Rassismus in deutschen Medien

Warum Sandy beliebter ist als Nilam oder Son Tinh

Während der Hurrikan 'Sandy' für eine gefühlte Live-Berichterstattung in Deutschland sorgte, blieben die zwei weiteren großen Stürme der vergangenen Woche weitgehend unbeachtet. Die Berichterstattung offenbart einen unausgesprochenen rassistischen Konsens, in dem weiße Opfer Vorrang haben.

Von Freitag, 02.11.2012, 8:29 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 23.10.2015, 17:26 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Drei Stürme haben diese Woche für große Zerstörungen weltweit gesorgt, doch in Deutschland wird man vermutlich nur den Namen von einem Unwetter kennen: der Hurrikan Sandy. Der Wirbelsturm traf am Dienstag auf die Ostküste der USA und sorgte dort für mehrere Dutzend Tote und vermutlich Milliardenschäden.

Doch währenddessen wüteten in Asien zwei weitere Stürme. Wenige Tage vor Sandy war der Taifun Son Tinh durch die Philippinen gezogen und hatte dort 27 Menschen getötet, danach traf er auf Vietnam und Südchina. In Vietnam sollen sieben weitere Menschen gestorben sein, die Dächer von 13.000 Häusern und fast 20.000 Hektar Reisland zerstört worden sein; in Südchina gab es Überflutungen. Am Mittwochabend traf hingegen der Zyklon Nilam auf die indische Ostküste und tötete bereits in den ersten Stunden zwei Menschen – glücklicherweise, so meldeten dortige Offizielle, hatte sich Nilam abgeschwächt und werde keine so großen Schäden verursachen wie gedacht.

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Doch schon die oben aufgeführten Informationen fehlten in deutschen Medien, während zu ‚Sandy‘ eine regelrechte Sturmflut von Artikeln hereinbrach. Auf Spiegel-Online konnte man die Entwicklungen zum ‚Supersturm‘ fast stündlich verfolgen, die Nachrichtenseite bot außerdem Webcams und Fotoblogs, in denen man das Geschehen quasi live verfolgen konnte. Übertrumpft wurde Spiegel Online allerdings von der Süddeutschen, die kurzerhand einen Liveticker einrichtete – in der taz dagegen, sorgten pathetische Reportagen für menschelnde Tiefe.

Durch die extensive und intensive Berichterstattung wurde New York fast zur Erweiterung deutscher Städte. Das Sturmgeschehen konnte man verfolgen, als wäre es ein Bundesligaspiel – wenn nicht in live übertragenen Bildern, dann doch wenigstens im Liveticker. Mit den Betroffenen konnte man beim Internet- oder gar Stromausfall mitfühlen. Es war, als wäre die Katastrophe nur wenige Straßen entfernt. Dagegen schienen die Küstenstädte von Indien und Vietnam soweit entfernt, wie sie es tatsächlich sind.

Dass sich deutsche Journalisten mehr mit den Bewohnern der US-Ostküste und weniger mit denen Indiens oder Vietnams identifizieren, ist ein einfacher Fall von rassistischer und klassistischer Homophilie: in deutschen Redaktionen sitzen vor allem weiße Menschen, akademisch gebildet und gutverdienend. Zu ihrer Ausbildung gehört meist ein Auslandsaufenthalt, häufig in den USA. Wenn sie dort nicht selbst gewohnt haben, so haben sie wenigstens Freunde und Bekannte dort. Mit den Leiden eines Stromausfalls und dem Stopp des Börsenhandels ist näher an ihrem Alltag als das Leid indischer Fischer und vietnamesischer Bauern, deren Existenzen bedroht sind und die vermutlich niemals Strom- oder gar Internetanschlüsse hatten. Es ist ein rassistischer Konsens, der weiße, wohlhabende Opfer bevorzugt und in Deutschland offenbar Medien aus dem gesamten politischen Spektrum vereint – auch jene, die sich gerne antirassistisch geben.

Besonders deutlich ist diese Vorliebe in den Nachrichtenagenturen abzulesen: ‚Sandy‘ formierte sich am 22.10., seitdem gab es mehr als 1.000 Meldungen der internationalen und deutschen Nachrichtenagenturen zum Thema; zu ‚Son Tinh‘ dagegen, der bereits am 21.10. entstand, gab es während dieser Zeit ganze 17 Meldungen; zu ‚Nilam‘ hingegen berichtete allein die Deutsche Presseagentur in zwei Meldungen, jeweils drei Zeilen lang, jeweils im Ressort ‚Vermischtes‘.

