Die Hinterbliebenen

Wie sie sich wohl heute fühlen?

Zwischen dem Deutschland von heute und der Zeit vor dem zufälligen Bekanntwerden der NSU-Morde gibt es keine große Veränderungen. Selbst das Leid der Hinterbliebenen der Mordopfer dürfte sich kaum gelindert haben.

Von Mittwoch, 17.04.2013, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 22.04.2013, 23:48 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Wie schwer die Zeit für die Hinterbliebenen der neo-nationalsozialistisch motivierten Mordopfer bis zum zufälligen Bekanntwerden der Zwickauer Terroristen im Jahr 2011 gewesen sein muss, lässt sich für einen Außenstehenden allenfalls erahnen. Über viele Jahre wurden Ehefrauen, Kinder und die Eltern von Ermittlern und Sicherheitsbehörden drangsaliert, belogen und verdächtigt. Nicht einmal Trauern konnten sie über den Verlust ihrer Liebsten.

Erst nach dem Bekanntwerden der Mordhintergründe – neo-nationalsozialistisch motiviert –wurden die Vorwürfe gegen die Opfer fallen gelassen. Nein, sie waren nicht in mafiöse Strukturen verwickelt und wurden auch nicht wegen Spielschulden getötet. Bei den Hinterbliebenen keimte die Hoffnung auf, dass die Taten endlich aufgeklärt werden – lückenlos.

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In den Folgemonaten mussten die Hinterbliebenen erfahren, dass Akten geschreddert wurden oder dass ihre Liebsten heute noch leben würden, wenn die Sicherheitsbehörden nicht blind gewesen wären auf dem rechten Auge. Vom Staat finanzierte V-Männer wurden von den Innenministerien und vom Verfassungsschutz gedeckt, weil deren Geheimhaltung wichtiger war als die Aufklärung. Welchen Schmerz und Wut die Hinterbliebenen durchlebt haben müssen bei diesen endlosen „Pannen“, lässt sich ebenfalls nur erahnen.

Letzter Hoffnungsschimmer war für sie der anstehende NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München. Die Justiz würde sich nicht einreihen in die nicht enden wollende Fehler- und Pannenkette. Im Gegenteil, sie würde das Leid der Hinterbliebenen lindern. Zum ersten Mal hätten sie Beate Zschäpe gegenübergestanden, der Frau, der vorgeworfen wird, maßgeblichen Anteil an an dem Tod ihrer Engsten zu haben. Eine immense Belastung und ein Kraftakt muss es für die Familien der Mordopfer gewesen sein, sich innerlich auf diesen Prozess vorzubereiten. Allenfalls erahnen kann man auch hier, wie schwer es gefallen sein muss, Fahrkarten nach München zu buchen, Hotelzimmer zu reservieren.

Wie sie sich wohl heute fühlen? Der Prozess hätte beginnen, das lange Warten ein Ende finden sollen, wäre er nicht verschoben worden. Grund: Das Gericht wollte sich der Tragweite dieses Verfahrens nicht bewusst werden. Mit einem standardisierten Akkreditierungsverfahren meinte es, die Öffentlichkeit bedienen zu können, als stünde ein Prozess von der Stange bevor.

So haben sie sich gesellt zu jenen, die auf subtile Art zu vermitteln versuchen, dass die „NSU-Panne“ ja eigentlich keine große Sache sei. Ein Vergleich zeigt, was gemeint ist: Zwischen dem Deutschland von heute und der Zeit vor dem zufälligen Auffliegen der neo-nationalsozialistischen Mörder gibt es weder große Veränderungen noch große Konsequenzen. Nicht vorzustellen, was in Deutschland los wäre, wenn die Mörder keine Neo-nationalsozialisten gewesen wären und die Opfer nicht bloß „Ausländer“. Sowohl die Veränderungen als auch die Konsequenzen wären sicher nicht klein gewesen. Im Rekordtempo geschnürte Sicherheitspakte belegen eindrucksvoll, was hierzulande schon bei einer abstrakten Gefahr alles möglich ist, wenn sie „von anderen“ ausgeht.

