Brückenbauer

Warum die Angst vor dem Aussterben der deutschen Sprache unbegründet ist

Die Mehrsprachigkeit geht nicht zu Lasten der autochthonen Bevölkerung, sondern zu Lasten derjenigen, die kein Deutsch sprechen. Was ist also dran an der Angst vor dem Aussterben der deutschen Sprache?

Von Donnerstag, 31.10.2013, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 15.07.2015, 14:03 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Wer aufmerksam durch deutsche Städte läuft, der vernimmt ein regelrechtes Sprachbabel. Gesprächsfetzen auf Englisch, Türkisch, Vietnamesisch oder Kurdisch dringen an unser Ohr. Menschen aus knapp 200 Staaten mit unzähligen Muttersprachen leben hier zusammen. Sie alle bilden gemeinsam mit der Mehrheit der deutschen Muttersprachler unsere Gesellschaft.

Sprachen, die miteinander in Kontakt stehen wirken aufeinander und beeinflussen sich. Was der Sprachwissenschaft als Nelde‘sches Gesetz bekannt ist („Kein Sprachkontakt ohne Sprachkonflikt“) stellt jede multikulturelle Gesellschaft unweigerlich vor eine soziale Herausforderung. Denn manche Menschen haben angesichts fremder Laute und Vokabeln eine diffuse Angst, dass sie als Deutschsprechende einmal in die Minderheit in Deutschland geraten könnten. Wie begründet ist diese Angst und ist das Phänomen der konkurrierenden Sprachen in einer Gesellschaft etwas Neues, geografisch und historisch Einzigartiges?

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Mehrere Sprachen in einer Gesellschaft finden wir auf der ganzen Welt. Eine Ursache kann Einwanderung in den letzten Jahrzehnten sein. So ist z.B. eine türkischsprachige Community in deutschen, eine urdu-sprachige in englischen oder eine spanischsprachige in US-amerikanischen Großstädten entstanden. In diesen Fällen treffen die Einwandererkollektive mit ihren Sprachen auf das Kollektiv der Aufnahmegesellschaft mit der vorherrschenden Landessprache. Diese Mehrsprachigkeit ist allerdings eher instabil. Durch weitere Umzüge nach der Einwanderung sowie durch das Lernen der Amtssprache und vor allem durch Beschulung der Einwanderer und folgender Generationen ist es wahrscheinlich, dass sich die Einwandererkollektive sprachlich assimilieren und nur einen kleinen Einschlag in der Mehrheitssprache hinterlassen. So ist es zum Beispiel mit den so genannten „Ruhrpolen“ geschehen oder mit den Hugenotten in Berlin, die zunächst ihre eigene Sprache erhalten hatten, wovon heute – außer bei bestimmten Nachnamen wie Kuzorra oder de Maizière – nichts zu merken ist.

Mehrsprachigkeit kann aber auch Jahrhunderte überdauern. So finden wir aus ganz unterschiedlichen Gründen auf der ganzen Welt Gesellschaften, in denen seit vielen Generationen mehrere Sprachen ohne substantielle Mischung nebeneinander existieren. So zum Beispiel in der Schweiz (Deutsch, Französisch, Italienisch, Rätoromanisch), in Peru (Spanisch, Quechua), in Singapur (Malaiisch, Englisch, Tamil, Chinesisch) oder in Südafrika (elf amtliche Sprachen und zahlreiche nichtamtliche). Genau genommen gibt es wohl kaum einen Staat auf der Erde, der nicht zumindest regional unterschiedlich sprachige Kollektive vorzuweisen hat. Selbst Kleinststaaten wie Monaco (Französisch und Monegassisch) oder entlegene Inselstaaten wie Fidschi (Englisch, Fidschianisch und Fidschianisches Hindustani) haben zwei oder mehr unterschiedliche autochthone Sprachkollektive. Letzteres (Fidschianisches Hindustani) ist übrigens ein Beispiel für eine Mischsprache, die sich als neues Produkt aus dem Kontakt zwischen Englisch, Hindi und Fidschianisch ergibt.

Zwei- oder Mehrsprachigkeit ist in einem Sprachraum also völlig natürlich, sie zu ignorieren oder gar zu unterdrücken steht entgegen der normalen Evolution von Sprachen.