Im Gegensatz zu Zeitungen, Fernseh- und Radiosendern sind Nachrichtenagenturen rein geschäftliche Einrichtungen. Sie müssen sich gesellschaftlich nicht rechtfertigen, sich nicht als Träger der Meinungsfreiheit oder Wächter über die Demokratie anpreisen – sie machen Geschäfte und verkaufen diejenigen Nachrichten, die eben nachgefragt werden. Was zählt ist, dass sie diese möglichst schnell und billig an die Kunden liefern.

Bei deutschen Medien war ‚Sandy‘ nachgefragter als ‚Nilam‘ oder ‚Son Tinh‘.
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  1. Tai Fei sagt:

    Wobei das ja auch nur die halbe Wahrheit ist. Sandy hat ja nicht NUR die USA getroffen. Davor hat sicher dieser Sturm in der Karibik ausgetobt und dort beträchtliche Schäden angerichtet. Da hielten sich die Live-Schaltungen ebenfalls in Grenzen bzw. waren nicht vorhanden. Lediglich Haiti steht jetzt mal wieder kurz auf der Agenda, weil die nun wieder den Notstand ausrufen mussten und Hilfen angefordert haben.

    Die Nachrichten allgemein sind oft sehr USA-lastig. Was interessiert mich z.B. die Vorauschscheidung im Präsidentschaftswahlkampf?. Ich kann die eh´n nicht beeinflussen. Die direkte Präsidentschaftswahl mag ja von Interesse sein, aber welcher republikanische Kandidat nun aufgestellt wurde oder nicht ist Schnurz. Über die derzeiten Machtkämpfe innerhalb der KPCh wird nicht mal annähnernd so ausführlich berichtet, obwohl das Endergebnis sicher für die Weltwirtschaft/-politik auch interessant werden könnte.

    Ich wage auch zu bezweifeln, dass es hier in DE mehr als 2% der Menschen tangiert, ob die Börse in NY mal für ein paar Tage schließt oder nicht.

  2. Einspruch sagt:

    @Lalon

    Egal was Sie hier alles vorbringen. Mich stört hier vor allem eines, nämlich das Sie den Menschen offensichtlich vorschreiben wollen für was sie sich zu interessieren haben. Das läuft so aber nicht.

  3. z sagt:

    ja haiti war auch betroffen. sehr stark sogar.

    aber es gibt neben rassismus auch eurozentrismus, schon mal gehört?
    das heißt man betrachtet aus seiner weißen europäischen brille die welt. ist ja der nabel des universums.
    alle anderen interessieren nicht, sind es nicht wert betrachtet zu werden.
    empathie ist der erste schritt den „anderen“ als gleichwertig zu betrachten.
    die intention des artikels ist wohl bei vielen nicht angekommen. man kann sich auch eingestehen, dass wir nun mal so sozialisiert werden als erstes nach dem toten deutschen von 10.000 erdbebenopfer zu suchen…

  4. Cengiz K sagt:

    Guter Artikel..
    Er zeigt die bundesdeutschen- und darüber hinaus- Schieflagen, die im Denken und im Herzen eines nicht vernachlässigbaren Kollektivs verwurzelt sind, sehr präzise auf… Am liebsten würden viele Apologeten den sehr greifbaren Rassismus in allen Lebensbereichen, der zum Himmel stinkt, und der mit einem „NEIN, nein, das gibt s doch gar nicht!.. Ist gut jetzt! Nein, Nein!“ erstickt wird, auch genauso wieder weg reden wollen.. So ist das mit den alten Sünden, n’est pas? Sie holen einen wieder ein..

  5. Tai Fei sagt:

    z sagt:
    5. November 2012 um 21:16
    „ja haiti war auch betroffen. sehr stark sogar.
    aber es gibt neben rassismus auch eurozentrismus, schon mal gehört?
    das heißt man betrachtet aus seiner weißen europäischen brille die welt. ist ja der nabel des universums.
    alle anderen interessieren nicht, sind es nicht wert betrachtet zu werden.“

    Wenn Du mich meinst, natürlich kenne ich den Begriff. Das ist ja genau der Punkt. Selbst die Berichterstattung über SANDY war und ist selektiv, was im obigen Artikel nicht genug herausgestellt wurde. Weder den verheerenden Verwüstungen in Kuba oder Haiti wurde auch nur annähernd soviel Aufmerksamkeit geschenkt, wie den geschlossenen U-Bahnen in NYC und den dortigen Versorgungsengpässen mit Strom, Benzin usw.

