Integration ist in Deutschland besser als ihr Ruf im Land. So lautete die wichtigste Kernbotschaft des ersten Jahresgutachtens des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) unter dem Titel ‚Einwanderungsgesellschaft 2010‘. Das gilt heute noch mehr als damals, trotz aller noch immer herrschenden Chancenungleichheiten in den Bereichen Bildung und Arbeitsmarkt.
Auch andere Schattenseiten bestätigen als Ausnahmen eher die Regel der insgesamt relativ positiven Integrationsbilanz; relativ im Blick auf die lange wenig integrationsfördernden politischen Rahmenbedingungen, unter denen sich diese Integration entwickeln musste – in einem vermeintlichen Nicht-Einwanderungsland mit Jahrzehnte überdauernden politischen Erkenntnis- und Handlungsblockaden. Das hat sich im Kern erst seit rund anderthalb Jahrzehnten zunehmend und in den letzten Jahren nachgerade rasant verbessert.
Viele im Ausland beneiden uns um diese relativ positive Integrationsbilanz. Sie wundern sich über das deutsche Gejammer auf hohem Niveau und besonders über ‚the German Kulturangst‘. In der Außensicht auf Deutschland ist ‚the German Kulturangst‘ als neues teutonisches Hystericum dabei, in der Rangliste der deutschen kollektiven Todesängste den Klassiker ‚le Waldsterben‘ zu überrunden.
Kulturangst ist die Angst vor einer Gefährdung der eigenen Wertvorstellungen und Lebensformen bzw. dessen, was man je und je darunter versteht, durch als fremd empfundene oder so beschriebene Wertvorstellungen und Lebensformen bzw. das, was man je und je darunter versteht. In beiden Perspektiven erscheint Kultur nicht als historischer Prozess, sondern als ahistorischer Zustand.
Kulturangst ist kein tragfähiges Fundament für Willkommenskultur; denn Einwanderer willkommen heißen kann nur, wer keine Angst vor ihnen hat.
Kulturangst hat auch mit Identitätsfragen in der Einwanderungsgesellschaft zu tun; denn Einwanderung in großer Zahl verändert auch Gesellschaft und Kultur des Einwanderungslandes. Das Zusammenwachsen von Mehrheits- und Einwandererbevölkerung zur Einwanderungsgesellschaft ist ein eigendynamischer, unübersichtlicher und mitunter anstrengender Kultur- und Sozialprozess. Er kann auch Identitätsängste, Vertrauenskrisen und Aggressionen auslösen.
Kulturvielfalt und Kulturangst – das deutsche Kulturparadox
Jüngere Menschen akzeptieren den alltäglichen kulturellen und sozialen Wandel in der Einwanderungsgesellschaft inzwischen weithin als alltägliche Struktur ihrer Lebenswelt. Bei älteren Menschen gibt es oft eine niedrigere Schwelle zur Kulturangst. Sie spricht zum Beispiel aus dem Gefühl, ‚Fremde im eigenen Land‘ zu werden.
Das ist aber nicht nur ein Generationenproblem. Es gibt vielmehr eine paradoxe kulturelle Spannung in der Einwanderungsgesellschaft: auf der einen Seite die stark wachsende Zahl der verhaltenen Kulturoptimisten oder doch nüchternen Kulturpragmatiker; auf der anderen Seite die schrumpfende, aber umso lauter protestierende Zahl der Kulturpessimisten. Diese Spannung wird zu wenig ernst genommen.
Kulturangst ist ein wesentlicher Hintergrund für Abwehrhaltungen gegenüber starken Zuwanderungen aus anders geprägten Kulturen. Das reicht bis zum mentalen Schulterschluss kulturell verunsicherter Kreise der Mehrheitsbevölkerung in der tendenziellen Ausgrenzung einer starken, hier insbesondere muslimischen Minderheit, die als kulturelles Gegenbild beschrieben wird. Dieser vermeintlich Zusammenhalt und Identität stiftende Auskreisungsdiskurs aber schafft nur funktionale und brüchige Schein- bzw. Ersatzidentitäten zu Lasten Dritter.
Im angloamerikanischen Kontext nennt man diesen Effekt ‚Othering‘, in Deutschland ‚Anderung‘ oder ‚negative Integration‘ (Bade). Er ist, mit wechselnden Feindbildern, aus der Migrations- und Integrationsgeschichte bestens bekannt und wird in Deutschland heute nur neu erfahren bzw. neu entdeckt. Literaturkenntnis schützt vor Neuentdeckungen.
Willkommenstechnik + Anerkennungstechnik = Willkommenskultur? Eine falsche Rechnung
Willkommenskultur wird heute oft als Allheilmittel für Probleme der sich entfaltenden Einwanderungsgesellschaft gepredigt. In Wahrheit geht es zumeist eher um Willkommenstechnik mit dem Ziel, qualifizierte Zuwanderer als Einwanderer auf Dauer zu bekommen, um den wachsenden Druck des demographischen Wandels auf Arbeitsmarkt und Sozialsysteme noch etwas abzufedern und damit Zeit zu gewinnen für die längst überfälligen Sozialreformen.
