Interview mit Holger Klatte

„Niemand ist völlig vorurteilsfrei in seinem Denken“

Ist man schon rassistisch, wenn man einen "Zigeunerschnitzel" bestellt? Und ist es schon rassistisch, wenn Unterschiede benannt werden? Im Gespräch mit dem MiGAZIN erklärt der Geschäftsführer des Vereins Deutscher Sprache, Dr. Holger Klatte, vor welchen Herausfoderungen die deutsche Sprache steht.

Von Mittwoch, 30.04.2014, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 18.05.2015, 17:17 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Wo fängt Rassismus Ihrer Meinung nach an?

Holger Klatte: Die allgemeinen Vorstellungen sind wohl klar. Wer andere wegen ihrer Herkunft, ihrer Sprache, ihrer Religion, ihres Aussehens oder anderer Merkmale benachteiligt oder beleidigt, denen darf man Rassismus vorwerfen. Aber so ein Vorwurf wiegt schwer. Deswegen ist diese Frage in vielen Situationen des Alltags nicht leicht zu beantworten. Wenn jemand z.B. ein

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„Zigeunerschnitzel“ bestellt, halte ich es noch unwahrscheinlich, dass eine rassistische Einstellung dahintersteckt. Gerade über die Frage, ob bestimmte Wörter rassistisch sind, gibt es viele Vorstellungen. Ich stimme zu, dass wir uns anderen gegenüber respektvoll ausdrücken sollten, aber Sprechgewohnheiten sind eben nicht so leicht zu verändern. Manchmal kann auch bereits ein Blick oder eine unbewusste Reaktion als rassistisch gedeutet werden, obwohl das überhaupt nicht beabsichtigt war. Solche Missverständnisse kommen übrigens nicht nur in Deutschland vor.

Gibt es auch Rassismus-Vorwürfe in Deutschland, die Sie für übertrieben halten?

Dr. Holger Klatte ist Germanist und Geschäftsführer des Vereins Deutsche Sprache. Der Verein wurde 1997 zur Wahrung der deutschen Sprache gegründet. Nach eigenen Angaben verfolgt der Verein das Ziel „die deutsche Sprache als eigenständige Kultursprache zu erhalten und zu fördern.“ In den Sprachpolitischen Leitlinien des Vereins heißt es: „Wir fordern nicht, dass das Deutsche grundsätzlich von englischen Fremdwörtern freigehalten oder vor ihnen ‚geschützt‘ werden soll. Das Deutsche ist wie viele andere Sprachen Europas eine Mischsprache. Der Wortschatz des Deutschen wird durch Wörter und Wendungen aus anderen Sprachen bereichert.“

Klatte: Manchmal gilt es bereits als „Rassismus“, wenn Unterschiede benannt werden. Gerade wenn es um alltagssprachliche Äußerungen geht, sollten wir mit Urteilen vorsichtig sein. Eine Freundin erzählte mir kürzlich Folgendes: Sie stand im Baumarkt an der Kasse und sollte der Kassiererin erklären, welcher Mitarbeiter ihr eine bestimmte Farbdose gegeben hatte. Weil sie weder Namen noch andere Unterscheidungsmerkmale hatte, identifizierte sie ihn anhand seiner Hautfarbe, denn er war schwarz. Das traute sie sich aber nicht zu sagen, bzw. sie wusste nicht, wie sie das eigentlich ausdrücken konnte, ohne als rassistisch angesehen zu werden. Sie sagte dann „der Dunkle“. Die Kassiererin verstand trotzdem nicht, wer gemeint war, und die Freundin fühlte sich schlecht, weil sie grundlegende Ausdrucksweisen ihrer Muttersprache nicht richtig anwenden konnte. Ich habe den Eindruck, dass die Unsicherheit darüber zunimmt, wie oder ob man vermeintlich belastete Wörter verwenden darf.

Glauben Sie, dass die Fremdenfeindlichkeit durch Brennpunkte mit einem hohen Migrantenanteil zunimmt?

Klatte: Nein, nicht unbedingt. Es ist eher eine Frage, wie man das Zusammenleben organisiert. Wenn Menschen unterschiedlicher Herkunft ein Stadtbild prägen, ist das auch ein Zeichen dafür, dass das zu einer Gesellschaft dazugehört. Trotzdem ist das Gefühl der Fremdheit sicherlich auf beiden Seiten vorhanden. Dass daraus viele Konflikte entstehen, ist mir (als Dortmunder) schon klar. Deswegen muss ein Austausch stattfinden. Dieser Austausch kommt nicht immer von alleine zustande. Behörden und die Politik müssen Anlässe und Anreize schaffen. Für grundlegend und selbstverständlich halte ich, dass alle sich auf Deutsch verständigen können.

