Plädoyer

Gegen den Wahhabismus hilft nur islamische Gelehrsamkeit

Salafismus gilt immer mehr als ein Sicherheitsproblem, weil die bisherigen Anstrengungen, diesem Phänomen Herr zu werden, scheitern. Was die Gründe hierfür sind, erklärt Islamwissenschaftler Muhammad Sameer Murtaza.

Von Donnerstag, 07.08.2014, 8:21 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 28.10.2015, 13:37 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Der Wahhabismus – oder die literalistische Salafiyya – gilt seit Jahren als ein neues Sicherheitsproblem, das aus der muslimischen Community erwachsen ist. Von einer Innenministerkonferenz zur anderen, versucht man diesem Phänomen, Herr zu werden, doch die wahhabitische Szene wächst und gedeiht prächtig weiter. Vielleicht liegt dies auch daran, dass man diese Bewegung falsch deutet.

Es wird unterstellt, der Wahhabismus sei mit dem Rechtsextremismus zu vergleichen. Folglich müssten die Strategien gegen Rechtsextremismus auch beim Wahhabismus wirken. Ein Beispiel, wie sehr man hiermit falsch liegt, ist das Programm HATIF (Heraus aus Terrorismus und islamischen Fanatismus) – eine seit Mitte 2010 rund um die Uhr erreichbare Hotline, wo sich Aussteiger aus der Wahhabitenszene hilfesuchend an den Verfassungsschutz wenden können. Das Telefon klingelte bis heute aber nur selten. Dennoch stellt niemand das Projekt infrage. Niemand stellt sich die Frage, ob vielleicht andere Strategien gegen den Wahhabismus wirksamer wären.

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Der Wahhabismus ist eine religiöse (Rand-) Strömung innerhalb des pluralen Islam. Für viele muslimische Gelehrte ist er sogar nur eine Sekte. Warum nun spricht gerade dieses Islamverständnis junge Muslime an?

Der 11. September warf auch bei vielen Muslimen Fragen hinsichtlich ihrer Religion auf. Viele wurden in der Schule oder am Ausbildungsplatz mit Fragen über den Islam überschüttet. Dabei kennen viele von ihnen die eigene Religion kaum. Diese plötzlich erfahrene Reduzierung auf die eigene Religionszugehörigkeit war dann auch bei vielen der Antrieb, den Islam kennen und verstehen zu wollen.

Jugendbewegungen wie Lifemakers oder die Muslimische Jugend in Deutschland waren damals erste und wichtige Anlaufstationen für dieses Bedürfnis. Doch beide Vereine setzten das Hauptgewicht auf eine gelungene Integration junger Muslime durch gute Bildungsabschlüsse, zivilgesellschaftliches Engagement und Gemeinschaftsgefühl. Dies war für jene Muslime, die theologisches Wissen suchten, zu wenig.

Da die islamischen Verbände es versäumt hatten, eine Bildungsinfrastruktur zu schaffen, entstand eine große Lücke, die nun durch wahhabitische Prediger gefüllt wurde. In kürzester Zeit boten sie im Internet ein breites und ausdifferenziertes Webangebot in deutscher Sprache an, übersetzten fleißig wahhabitische theologische Literatur und boten Islamkurse via Webcam an – alles dies kostenlos.

Des Weiteren begünstigte die zunehmende Erfahrung von Ablehnung in der Gesellschaft, ob in Form von Islamophobie oder Überfremdungsängsten, dass junge Muslime sich jenen anschlossen, die ihrerseits wiederum die Gesellschaft ablehnten. In der wahhabitischen Szene fanden junge Muslime jene Anerkennung, die ihnen in der Gesellschaft versagt geblieben war. Sie fanden für sich einen Platz in dieser Gemeinschaft und durch den wahhabitischen Anspruch, die einzig wahren Muslime zu sein und dem hohen Aktionismus in dieser Bewegung, erhielten sie eine Lebensaufgabe.