Info: Diese Kolumne fokussiert einen Gedanken aus dem Buch „Brücken bauen – Perspektiven aus dem Einwanderungsland Deutschland“ (Bertelsmann-Stiftung 2013). In diesem Sammelwerk beleuchten junge AutorInnen – teils wissenschaftlich, teils erzählerisch – einige verschiedene Lebensrealitäten in Deutschland. Das Buch ist eine Einladung an alle, sich auf die Spurensuche nach den Brückenbauern von heute und morgen zu begeben.

Natürlich wird das Thema Zwei- und Mehrsprachigkeit in sozialen Diskursen nicht so sachlich gesehen wie in der Linguistik. Das ist auch verständlich, schließlich erhält die eigene Sprache durch den Sprecher einen emotionalen Wert. Sprache ist ein wesentlicher Identitäts- und Kulturträger. Sprache macht uns zu einer Gruppe zugehörig und grenzt uns von denen ab, die nicht unsere Sprache sprechen. Sprache ist das Werkzeug, mit dem wir sozialisiert werden, das Medium, mit dem unsere Geschichte tradiert wird und das Mittel, mit dem wir Einfluss auf die Umwelt nehmen. Taucht eine fremde Sprache in unserem vertrauten Raum auf, wird diese als Gefahr empfunden, aus Sorge, wir könnten unseren angestammten Platz einbüßen. Dass diese Bedrohung gar nicht real ist, ist dabei unerheblich. Manch einer sorgt sich, er könnte bald als Deutschsprechender zum „Ausländer in Deutschland werden.“ Aber ist es nicht so, dass trotz türkisch-, arabisch- oder russischsprachiger Gemeinschaften in Deutschland kein Deutschsprechender in seinen Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe eingeschränkt ist? War es jemals auch nur in einer einzigen Situation in Deutschland nicht möglich, einzukaufen, Behördenanliegen zu klären, Arbeit zu suchen, einen Verein zu gründen oder politisch mitzuwirken, weil man mit Deutsch nicht weitergekommen ist? Das alles ging und geht einwandfrei, wenn man Deutsch spricht. Die Deutschsprachigen haben alle Teilhabemöglichkeiten in Deutschland. Die Mehrsprachigkeit geht nicht zu Lasten der autochthonen Bevölkerung, sondern zu Lasten derjenigen, die kein Deutsch sprechen. Die Mächtigen sind die, die Deutsch sprechen und die, die kein Deutsch sprechen sind die Ohnmächtigen.

Was ist also dran an der Angst vor dem Aussterben der deutschen Sprache?

Historisch betrachtet ist es nicht zwangsläufig so, dass die Einwanderersprache im Aufnahmeland hinter der Bedeutung der autochthonen Sprache zurücksteht. Wenn der Technologiestand der Einwanderer höher ist und sie in der Rolle des „Eroberers“ mehr strukturelle Macht haben, ist es durchaus denkbar, dass die Sprache der „Eroberer“ in einem Sprachraum zur dominanten Sprache wird. So war es auf der Iberischen Halbinsel nach der Einverleibung ins Römische Reich um 200 v. C. und so ist es in Argentinien im 16. Jhd. nach der Besiedlung durch die spanischen Kolonisatoren geschehen. In beiden Fällen wurden die indigenen Sprachen bis zur Bedeutungslosigkeit verdrängt.

Eine vergleichbare Verdrängung der autochthonen Sprache droht jedoch nicht für Deutschland im 21. Jahrhundert, denn sie geschieht nur bei großem Macht- und Technologievorsprung der Neuankömmlinge und schlecht ausgeprägtem Ausbau (Standardisierung, Schrift, Literatur) der autochthonen Sprache. Dies belegen auch die Beispiele aus Spanien oder Argentinien: Schon die nächsten quantitativ oder militärisch überlegenen Einwanderer – die Westgoten, die den Römern das heutige Spanien abnahmen, und die italienischen Einwanderer, die zahlenmäßig eine größere Immigrantengruppe in Argentinien stellen als die Spanier – gaben nach kurzer Zeit ihre mitgebrachte Sprache auf, welche bis auf wenige Einflüsse in dem Sprachraum heute komplett verschwunden ist. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass es sich so in einigen Generationen auch mit den heutigen Einwanderersprachkollektiven in Deutschland verhalten wird. Was machen wir bis dahin? Deutsch lernen, Deutsch lehren und uns nicht darüber ärgern, dass wir das Nachbargespräch in der U-Bahn nicht heimlich mithören können. Aktuell Meinung