    Im Übrigen gerade NY zeigt genau wo in den USA das Problem liegt, was meist nur am Rande erwähnt wird. Nämlich, dass die Staaten, obwohl sie sich das im Gegensatz zu Haiti leisten könnten, ihre Infrastruktur verrotten lassen. Ich habe selbst schon schwere Taifune in HK miterlebt und dort hat man das wesentlich besser im Griff. In ländlicheren Gebieten sieht das dann zugegebenermaßen auch anders aus.

  6. Torgey sagt:

    @Lalon: Sie machen es sich für meinen Geschmack zu einfach. Die Kritik, dass die Schäden und Toten von Sandy viel mehr oder nahezu exklusive Aufmerksamkeit bekommen, während die Schäden, die der Sturm in anderen Regionen (Karibik) oder andere Stürme ganz wo anders anrichten, ist richtig. Die Behauptung, dass Rassismus dafür die Hauptursache ist, ist zumindest eine grobe Vereinfachung und Zuspitzung: Die Gemengelage, warum über die USA generell und speziell bei Katastrophen stärker berichtet wird (auch wenn, wie im Fall von „Katrina“ hauptsächlich Afro-Amerikaner betroffen waren) als über Geschehnisse gleichen oder größeren Ausmaßes, ist sehr viel vielschichtiger. Es geht um die Betroffenheit der Journalisten, vor allem aber auch der Zuschauer. Und da besteht nunmal unbestreitbar durch Popkultur usw. ein sehr starker Bezug zu den USA.

    Das heißt natürlich nicht, dass dieses Ausblenden richtig wäre. Im Gegenteil, journalistisch gesehen ist es ein Skandal. Aber: Dieser Bezug hat starke historische/migrationsbedingte/mediale Ursachen. Die Vernachlässigung anderer Regionen hat sicher auch eine historisch-rassistische Komponente. Die anderen Ursachen hier so auszublenden und den Rassimus in den Fordergrund zu polemisieren, ist journalistisch ebenfalls mehr als fragwürdig und trägt zu einer Verwischung und Trivialisierung des Rassismusbegriffes bei, den wir uns in Zeiten von „racial-profiling“ und Konsorten nicht leisten können.

  7. aloo masala sagt:

    Hallo Lalon Sander,

    Bevorzugung in der Berichterstattung alleine reicht nicht aus, um von Rassismus sprechen zu können. Rassismus betont tatsächliche oder fiktive Differenzen zwischen Gruppen als unüberbrückbar/unvereinbar. Rassismus bewertet diese Differenzen. Rassismus pauschalisiert auf unzulässige Weise. Und schließlich, Rassismus macht das alles nicht aus reinem Selbstzweck, sondern um die eigenen Gruppe zu stärken und die andere zu schwächen.

    Weder werden bei der Berichterstattung über Unwetterkatastrophen Differenzen zwischen den USA und Indien/Vietnam betont und diese als unvereinbar erklärt. Es findet weder eine Bewertung noch eine unzulässige Pauschalisierung statt, um das wir-Gefühl zu stärken und den anderen als gemeinsamen Feind zu sehen.

    Die Presse bedient Interessen. Wenn Interessen einseitig sind, ist das vielleicht schade, bedeutet jedoch noch lange keine feindliche Haltung gegenüber anderen Themen. Wenn in der deutschen Sportberichterstattung hauptsächlich über Fußball und kaum über Cricket geschrieben wird, folgt daraus noch lange keine ablehnende Haltung gegenüber Cricket oder Völkern, die Cricket mögen.

    Und wenn die Presse in Deutschland viel über die US-Wahl und kaum etwas über Wahlen in Indien berichtet, dann fasse ich das nicht als Rassismus auf, denn Indien berichtet ebenfalls viel von der US-Wahl. Und Indien berichtete über Sandy und Nilam mehr als über den Son Tinh. Indien selbst ist zwar zutiefst rassistisch aber nicht in ihrer freien Berichterstattung.

    Eine rassistische Berichterstattung wird nur über Sandy und nicht über Nilam berichten. Aber der Umkehrschluss folgt daraus noch lange nicht.

