der Mehrheitsbevölkerung in der tendenziellen Ausgrenzung einer starken, hier insbesondere muslimischen Minderheit, die als kulturelles Gegenbild beschrieben wird. Dieser vermeintlich Zusammenhalt und Identität stiftende Auskreisungsdiskurs aber schafft nur funktionale und brüchige Schein- bzw. Ersatzidentitäten zu Lasten Dritter.

Im angloamerikanischen Kontext nennt man diesen Effekt ‚Othering‘, in Deutschland ‚Anderung‘ oder ‚negative Integration‘ (Bade). Er ist, mit wechselnden Feindbildern, aus der Migrations- und Integrationsgeschichte bestens bekannt und wird in Deutschland heute nur neu erfahren bzw. neu entdeckt. Literaturkenntnis schützt vor Neuentdeckungen.

Willkommenstechnik + Anerkennungstechnik = Willkommenskultur? Eine falsche Rechnung
Willkommenskultur wird heute oft als Allheilmittel für Probleme der sich entfaltenden Einwanderungsgesellschaft gepredigt. In Wahrheit geht es zumeist eher um Willkommenstechnik mit dem Ziel, qualifizierte Zuwanderer als Einwanderer auf Dauer zu bekommen, um den wachsenden Druck des demographischen Wandels auf Arbeitsmarkt und Sozialsysteme noch etwas abzufedern und damit Zeit zu gewinnen für die längst überfälligen Sozialreformen.

Hierzu gibt es vielfältige Initiativen von Politik, Wirtschaft, Stiftungen, Kommunen und Behörden. Davon soll hier nur das Engagement des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) kurz beleuchtet werden:

Dem BAMF geht es mit seinem zehn Bundesländer und zehn Ausländerbehörden umfassenden Großprojekt zunächst und vor allem um den Versuch, die Verwandlung von Ausländerbehörden in ‘Willkommensbehörden‘ zu befördern. Dazu gibt es bislang, trotz aller Bemühungen, erst wenige amtliche Leuchttürme, wie das Hamburger Welcome-Center und vergleichbare Zentren zum Beispiel in Dresden, Essen und Stuttgart. Das gehört also in den Bereich der Willkommenstechnik, indem es erkennbare, wenngleich mühsame Fortschritte gibt.

Das Nürnberger Bundesamt geht mit seinem Großprojekt einen Schritt weiter in Richtung Willkommenskultur; denn auch das Stichwort ‚Anerkennung‘ hat einen doppelten Boden: Wenn von ‚Anerkennung‘ die Rede war, dann war damit lange meist die Anerkennung formeller Abschlüsse und beruflicher Erfahrungen von zugewanderten Fachkräften gemeint. Das gehört in den Bereich der Anerkennungstechnik, also der Akzeptanz des sozialen Kapitals von Einwanderern als begrüßenswerte Investition in die Einwanderungsgesellschaft.

Das BAMF will seine Initiative aber nicht nur verwaltungstechnisch, sondern auch gesellschaftspolitisch verstanden wissen. Sein Großprojekt zielt auf eine Verbindung von „Willkommens- und Anerkennungskultur“.

Willkommenskultur und Gesellschaftspolitik
Das BAMF definiert: „Anerkennungskultur meint Wertschätzung gegenüber kultureller Vielfalt und soll als Grundlage den gesellschaftlichen Zusammenhalt unterstützen.“ Dem Nürnberger Bundesamt geht es dabei auch um „Anerkennungskultur vor Ort“ mit dem konkreten Ziel, „bürgerliches Engagement interkulturell zu öffnen und zu stärken“. Das ist ein wichtiger Schritt von der Perfektionierung behördlicher Anerkennungstechnik zum Bemühen um die Förderung gesellschaftlicher Anerkennungskultur, also um die Akzeptanz des kulturellen Kapitals der Einwanderer als begrüßenswerte Investition in die Einwanderungsgesellschaft.

Neben dem Engagement des BAMF gibt es auch andere große Willkommens- und Anerkennungsinitiativen. Das gilt zum Beispiel für die ‚Charta der Vielfalt‘, deren Selbstverpflichtungen schon 1700 Betriebe unterzeichnet haben. Hierher gehören aber auch das vom Bundeswirtschaftsministerium geschaltete Werbeportal ‚Make it in Germany‘ und besonders das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gemeinsam mit dem Bundesinstitut für Berufsbildung entwickelte, in sieben Sprachen werbende Anerkennungsportal zum Anerkennungsgesetz des Bundes. Das sind große, auf amtlicher Seite noch vor einem Jahrzehnt kaum vorstellbare Fortschritte. Leitartikel Meinung

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