Wo sehen Sie in Deutschland bewusste und unbewusste Vorurteile?

Klatte: Niemand ist völlig vorurteilsfrei in seinem Denken. Auch diejenigen nicht, die sich für tolerant und weltoffen halten. Die meisten Menschen in Deutschland haben gar keinen Kontakt zu Zuwanderern und deswegen kaum Gelegenheit, Vorurteile durch eigene Erfahrungen abzubauen oder sich auf unterschiedliche Kulturen einzustellen. Deswegen sehe ich aber nicht überall Rassismus. Ich meine, in den meisten Situationen kann man es ansprechen und klären, wenn Menschen wegen ihrer Herkunft anders behandelt oder angesehen werden.

Der Begriff „Fremdenfeindlichkeit” sagt es ja schon: der Hass gegen das “Fremde”. Liegt hinter diesem Hass die Angst vor dem “Fremden”? Warum gibt es diese Angst?

Klatte: Auch wenn ein Gefühl der Fremdheit wohl jeder kennt, ist das keine Rechtfertigung dafür, dass daraus Feindlichkeit oder Hass wird. Bis zu einem bestimmten Grad ist es normal, dass sich eine Spannung einstellt, wenn ich in ein anderes Land reise, manchmal sogar, wenn ich eine ungewohnte Situation mit Fremden bewältigen muss. Wie daraus Angst oder gar Hass entstehen kann, hängt von vielen anderen Umständen ab und kann pauschal wohl kaum beantwortet werden. Aber weil es etwas gab wie den NSU – oder mir fällt da auch der rassistisch motivierte Amoklauf vor einigen Jahren in Schweden ein – zeigt das, dass wir schon daran scheitern, solche Entwicklungen zu erkennen.

Das Thema Rassismus ist ja auch recht diffus. Es gibt nicht nur die einen, die fremdenfeindlich sind und die anderen, die es nicht sind. Dazwischen gibt es viele Nuancen. Wie sollte man das Thema angehen?

Klatte: Deutschland war kulturell nie vielfältiger als heute. Auch die europäische Einigung hat dazu beigetragen, dass sich unser Verständnis gegenüber Menschen aus anderen Ländern verändert hat. Aber lange Zeit hat man nicht erkannt, dass besondere Anstrengungen und Veränderungen notwendig sind, um Konflikte zu vermeiden. Wenn Jugendliche in Ballungsräumen nur schlecht Deutsch beherrschen, hat man die Sprachförderung schlichtweg versäumt. Denn in einer Schulklasse, in der zwei Drittel der Kinder nicht Deutsch als Muttersprache sprechen, muss sich auch der Unterricht darauf einstellen. Ich habe auch den Eindruck, dass sich hier in den vergangenen Jahren einiges verbessert hat. Aktuell Gesellschaft Interview

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  1. Ali Schwarzer sagt:

    Beklopptes Beispiel an der Kasse. Erstens finde ich es höchst erstaunlich, dass Weiße immer so furchtbar aufgeschmissen sind, wenn sie mal nicht auf die Hautfarbe referieren sollen oder wollen. Zweitens darf es seltsam anmuten, dass Weißen eine Eigenbezeichnung nicht über die Lippen zu gehen mag, selbst dann nicht, wenn sie schon seit Jahrzehnten verwendet wird. Drittens: Auch nichtweiße Personen haben z.B. Haare. Viertens hat sie niemand des Rassismus bezichtigt, sondern sie selbst war verunsichert; wohl weil sie keine Ahnung hat.

  2. Negative und positive Vor_urteile gehören so sehr zum Alltag und zur Grundausrüstung des Menschen, dass es schon gar nicht mehr auffällt wo überall Vor_urteile am Werk sind … entscheidend ist es dabei offen für die Veränderung der eigenen (Vor-) Urteile zu bleiben.