Durch das buchstabengetreue Verständnis der islamischen Offenbarung und der Ausblendung der über Jahrhunderte gewachsenen komplexen grauschattierten islamischen Theologie, Rechtslehre, Philosophie und Mystik, bieten die Wahhabiten einen simplen Islam an, der sich in 30 Sekunden erklären lässt und alles in ein Schwarz-Weiß-Denken presst. Diese Einfachheit überzeugt gerade bildungsferne Jugendliche, die die eingängigen Islam- und Welterklärungen eines Pierre Vogels geistig nachvollziehbar und dadurch annehmbar empfinden.

Wie sollen also Sicherheitsmaßnahmen genügen, um ein primär theologisches Bedürfnis zu stillen?

Der Wahhabismus ist in erster Linie eine zivilgesellschaftliche und theologische Herausforderung und kann nur durch die Mitarbeit von Moscheegemeinden, Islamverbänden, Imamen und Theologen gelöst werden.

Sinnvoll wäre es, wenn auf kommunaler Ebene runde Tische entstehen würden, wo die eben genannten Vertreter des Islam zusammen mit den Kirchen, Sozialarbeitern, Pädagogen, Politik und Polizei die Probleme mit dem Wahhabismus vor Ort analysieren und passende Maßnahmen ergreifen. Gerade die Kirchen sind mit ihren Erfahrungen aus der Sektenarbeit ein wichtiger Gesprächspartner für die muslimische Seite.

Zu den möglichen Strategien könnte eine Weiterbildung für Imame mit dem Fokus auf Wahhabismus gehören. Gerade die Erfahrungen aus Bosnien, wo man einer ähnlichen Herausforderung durch den Wahhabismus entgegenstand, könnten hier hilfreich sein. Genauso wichtig wäre es, Moscheegemeinden zu helfen, ihre Jugend- und Gemeindearbeit, die oftmals ehrenamtlich geschieht, professioneller zu gestalten. Auch eine Aufklärungskampagne über den Wahhabismus und seine Folgen wäre in den Moscheegemeinden von Nöten.

Statt weiter Steuergelder für HATIF zu vergeuden, könnte ein staatlich unabhängiges Info-Telefon etabliert werden, das mit muslimischen Theologen besetzt ist. Jugendliche, die sich in einer religiösen Krise befinden, oder mit dem Wahhabismus konfrontiert, gar überfordert sind, hätten dann eine Anlaufstelle, an die sie sich wenden könnten.

Aber letztlich ist und bleibt die Schule der wichtigste Präventionsort. Doch noch immer fehlt es an einem flächendenkenden alle Klassenstufen umfassenden islamischen Religionsunterricht (IRU). Und so lange – trotz Lehrermangel, Quereinsteigern, Islamwissenschaftlern und Theologen – der Zugang zum islamischen Religionsunterricht verwehrt bleibt und die Kultusministerien auf die Lehramtsabsolventen für den IRU warten wollen, wird es schätzungsweise noch 40 Jahre dauern, bis ein wirklich flächendeckender Religionsunterricht angeboten werden kann. Bis dahin geht eine Generation von Muslimen an den Wahhabismus verloren. Aktuell Meinung

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  1. Tanja sagt:

    Ich lese die Artikel des Migazins sehr gerne.

    Diesen Artikel jedoch möchte ich gerne kritisch kommentieren,
    da hier, genauso undifferenziert wie in manch anderer Presse, Ängste geschürt werden.
    Wenn man von einem Sicherheitsproblem spricht, sollte man auch wenigstens kurz ausführen, wie genau denn dieses Sicherheitsproblem aussieht.
    Klären Sie mich bitte auf, welches Sicherheitsproblem von der Salafiyya ausgeht.
    Weiterhin bleibt unklar, welche islamischen Gelehrten ihrer Meinung nach einen pluralen Islam vertreten und welche, ihrem Artikel folgend, Sektenführer sind.

    Nahezu konform gehe ich mit ihrer Aussage:
    „Der Wahhabismus ist in erster Linie eine zivilgesellschaftliche und theologische Herausforderung und kann nur durch die Mitarbeit von Moscheegemeinden, Islamverbänden, Imamen und Theologen gelöst werden.“
    Wobei sich mir jedoch die Frage stellt, was man genau lösen möchte?

