Buchtipp zum Wochenende

Freiheit, Gleichheit und Intoleranz – Der Islam in der liberalen Gesellschaft Deutschlands und Europas

Der Umgang mit dem Islam stellt die fundamentale Bewährungsprobe für die liberale Verfasstheit der westlichen Gesellschaften dar. Kai Hafez nimmt eine umfassende Bestandsaufnahme der Gleichstellung, Integration und Anerkennung des Islams in Deutschland und Europa vor. Ein Auszug aus dem Buch:

Freitag, 01.03.2013, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 05.03.2013, 7:43 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Nach dem Ende des Kalten Krieges glaubten viele Zeitgenossen an einen Siegeszug der liberalen Demokratie. Das System, in dem die individuelle Freiheit mit dem demokratischen Prinzip eine historisch einzigartige Verbindung eingegangen war, hatte sich durchgesetzt und galt weltweit als Vorbild für die politische und gesellschaftliche Entwicklung. Sogar über ein »Ende der Geschichte« im besten aller politischen Systeme wurde spekuliert (Fukuyama 1992). […]

Zugleich allerdings mehren sich die Krisen des liberalen Politik- und Gesellschaftsmodells. Nicht nur, dass die Mutterländer der Demokratie in Nordamerika und Europa mit wirtschaftlichen Rückschlägen und schwindender Weltgeltung zu kämpfen haben, sondern es erwachsen auch Zweifel an der Substanz der liberalen Gesellschaft. Außenpolitisch hat die Demokratie nach den kriegerischen Reaktionen der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten auf die Terrorattentate von 2001 an Glaubwürdigkeit verloren. Hunderttausende Kriegsopfer in Afghanistan und Irak wegen einiger tausender Terroropfer, Vergeltung statt Gerechtigkeit: Das demokratische politische System agierte nach außen martialisch, und die Kriegslügen der Regierung George W. Bush bewiesen, wie manipulierbar und wenig partizipatorisch scheinbar demokratische politische Systeme in Wirklichkeit oft sind (K. Hafez 2009, S. 193ff.).

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Weitaus weniger beachtet wurde die Tatsache, dass auch im Inneren der Vereinigten Staaten und Europas Grundwerte der liberalen Verfassungsidee in Gefahr gerieten. »Guantánamo« ist nur das bekannteste Symbol für eine tief in amerikanische Rechtstraditionen eingreifende Infragestellung der liberalen Grundrechte im Zuge der Terrorismusbekämpfung. Mehr noch, nach dem Abtritt des Weltkommunismus wurde ein neuer Feind entdeckt, ein innerer Feind: die Einwanderer und ganz besonders der Islam und die Muslime. Während Migration generell auf die üblichen kulturell und sozial bedingten Abwehrreaktionen trifft, sind die Muslime eine ganz spezifische Gruppe, denn sie gelten nicht nur als sozial schwer zu integrieren, sondern auch als »5. Kolonne« des äußeren Feindes des islamistischen Terrorismus. Die Lage des Islams in Europa ist dabei besonders schwierig. In Europa stellen etwa 50 Millionen Muslime bei einer Gesamtbevölkerung von 700 Millionen Menschen eine immer sichtbarer werdende Minderheit von etwa 7 Prozent der Bevölkerung dar. Die Irritationen zwischen Mehrheit und Minderheit wachsen: die Rushdie-Affäre, Konflikte um Moscheebauten, Kopftuchdebatten, Karikaturenstreit, eine demoskopisch messbare Islamfeindlichkeit bei großen Teilen der Europäer und zunehmende Gewalt gegenüber Muslimen mit den Höhepunkten islamfeindlicher Morde in Deutschland und Norwegen. Rechtspopulistische Parteien, die sich in ganz Europa ausbreiten, haben die Potenziale des »Feindbildes Islam« rasch erkannt.

Paradox, aber wahr: Während das Bekenntnis zu allgemeinen rassistischen Weltbildern und zu spezifischen Formen der Fremdenfeindlichkeit wie dem Antisemitismus in Europa einen historischen Tiefstand erreicht hat, ist Islamophobie salonfähiger denn je geworden. Der Westen mag die besten politischen Systeme überhaupt geschaffen haben – das Problem des gesellschaftlichen Rassismus’ hat er nicht gelöst. Unter dem Firnis von Menschenrechten und rechtlicher Gleichheit toben Kulturkämpfe, Territorialkonflikte und kulturelle wie religiöse Intoleranz. Wird die Angst vor dem Islam zum »Testfall für die abendländische Toleranz«, wie die deutsche linke Zeitschrift »Der Freitag« 2009 titelte? Ist die liberale Gesellschaft wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde: auf den ersten Blick honorig, im Grunde aber barbarisch? […]