    Gruß

    aloo masala

  8. Tai Fei sagt:

    aloo masala sagt:
    6. November 2012 um 11:02
    „Die Presse bedient Interessen. Wenn Interessen einseitig sind, ist das vielleicht schade, bedeutet jedoch noch lange keine feindliche Haltung gegenüber anderen Themen. Wenn in der deutschen Sportberichterstattung hauptsächlich über Fußball und kaum über Cricket geschrieben wird, folgt daraus noch lange keine ablehnende Haltung gegenüber Cricket oder Völkern, die Cricket mögen.
    Und wenn die Presse in Deutschland viel über die US-Wahl und kaum etwas über Wahlen in Indien berichtet, dann fasse ich das nicht als Rassismus auf, denn Indien berichtet ebenfalls viel von der US-Wahl.“

    So einfach kann man es sich nicht machen. Natürlich sind die Printmedien und privaten Sendeanstalten darauf aus Profite zu erzielen. Das erreicht man nur wenn man möglichst Mainstream-Interessen anspricht. Allerdings schließt dass keineswegs Propaganda-Setting aus. Immerhin bricht der Absatz bei den Printmedien seit Jahren ein. Diese Medien müssen sich immer mehr von Anzeigen und PR-Artikeln abhängig machen. Bei Naturkatastrophen mag das weniger ausschlaggebend sein, bei der Berichterstattung über Vorwahlkämpfe in den Staaten aber durchaus.

    Überhaupt nicht zieht dieses Argument jedoch bei der ÖR-Berichterstattung. Diese muss nicht Quotenorientiert arbeiten, obwohl sie es tut. Die ÖR-Sender KÖNNTEN sehr wohl ausgewogen berichten. Gerade hier stelle ich jedoch seit Jahren einen zunehmenden Dilettantismus in der Auslandsberichterstattung fest, kombiniert mit richtiger Propaganda. Meist zitieren die Korrespondenten nur noch Pressemeldungen und geben recht simple Lageeinschätzungen wieder. Dass ich das nicht allein so sehe, wird mir inzwischen auch aus den Veröffentlichungen ehemaliger ARD-Korrespondenten bestätigt.

    DAS ist doch der wahre Skandal. Da wird in der ARD in x-Berichten mit mehreren Live-Schaltungen über die eingeschränkte Versorgungssicherheit in NY debattiert. Das die Situation in anderen Ländern durch SANDY oder vergleichbare Phänomene jedoch viel schlimmer ist und diese Länder eigentlich einer viel größeren Aufmerksamkeit und Anteilnahme bedürfen sind allenfalls Randmeldungen. Na zumindest werden wir via Live-Ticker darüber informiert, wann denn nun die NYSE wieder ihren Handel aufnimmt. Das liegt ja auch im Interesse der meißten dt. Zuschauer die ja alle ihre Aktien und Wertpapiere dort handeln.

    Vielleicht ist die Bezeichnung Rassismus für diese Art der Selektion etwas mächtig, aber Eurozentrismus passt sehr gut und dieser basiert letztendlich auf rassistischen Ideologien.

  9. aloo masala sagt:

    @Tai Fei

    —-
    Vielleicht ist die Bezeichnung Rassismus für diese Art der Selektion etwas mächtig, aber Eurozentrismus passt sehr gut und dieser basiert letztendlich auf rassistischen Ideologien.
    —-

    Ich weiß nicht, was Sie unter Eurozentrismus verstehen. Legt man die Definition von Wikipedia zu Grunde, dann passen eine Menge Artikel in der deutschen Berichterstattung zu einer eurozentristischen Denkweise aber bestimmt nicht die sensationsheischenden Berichte über Sandy.

    Es gibt für Rassismus und Eurozentrismus klare Kriterien. Ich würde vorschlagen, dass Sie oder Lalon Sander mal Schritt für Schritt belegen, inwieweit rassistische Ideologien in der Berichterstattung um Sandy vs. Nilam eingehen.

    Sicher ist, Rassisten berichten über bestimmte Sachverhalte nicht. Unklar aber bleibt die Umkehrung: Werden bestimmte Sachverhalte nicht gebührend gewürdigt, dann liegt Rassismus vor. Hier klafft sowohl bei Ihnen als auch bei L. Sander im Bezug auf Sandy eine argumentative Lücke.

  10. aloo masala sagt:

    @Tai Fei (Nachtrag)

    Sie sollten berücksichtigen, dass Sie eine Passage von mir aus dem Zusammenhang gerissen haben und nur isoliert auf diese eingehen. Die Passage ist allerdings nur im Kontext mit dem vorher gesagten und im Kontext über die Berichterstattung mit Sandy zu sehen.