Hierzu gibt es vielfältige Initiativen von Politik, Wirtschaft, Stiftungen, Kommunen und Behörden. Davon soll hier nur das Engagement des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) kurz beleuchtet werden:
Dem BAMF geht es mit seinem zehn Bundesländer und zehn Ausländerbehörden umfassenden Großprojekt zunächst und vor allem um den Versuch, die Verwandlung von Ausländerbehörden in ‘Willkommensbehörden‘ zu befördern. Dazu gibt es bislang, trotz aller Bemühungen, erst wenige amtliche Leuchttürme, wie das Hamburger Welcome-Center und vergleichbare Zentren zum Beispiel in Dresden, Essen und Stuttgart. Das gehört also in den Bereich der Willkommenstechnik, indem es erkennbare, wenngleich mühsame Fortschritte gibt.
Das Nürnberger Bundesamt geht mit seinem Großprojekt einen Schritt weiter in Richtung Willkommenskultur; denn auch das Stichwort ‚Anerkennung‘ hat einen doppelten Boden: Wenn von ‚Anerkennung‘ die Rede war, dann war damit lange meist die Anerkennung formeller Abschlüsse und beruflicher Erfahrungen von zugewanderten Fachkräften gemeint. Das gehört in den Bereich der Anerkennungstechnik, also der Akzeptanz des sozialen Kapitals von Einwanderern als begrüßenswerte Investition in die Einwanderungsgesellschaft.
Das BAMF will seine Initiative aber nicht nur verwaltungstechnisch, sondern auch gesellschaftspolitisch verstanden wissen. Sein Großprojekt zielt auf eine Verbindung von „Willkommens- und Anerkennungskultur“.
Willkommenskultur und Gesellschaftspolitik
Das BAMF definiert: „Anerkennungskultur meint Wertschätzung gegenüber kultureller Vielfalt und soll als Grundlage den gesellschaftlichen Zusammenhalt unterstützen.“ Dem Nürnberger Bundesamt geht es dabei auch um „Anerkennungskultur vor Ort“ mit dem konkreten Ziel, „bürgerliches Engagement interkulturell zu öffnen und zu stärken“. Das ist ein wichtiger Schritt von der Perfektionierung behördlicher Anerkennungstechnik zum Bemühen um die Förderung gesellschaftlicher Anerkennungskultur, also um die Akzeptanz des kulturellen Kapitals der Einwanderer als begrüßenswerte Investition in die Einwanderungsgesellschaft.
Neben dem Engagement des BAMF gibt es auch andere große Willkommens- und Anerkennungsinitiativen. Das gilt zum Beispiel für die ‚Charta der Vielfalt‘, deren Selbstverpflichtungen schon 1700 Betriebe unterzeichnet haben. Hierher gehören aber auch das vom Bundeswirtschaftsministerium geschaltete Werbeportal ‚Make it in Germany‘ und besonders das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gemeinsam mit dem Bundesinstitut für Berufsbildung entwickelte, in sieben Sprachen werbende Anerkennungsportal zum Anerkennungsgesetz des Bundes. Das sind große, auf amtlicher Seite noch vor einem Jahrzehnt kaum vorstellbare Fortschritte.
Sie können aber keinen Ersatz bieten für zwei Mängel außen und innen: Nach außen hin fehlt noch immer ein hinreichendes Zu- bzw. Einwanderungsmanagement unter Einbeziehung auch der deutschen Auslandsvertretungen. Im Innern fehlen nach wie vor auf die Kollektivmentalitäten in der Einwanderungsgesellschaft zielende gesellschaftspolitische Visionen und Konzepte, denn: Gelebte Willkommenskultur muss mehr sein als eine Verbindung von attraktiver Außenwerbung und freundlichen Begrüßungsritualen am Hauseingang. Im Gegensatz zu Willkommenstechnik muss Willkommenskultur auch das Innenleben im gesellschaftlichen Haus verändern.
Dabei geht es einerseits um den Umgang mit schon über Generationen im Land lebenden Einwanderern, insbesondere wenn sie aus muslimischen Familien mit türkischem Migrationshintergrund stammen. Auch hier geht es um die Akzeptanz von sozialem und kulturellem Kapital als begrüßenswerte Investitionen in die Einwanderungsgesellschaft.
Es geht andererseits um die in der Diskussion um Migration und Integration oft vergessene Mehrheitsbevölkerung, also um die Deutschen ohne Migrationshintergrund.
Für beide Seiten brauchen wir ein neues, Zusammenhalt förderndes Selbstverständnis der Einwanderungsgesellschaft als ideelle Grundlage einer teilhabeorientierten Gesellschaftspolitik für alle.
Dazu gehört eine Mehrheits- und Einwandererbevölkerung mental zusammenbindende große gemeinsame Erzählung (N. Foroutan), die Einwanderung als konstitutives Element in der Bevölkerungs-, Gesellschafts- und Kulturgeschichte Europas und Deutschlands verankert.