Für die Muslime, gleich ob sie religiös, hochreligiös oder atheistisch orientiert sind, stellt sich die Frage, wie sie mit der gegenwärtigen Lage umgehen sollen. Welchen Weg sollen sie wählen: Anpassung, Abschottung oder sollen sie für politische, gesellschaftliche und kulturelle Anerkennung durch die Mehrheitsgesellschaft werben? Assimilation und Segregation, das lehrt die Geschichte, schützen religiöse Minderheiten nicht vor Diskriminierung und gewaltsamen Übergriffen in Krisenzeiten, sie sind also keine probaten Strategien für das 21. Jahrhundert. Was bleibt, ist die Suche nach »Anerkennung«, nach »Verbindung durch Konflikt«. So seltsam es klingen mag, da man sich daran gewöhnt hat, die Rückständigkeit der Muslime Europas zu betonen: Durch eine gelungene Form der gesellschaftlichen Partizipation könnten sie sogar zur Avantgarde einer neuen globalen Emanzipationsbewegung werden […]

Freiheit, Gleichheit und Intoleranz – Der Islam in der liberalen Gesellschaft Deutschlands und Europas, Broschiert: 376 Seiten, Verlag: Transcript, Erschienen am 1. Februar 2013 Aktuell Feuilleton

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  1. Lionel sagt:

    @ Holla

    Meinen Sie nicht, dass 270 aktiv Gewalttätige (nicht nur Gewaltbereite) bei zwei Kundgebungen mehr als nur eine kleine Gruppe darstellen, wie Sie es nennen?
    Eine kleine Gruppe, darunter werden umgangssprachlich 3 Personen (wie bei der NSU), maximal 10 bis 15 Leute verstanden – bei hunderten kann daher kaum von einer kleinen Gruppe die Rede sein.

    Überhaupt, mit Zahlenverhältnissen, die der Relativierung dienen sollen,
    ist das so eine Sache für sich.
    Bei den Terroranschlägen des 11. September genügten 19 Personen um 3000 zu Tode zu bringen.; aktiv und direkt am Holocaust beteiligt waren etwa 20 000 Leute – auch „nur eine kleine Gruppe“ von 0,025 Prozent der damaligen Bevölkerung.

  2. Holla sagt:

    @ Kolcek
    Ich empfehle Ihnen die Lektüre des Grundgesetzes, welche Freiheiten j e d e m Menschen in diesem Land zustehen. Dass man nicht von jedem und überall gemocht werden kann ist klar. Diesen Anspruch erhebt wohl auch kaum jemand. Dass Sie mit der türkischen Regierung ankommen – keine Ahnung was Sie da meinen – ist ein typisches „Argument“ationsmuster von Leuten wie Ihnen, denen die Argumente ausgehen. Sie sollten lernen, Sachverhalte differenziert zu betrachten und nicht alles wild durcheinanderwirbeln.

    @ Lionel
    Ich schrieb doch, dass jeder einzelne zu viel ist. Wo ist das Problem? Nur ging es in dieser Diskussion nicht um irgendwelche kleinen Gruppen – ja k l e i n, angesichts 4 Mio. Muslime, die hier leben. Die wurden hier pauschal angeprangert. Aber auch Ihr Muster ist leicht zu durchschauen. Den Blick auf die wenigen Idioten lenken um die Gesamtheit schlechtzureden. Nein, Danke! Die Diskussion ist für mich beendet.

  3. Kolcek sagt:

    @Holla
    Ein typisches Argumentationsmuster ihrerseits ist das andauernde und vehemente bestreiten von Defiziten innerhalb islamischer Religionsgemeinschaften. Es ist egal was man sagt oder wie man es sagt! Sie haben schon alleine ein Problem damit, dass man überhaupt etwas sagt.
    Es gibt die von „Lutheros“ (allererster Kommentar) benannten Probleme, daran kann man noch so viel rütteln oder sich künstlich empören, es wird nichts ändern, die Probleme bleiben! Die muslimischen Religionsgemeinschaft werden genauso wie die christlichen Religionsgemeinschaft an ihren Taten gemessen und nicht an ihren Worten. Würden wir alleine dem gesprochenen Wort vertrauen können, dann dürfte es wohl auch keine pädophilen Übergriffe in der Kirche gegeben haben und keine muslimischen Selbstmordattentäter. Es gab sie aber!
    Sorry, aber dieses naive Vertrauen in die Religionsgemeinschaften aus dem letzten Jahrzehnt, dass diese nur gutes für unsere Gesellschaft wollen, sind vorbei! Man hat den Menschen weltweit sowohl von christlicher, als auch von islamischer Seite gezeigt, dass ihre Religion für böse Zwecke missbraucht werden können und dass innerhalb der Gemeinschaften nur selten Reformbereitschaft anzutreffen sind, bzw. einfach nur abstreitet dass man dafür zuständig ist.
    Am besten verschiebt man die Verantwortung auf den Staat und schreit dann jedesmal kollektiv ,theatralisch und ganz laut: „Diskriminierung!“, sobald der Staat anfängt sich darum zu kümmern. Ich kenne diese Vorgänge schon zu genüge!