Da trösten auch die immer noch im Ohr nachklingenden Worte von Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht: Als „Schande“ hatte sie die Taten bezeichnet und „lückenlose Aufklärung“ versprochen. Während die breite Öffentlichkeit aber auf die Dimension des anstehenden Prozesses aufmerksam machte und die Zulassung von ausländischen Medien forderte, betonte sie – über ihren Regierungssprecher – wiederum die „Unabhängigkeit der Justiz“.

Denn in manchen Ohren schallen auch noch ihre eindringlichen Appelle in Richtung Türkei nach, als es darum ging, Marco W. freizubekommen. Ungeachtet der Unabhängigkeit der Justiz, sprach sie höchstpersönlich Hilfe auf allen Ebenen zu und übte politischen Druck auf das Gericht in Antalya aus. Marco W. müsse schnellstens „nach Hause“ kommen, sprich freigelassen werden. Wie hätte sie wohl reagiert, wenn türkische Nationalisten in der Türkei ungehindert acht Deutsche ermordet hätten über einen Zeitraum von zehn Jahren, Sicherheitsbehörden Akten geschreddert hätten, oberste Sicherheitsbeamte plötzlich Erinnerungslücken gezeigt hätten und kein einziger deutscher Journalist einen Platz im Gerichtssaal bekommen hätte – von den übrigen Pannen, der Deckung von V-Leuten und dem schändlichen Umgang mit den Hinterbliebenen einmal ganz abgesehen? Einen Zacken von der Krone hätte sie sich sicher nicht gebrochen, wenn sie die Bedeutung des anstehenden Prozesses betont hätte, anstelle die Unabhängigkeit der Justiz.

Auch die Verantwortlichen beim Oberlandesgericht hätten noch alle ihre Zacken beisammen, wenn sie frühzeitig eingesehen hätten, dass sie einen Fehler begangen haben. Zeit für ein neues Akkreditierungsverfahren hätten sie gehabt, wenn sie rechtzeitig auf die Kritik reagiert hätten. Eine Prozessverschiebung war aber auch nach dem Hammer des Bundesverfassungsgerichts nicht notwendig. Lediglich drei zusätzliche Plätze zu den bereits bestehenden fünfzig hätten sie bloß einrichten müssen. Jetzt müssen die Hinterbliebenen Fahrkarten und Hotelzimmer stornieren und neue buchen, sich erneut aufraffen und zusammenreißen. Wie sie sich dabei fühlen werden, lässt sich wahrscheinlich nicht einmal mehr erahnen.

Aber wer interessiert sich schon für die Hinterbliebenen? Die sind allenfalls gut für Empfänge im Blitzlichtgewitter, wie zuletzt im Schloss Bellevue vor wenigen Wochen. Nach dem Termin mit Bundespräsident Joachim Gauck bereute eine Hinterbliebene, dass sie der Einladung überhaupt gefolgt war: „Es war so, als habe man uns nur der Presse wegen eingeladen. Gauck hielt eine kurze Rede, ließ sich mit uns ablichten und ging wieder. Ich habe mich ausgenutzt gefühlt. Christian Wulff hatte sich mit uns unterhalten, sich nach unserem Wohlbefinden erkundigt, Anteilnahme gezeigt.“ Leitartikel Meinung

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  1. Lionel sagt:

    Die Medien, die Stadt München, normale Zuschauer und sonstige Verfahrensbeteiligte werden die Verschiebung des Prozessbeginns zwar als ärgerlich empfinden, aber sicher verschmerzen können.
    Für die Angehörigen der Opfer gilt das sicher nicht, die Teilnahme am Prozess bedeutet für sie eine enorme emotionale Belastung.
    Konnte ich die Entscheidungen des OLG München bisher als teils (moralisch) nicht richtig, jedoch als juristisch zumindest vertretbar einstufen, so scheint mir doch jetzt eine Grenze überschritten worden zu sein: So etwas macht man einfach nicht, auch wenn es rechtlich „geht“