    Ich sehe als einzig richtige Lösung, dass wir Menschen zugestehen sollten ihr Leben zu führen, wie sie es für richtig halten, solange die Freiheiten Anderer nicht eingeschränkt werden und die hiesigen Gesetze eingehalten werden.
    Sie können nicht abstreiten, dass die Mehrzahl aller „Salafisten“ genau das tut.
    Durch eine undifferenzierte Berichterstattung geraten (gesetzestreue) Muslime jedoch immer mehr in die Not sich erklären und rechtfertigen zu müssen.

    Bitte stoßen Sie nicht in das gleiche Horn, wie der Mainstream und kehren Sie zu einer differenzierten Berichterstattung zurück.

  2. Pingback: Salafismus ante portas: Materialsammlung | Serdargunes' Blog

  3. anti3anti sagt:

    „Der Wahhabismus ist eine religiöse Strömung innerhalb des Islam.“

    Das bedeutet, dass der Wahhabismus genauso eine Existenzberechtigung im Islam hat wie jede andere Strömung. Es gibt sogar bedeutende islamische Staaten, in denen der Wahhabismus Staatsdoktrin ist.

    Warum wird der Wahhabismus in Deutschland verfolgt?

  4. Muhammad Sameer Murtaza sagt:

    Der Wahhabismus ist zwar eine Strömung innerhalb des Islam, d. h. er beruft sich auf den Islam, hat er aber deshalb sogleich Existenzberechtigung?
    Auch die Ahmadiyya ist eine Strömung des Islam, d. h. sie beruft sich auf den Islam, aber sie wird von der überwältigenden Mehrheit der Muslime als Sekte verworfen.
    Warum eigentlich?
    Weil sie in ihren theologischen Positionen extreme Ansichten vertritt und diese nicht überzeugend begründen kann. D. h. die muslimische Religionsgemeinschaft hat im Qur’an und im Propheten einen Gradmesser für die Mitte bar jeden Extremismus. Indem extreme Positionen als sektiererisch gebranntmarkt werden, schützt sich die umma bzw. das was die Mehrheit der umma aus macht.
    Der Wahhabismus hat bereits seit seiner Geburtsstunde Gewalt als Mittel eingesetzt, um seine eigenen religiösen Positionen durchzusetzen, ob gegen Schiiten, Sufis und auch gegnerische Sunniten. Stichwort: Takfir. Dadurch wird der Wahhabismus zu einem Extrem, der die Gemeinschaft bedroht und zerstört. Die Kritik am Wahhabismus ist also legitim und in der muslimischen Welt ist sie noch stärker als in Europa.
    Ich empfehle als Lektüre:

    – Guter Rat an unsere Brüder, die Gelehrten von Najd
    – Eine Kritik des Wahhabismus – von dem Gelehrten Yusuf Al-Rifai

    – Was ist die Salafiyya: http://islam.de/files/pdf/u/Was%20ist%20die%20Salafiyya.pdf

    Die Kritik am Wahhabismus sollte daher aufgrund seines Gewaltpotentials deutlich werden.

    Wo Wahhabiten aber der Gewalt abschwören, wo sie friedlich mit Schiiten und anderen Religionen zusammenleben, gibt es selbstverständlich kein Problem, dann ist er einfach ein Teil der Religionsfreiheit.

  5. Dr. Christoph Heger sagt:

    Ist der Unterschied zwischen dem Wahhabismus und dem überlieferten klassischen Islam tatsächlich relevant unter dem Gesichtspunkt von Demokratie und Rechtsstaat? Und was heißt „islamische Gelehrsamkeit, wenn an keiner Hochschule der islamischen Welt wissenschaftliche, nämlich textkritische, historisch-kritische Koranforschung betrieben wird?

  6. Marianne sagt:

    Also, ich finde ja, alle Religionen haben Sektencharakter, und solange sie keine Gewalt ausueben und die staatlichen Gesetze achten, ist das Privatsache, was einer glaubt oder nicht glaubt. Die Strömungen, die es auch in allen anderen Religionen gibt, gehen den Staat nichts an und gegen Straftaten und Gewalt unter Missbrauch einer Religion oder einer Strömung ist in demokratischen Rechtsstaaten das Strafrecht zuständig. Die Mehrzahl der Wahhabiten bzw. Salafisten missbraucht ihre Religion nicht fuer Straftaten und es steht weder dem Staat noch irgendwelchen „Religionsgelehrten“ zu, religiöse Strömungen pauschal zu kriminalisieren. Offensichtlich sind Nichtgläubige da doch erheblich toleranter, als die Anhänger von Religionen, die ihre eigene „Strömung“ für allgemeinverbindlich erklären wollen. Mir hat noch kein Wahabit seine „Strömung“ aufzwingen wollen, andere „Strömungen“dagegen schon. Fundamentalisten gibt’s auch bei den Christen und das nicht zu knapp.