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  1. Lynx sagt:

    Eine viel größere Gefahr für die deutsche Sprache als diejenige einer türkischsprachigen Minderheit in Deutschland geht m. E. vom Tsunami von Anglizismen aus, der derzeit über den Atlantik herüberschwappt. Warum muß man gute deutsche Wörter, wie „Gemeinschaft“ durch „Community“ und „Ereignis“ durch „Event“ ersetzen? Und „Handy“ ist ohnehin ein nicht ganz richtiger Anglizismus, da das Mobiltelephon in den englischsprachigen Ländern überwiegend als „Mobile“ bezeichnet wird; und ein „Public Viewing“ ist auch keine Übertragung einer Veranstaltung über große öffentliche Bildschirme, sondern die öffentliche Besichtigung der Körper von Verstorbenen im Leichenschauhaus.
    Unter den deutschsprachigen Muslimen zeichnet sich die Entwicklung ab, überwiegend aus dem Arabischen stammende Begriffe zu übernehmen, für die es im Deutschen keine angemessenen Äquivalente gibt, wie die Wörter „Īmān, Kufr, ḥalāl, ḥarām“ usw. Wie die Übernahme christlicher Begriffe aus dem Lateinischen und Griechischen seit der Christianisierung Deutschlands vor über tausend Jahren zeigt, hat die Übernahme solcher Wörter und Ausdrücke die deutsche Sprache in ihren Strukturen und ihrem Grundwortschatz nicht berührt, sondern eine Bereicherung dargestellt. In den Sprachen nichtarabischer Völker, die während ihrer Geschichte zum Islam konvertiert sind, wie den Iranern und Türken, sind diese überwiegend arabischen Wörter und Ausdrücke aus dem religiösen Bereich fester Bestandteil der Sprachkultur geworden.
    Mehrsprachigkeit gab es bereits in der Antike. Nachdem das Hebräische seit Jahrhunderten eine tote Sprache war, gebrauchten die Juden zur Zeit um Christi Geburt das bis an die Grenzen Indiens und Chinas verbreitete Aramäische als Lingua Franca zur Verständigung mit den Völkern im Osten. Zur Verbreitung ihrer Religion schrieben die aramäischen Verfasser der Evangelien und anderen Schriften des Neuen Testaments für die Völker im Westen diese jedoch nicht auf Aramäisch, sondern auf Griechisch. Heute haben wir in der Region eine ähnliche Erscheinung: arabische Politiker geben gegenüber westlichen Medien Erklärungen nicht auf Arabisch, sondern auf Englisch ab, und diese werden dann von den arabischen Medien ins Arabische (zurück)übersetzt.
    Einige Völker halten mehr an ihrer Sprache fest als andere und sind weniger bereit, sie gegen eine andere einzutauschen oder sogar Fremdsprachen zu erlernen. So beklagt sich der maghrebinische Weltreisende aus dem 14. Jh., Ibn Battuta, darüber, daß die Türken meistens nur Türkisch sprachen, und er sich mit ihnen nicht auf Arabisch oder Persisch verständigen konnte. Heute kann man in Deutschland beobachten, daß die Kinder türkischer Einwanderer untereinander meistens Türkisch sprechen, während diejenigen arabischer Einwanderer untereinander Deutsch sprechen. Das hat auch mit dem Bildungsniveau zu tun: die meisten türkischen Einwanderer sind als halbanalphabetische „Gastarbeiter“ in die BRD gekommen, während ein Großteil der Einwanderer aus den östlichen arabischen Ländern zum Universitätsstudium kam, das gute Deutschkenntnisse erfordert, und dann in Deutschland hängengeblieben ist.

  2. rochus stordeur sagt:

    1. sind nicht die anglizismen eher ein ausdruck der globalisierung und technisierung, der jugendsprache und der sozialen netzwerke?
    2. die meisten arabischen einwanderer sind palästinenser und keineswegs besser gebildet als die türkische gemeinschaft, aber sie leben nicht so sehr in geschlossenen wohngebieten wie die türken, die zudem sich mit ihrer sprache vielleicht die rückkehr offen halten wollen. die türken sprechen aber auch besser deutsch als araber und beispielsweise russen, selbst wenn diese russlanddeutsche sind.
    3. auch meine beobachtungen sind rein subjektiv, das ist klar.