    Natürlich werden solche immer wieder generierten Vorurteile auch in der Sprache verfestigt … auch solche sprachlichen Verfestigungen sind immer wieder zu überprüfen und konstruktiv zu hinterfragen …

    Josef Özcan (Diplom Psychologe)
    http://www.mig-gesundheit.com

  3. Bioösterreicher sagt:

    Was haben die Leute denn mit ihrem „Rassismus“? Ich teile diese Haltung nicht, aber ich kenne in meinem Bekanntenkreis Leute, die Ausländer als „Kostenfaktoren“ ansehen. Ich denke, diese Haltung ist viel schlimmer als der „Rassismus“.

  4. Dolgsthrasir sagt:

    Gar kein beklopptes Beispiel an der Kasse. Warum soll man denn bitte nicht auf die Hautfarbe referenzieren, wenn es doch das offensichtlichste Unterscheidungsmerkmal ist? Für mich ist es eher ungewöhnlich, wenn man zwanghaft versucht, nicht die Hautfarbe anzusprechen. Wenn man alle Menschen als gleich ansieht, dann ist es doch kein Problem, jemanden über die Hautfarbe zu beschreiben, als wäre es eine Haarfarbe. Ohne irgendwelche Hintergedanken. Erst dann kann jemand von sich behaupten, nicht rassistisch zu denken, wenn die Hautfarbe zu nichts anderem verkommt, als ein weiteres Merkmal, welches man einstreuen kann wie jedes andere. Alles andere ist ein verkrampfter Versuch das eigene Rassendenken mit gezwungener Antirassismus Attitüde zu übertünchen.

  5. Tadesse meint sagt:

    Wie dürfen nicht vergessen das auch „Jude“ nur ein Wort „gegen“ Menschen mit deutscher Herkunft war. Und das der „zwanghafte“ Versuch neue Wörter zu finden als aktive Integration verstanden werden könnte. Als aktive Integration neuer Wörter in eine durch die Geschichte gewachsene Sprache. Bei der Beschreibung von sog. „weißen“ Menschen kann man sich ja schon mal ein paar Anleihen holen holen. Den spätestens wenn in der Farb-Abteilung Inder, Afrikaner, Süditaliener und Südamerikaner arbeiten wird sich die gute Freundin mit den sprachlichen Möglichkeiten auseinandersetzen müssen oder die Kassiererin ruft „…alle Dunkelhäutigen aus der Farbabteilung an die Kasse bitte…“

  6. Die Menschen sind nun einmal sowohl leiblich als auch psychisch und geistig unterschiedlich … nicht die Leugnung von Unterschieden führt zum Ziel, sondern einzig die Integration von Differenzen ohne diese Differenzen leugnen und per se abwerten zu müssen, was natürlich nicht heißt das „Differenz“ immer kritiklos hingenommen werden kann (eine menschenverachtend_rechte Gesinnung z.B. kann als Differenz zu anderen Gesinnungen nicht einfach so hingenommen werden) … vor allem negative Vorurteile urteilen bestimmte Differenzen per se negativ ab … und das muss hinterfragt werden …

    Josef Özcan (Diplom Psychologe)
    http://www.mig-gesundheit.com

  7. Ali Schwarzer sagt:

    Ich habe zwar schon ausführlich erklärt, warum das Kassenbeispiel blödsinnig ist, aber weil ich heute einen guten Tag habe, erkläre ich es noch einmal für Einfallspinsel.

    Besagte Person war offenbar so auf die Hautfarbe fixiert, dass sie sonst keinerlei weitere Unterscheidungsmerkmale wusste. Das ist übrigens ein typisches Problem, wenn „die Fremden“ beschrieben werden sollen. Ich geh davon aus, dass besagter Person die schwarze Person egal war. Sollen Weiße beschrieben werden, gehen auf einmal 1 Mio. verschiedene Merkmale. Das ist vor allem deshalb der Fall, weil die weiße Hautfarbe unsichtbar, weil als Standard gesetzt wird.

    Weiterhin hat sich die Person nicht mit den Begriffen auseinandergesetzt, und/oder sie hat bisher ständig Scheiße gelabert, weshalb sie in der Vergangenheit öfter mal angegangen wurde. In beiden Fällen darf von einer Gleichgültigkeit ausgegangen werden.

    Dieses rassistische Verhalten führt im Übrigen dazu, dass Leute nur meine Hautfarbe sehen und mich sofort anpöbeln, dass „die Asylanten ständig alles in den Arsch geblasen“ bekommen. „Die“ kann man halt schlecht unterscheiden, wenn man nur die Hautfarbe sehen will.

  8. Pingback: Migranten: Wertvolle Investoren zur Wirtschaftsankurbelung - MiGAZIN