Dieses neue, Zusammenhalt in der Einwanderungsgesellschaft fördernde Selbstbild sollte auf verständliche Weise in allen öffentlichkeitswirksamen Bereichen kultursensibel vermittelt und gelebt werden – von der vorschulischen Erziehung über Schulen und Betriebe bis zur kultursensiblen Altenpflege.
Selbstbilder klassischer Einwanderungsländer
Auch die klassischen Einwanderungsländer haben kollektivmentale Bindungsformeln oft erst spät nachgeführt und verankert:
Der Schlüsselbegriff im Selbstbild der Vereinigten Staaten als ‚Nation of Immigrants‘ stammt erst aus den 1960er Jahren mit ihren das Land spaltenden Rassenkonflikten.
Und in Kanada fand die diversitäre Inklusionsformel ‚Vielfalt ist unsere Stärke‘ (‚Diversity is Our Strength‘) erst in den 1980er Jahren Eingang in die politische Kommunikation.
Ganz zu schweigen von Australien mit seinem späten Bekenntnis zu Einwanderung als Lebensfrage (‚Populate or Perish‘), wobei der von gewaltigen Medienkampagnen begleitete Versuch, von der Politik des ‚weißen Australien‘ auf Multikulturalität umzustellen, nach Anfangserfolgen zu erheblichen Problemen führte.
Orientierungshilfen in der Einwanderungsgesellschaft
Das dauerhafte Ausbleiben eines belastbaren, Einwanderer- und Mehrheitsbevölkerung einschließenden Selbstbildes kann mentale Defizite, soziale Spannungen und letztlich Strukturkrisen in der Einwanderungsgesellschaft fördern:
In der Einwandererbevölkerung könnte, besonders unter jüngeren, in ihrem Identifikationsbedarf perspektivlosen Menschen die Anfälligkeit für radikale Ersatzidentitäten mit simplen binären Orientierungsangeboten wachsen.
In der Mehrheitsbevölkerung könnte, trotz insgesamt zunehmender Akzeptanz von Zuwanderung und kultureller Vielfalt, die Zahl derer wachsen, die sich übergangen fühlen und sich deshalb vernehmlich oder gar aggressiv gegen ‚Überfremdung‘ wenden.
Der internationale Vergleich mit der Entwicklung einwanderungs- bzw. fremdenfeindlicher Strömungen in anderen europäischen Einwanderungsländern sollte hier eine Warnung sein, zumal entsprechende Entwicklungen auch hierzulande schon in Gang gekommen sind.
Stattdessen funktioniert die öffentliche und politische Inszenierung von Willkommenskultur in Deutschland oft eher als selbstgefällige Übertünchung von hinter dieser Willkommensfassade liegenden, in Umfragen immer wieder ausgeleuchteten Problemfelder und Spannungszonen, die schlicht das Gegenteil von Willkommenskultur sind.
Dabei geht es besonders um teils diffuse, teils gruppenbezogene Abwertungen und Abwehrhaltungen. Sie zeigen sich heute besonders in antiislamischen bzw. antimuslimischen Dispositionen, in der teils latenten, teils offenen Sozialverachtung und insbesondere antiziganistischen Aggressivität gegenüber sogenannten Armutswanderern sowie in der sprunghaft gestiegenen Abwehrhaltung gegenüber Flüchtlingen und Asylsuchenden.
Diese und andere gruppenbezogenen Abwertungen und Abwehrhaltungen belegen zahlreiche umfragegestützte Untersuchungen, zuletzt die neue ‚Mitte‘-Studie der Universität Leipzig und die Studie des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung. So betrachtet ist der Weg zu gelebter Willkommenskultur noch weit.
Politische Gestaltung und öffentliche Wahrnehmung
Die Diskussion um ‚Willkommenskultur‘ ist jedenfalls ein wichtiger Schritt, um eine auffällige Asymmetrie im Verhältnis von politischer Gestaltung und öffentlicher Wahrnehmung zu entzerren:
Jahrzehntelang eilte in Deutschland die öffentliche Diskussion um Einwanderungsland und Einwanderungsgesellschaft der nachhinkenden politischen Gestaltung voran. Das hat sich in Teilen der Öffentlichkeit heute tendenziell umgekehrt.
Die aktive politische Gestaltung und deren legislative Rahmung im Bereich der bedarfsorientierten Zuwanderungspolitik – im Gegensatz zur Asyl- und Flüchtlingspolitik – scheint in der erst langsam nachrückenden öffentlichen Wahrnehmung teilweise noch gewöhnungsbedürftig zu sein. Die Folgen sind bereichsweise kulturelle Ängste, politischer Protest und eine wachsende Anziehungskraft demagogischer Parolen.
Umso dringlicher ist es, dass die bedarfs-, also marktorientierte, genauer gesagt arbeitgeberorientierte Zuwanderungspolitik ihr übergeordnetes Pendant findet in einer teilhabeorientierten Gesellschaftspolitik für alle, getragen von einem Zusammenhalt fördernden visionären Selbstbild der demokratischen Einwanderungsgesellschaft. Ohne ein solches gesellschaftspolitisches und ideelles Fundament wäre Willkommenskultur nur ein Schmiermittel für die Maschinerie der bedarfsorientierten Zuwanderungspolitik.