  3. Olesia sagt:

    Ich stimme mit dem Artikel im Großen und Ganzen überein. Ich söre mich jedoch an der Formulierung “ Die Mehrsprachigkeit geht nicht zu Lasten der autochthonen Bevölkerung, sondern zu Lasten derjenigen, die kein Deutsch sprechen.“ Meiner Meinung nach hat Mehrsprachigkeit hat für keinen Menschen Nachteile, ganz im Gegenteil. Natürlich ist es so, dass Menschen die die Sprache/n des Landes in dem sie leben nicht verstehen im Nachteil sind. Das ist aber kein Problem, das man als Mehrsprachigkeit bezeichnen sollte, sondern im Gegenteil, das Problem mangelnder Sprachkenntnisse. Ein Mensch der seine Muttersprache spricht und die Landessprache/n des Landes in dem er lebt, wird immer von beidem profitieren können.

  4. Roman sagt:

    Hallo Olesia. Ich bedanke mich für Ihre Zustimmung zum Kolumneninhalt und stimme Ihnen völlig zu. Mehrsprachigkeit auf INDIVIDUELLER Ebene (also eine Person, die mehr als eine Sprache spricht), ist wohl immer ein Vorteil. Bei der hier zitierten Stelle beziehe ich mich auf Mehrsprachigkeit auf KOLLEKTIVER Ebene (also wenn in einem Raum – z.B. Deutschland – von verschiedenen Gemeinschaften verschiedene Sprachen verwendet werden).

  5. Ochljuff sagt:

    interessanter Artikel. Aber das mit dem Nachteil der Mehrsprachigkeit auf kollektiver Ebene verstehe ich trotz der Erklärung im Kommentar nicht.

    Wenn ich der Logik des Artikels folge, ist es doch nur von Vorteil, die vorherrschende Sprache zu sprechen, sie nicht zu sprechen ist ein Nachteil. Worin ein (zusätzlicher?) Nachteil besteht, mehrere Sprachen zu sprechen, erschließt sich mir nicht (vor allem, wenn die vorherrschende Sprache gesprochen wird).

  6. Roman sagt:

    Hallo Ochljuff. Wahrscheinlich drücke ich mich unverständlich aus. Ich versuche es nochmal: In der Realität ist es so, dass in jedem Land mehrere Sprachen gesprochen werden. Das kann sein wie in der Schweiz, wo es – vereinfacht gesagt – u.a. einen Deutschen und einen Französischen Teil gibt oder es kann sein wie in Luxemburg, wo (fast) jeder sowohl Letzebuergsch als auch Deutsch und Französisch versteht. Wenn man die Mehrsprachigkeit in einem RAUM betrachtet, dann spricht man von kollektiver Mehrsprachigkeit, wenn man die Mehrsprachigkeit einer einzelnen Person betrachtet, dann spricht man von individueller Mehrsprachigkeit.
    Wenn zwei Kollektive (Gruppen) verschiedene Sprachen sprechen (z.B. spricht einer in Deutschland nur Deutsch, ein anderer spricht nur Türkisch), dann hat der Türkischsprecher einen Nachteil. Also: Wenn schon nur eine Sprache, dann wenigstens die Mehrheitssprache.

    Am besten ist natürlich immer, wenn eine Person Deutsch UND Türkisch spricht. Dann gehört sie zu beiden Kollektiven.
    Für einen Sprecher ist seine eigene Mehrsprachigkeit also KEIN Nachteil.

    Hoffe es ist jetzt klarer geworden, was ich sagen möchte. Wenn nicht, fragen Sie gerne noch einmal nach.

    In dem vollständigen Artikel im Buch schreibe ich übrigens auch, dass „der Vorteil des Erwerbs verschiedener Sprachen im Kindesalter als belegt gilt“. Früher war es ja mal so, dass man auch nicht-deutschsprachigen Eltern empfohlen hat, mit ihren Kindern nur Deutsch zu sprechen, um das Kind nicht zu verwirren.. Das ist ja nun nicht mehr state of the art.

  7. Ochljuff sagt:

    Danke für die Erläuterung!