  7. Marianne sagt:

    Ausserdem bin ich der Meinung, dass die pauschale Kriminalisierung von „Strömungen“ erst zu dem führt, was man vorgibt, zu bekämpfen: Zur teilweisen Radikalisierung. Das bestaetigt jeder Psychologe: Wer Ablehnung und Gewalt sät, wird Ablehnung und Gewalt ernten. Der Krieg der Religionen ist nichts Neues, den hat es immer schon gegeben, weil eine Religion der anderen ihre „Werte“ aufzwingen wollte und es hat selbstverständlich einen Grund, dass sich in juengerer Vergangenheit ein kleiner Teil der Muslime angesichts der Kriegzuege, der Machtarroganz und der Leitkulturphantastereien der westlichen „christliche-Werte-Krieger“ radikalisiert hat und weiter radikalisiert. Wer auf Menschen anderer Religionen uriniert, ihre Schriften verbrennt, sie ohne Gerichtsverhandlung in Kaefige einsperrt und foltert, sie massenweise mit Bomben, Phisphorbomben und Streubomben umbringt, sie ohne Anklage mit Drohnen jubilierend tötet, ihnen derartige „christliche Werte “ mit kriegerischer Gewalt aufzwingen will, muss sich über Radikalisieren nicht wundern.

  8. camurcu sagt:

    Alle Gelehrsamkeit, Profession oder sonstig organisierte Aufklärung stösst beim Thema Wahabismus an seine Grenzen: das Problem liegt in seiner psychologischen bzw. spirituellen Wirkung auf den Einzelnen. Ein Wahabit, der der Sunna buchstäblich folgt ( literatistischer Salafist), aber sich zugleich von den Gewaltbereiten distanziert, erzielt während des Diskurs eine weitaus stärke Wirkung auf seinen Gesprächspartner. Oft schliesst die Argumentation dialektische Thesen mit ein – das Leben wird dem Tod gleich gesetzt auf eine Weise, der Salafist redet von unseren Taten, die uns definieren. Dabei sind diese Leute derart bewandert, dass es schwer fällt, dem zu widersprechen. Sie halten uns den Spiegel vor: damit sind sie moralisch überlegen. Irgendwann folgt der Takfir und auch wenn man dem Wort „Kuffar“ nicht den grossen Wert beimessen sollte: ich habe bis heute keinen Experten-Aufsatz gelesen, indem das Thema „taqlid“ angemessen bewertet wird. Die literatistischen Salafisten erheben den Anspruch, berechtigterweise takfir üben zu können. Wo ist das Gegenargument? Solange die Diskussion diesem geistigen Kerndilemma nicht beikommt, kann die Verbreitung nicht verhindert werden. Ab wann ist ein Muslim berechtigt, einen anderen Muslim als kuffr zu bezeichnen? Und was sind die Folgen, materialistisch sowie spirituell?

  9. Volker K. sagt:

    Ich kenne noch eine Möglichkeit den Salafisten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Verbotsverfahren! Unsere Sicherheitsbehörden und Nachrichtendienste sollen diese Gruppierung auf Schritt und Tritt verfolgen und sobald es möglich ist sollen sie verboten werden. Das ist einfach und wirkungsvoll. Alle Nachfolgeorganisationen direkt wieder analysieren, kontrollieren und verbieten usw. Strafverfolgung bei jedem noch so geringen Anlaß und das Flächendeckend.
    Am liebsten ware es mir, wenn die Anhänger dann so mürbe werden, daß sie unser Land mit all seinen (in ihren Augen) Ungläubigen verlassen. Das wäre wirklich ein gute Lösung.