Ramadan

Zur ethischen Dimension des Fastenmonats

Ein Plädoyer über die ethische Dimension des Fastens im Ramadan. Denn jährlich enden etwa elf Millionen Tonnen Lebensmittel oder 21,6 Milliarden Euro auf deutschen Müllhalden. Diese Summe muss man erst einmal verdauen.

Von Montag, 23.07.2012, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 25.07.2012, 8:47 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Vergangenen Freitag hat der Fastenmonat Ramadan begonnen. Erneut begeben sich 1,5 Milliarden Muslime weltweit auf eine spirituelle Reise. Wer sich ein wenig Hintergrundwissen über die üblichen Fakten aneignen möchte, dem seien die Antworten zu 25 Fragen zum Fasten im Ramadan empfohlen.

Viele unserer nichtmuslimischen Mitbürger wissen nicht viel mit dem Ramadan anzufangen und scheinen wenig Sinn darin zu sehen, bei brechender Hitze freiwillig für mehr als 16 Stunden auf Essen und Trinken zu verzichten. Man wäre im ersten Moment geneigt dem zuzustimmen, falls wir unsere Existenz lediglich auf eine materielle und physische Dimension begrenzen könnten. Doch wir wissen alle, dass unser Menschsein nicht auf diese Aspekte reduziert werden kann.

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Geist und Seele und mit ihnen unsere Emotionen und Gefühle lassen darauf schließen, dass unser Körper gekoppelt und vereint ist mit noch anderen Elementen des menschlichen Daseins. Keiner wird bestreiten, dass körperliche Fitness gut für den Geist und die Seele ist und dass sie bestimmte tiefe Reaktionen auslösen, die Harmonie und Balance ins Leben rufen.

Es ist daher diese Einheit und Verbundenheit von Körper und Geist, die im Islam so wichtig ist. Die vereinte Praxis von Körper und Geist ist dann auch ausschlaggebend für ein positives Gleichgewicht im individuellen als auch im sozialen Leben eines Menschen. Als Muslime und Nichtmuslime können wir vor allem an die sozialen Lehren des Fastenmonats gemeinsam anknüpfen und die ethische Dimension dieser Praxis in unserem Engagement für unsere Gemeinschaft würdigen:

Abkehr vom Egozentrismus
Es gibt vielleicht kein anderes Zeitalter als das Unsere, das so sehr der Bequemlichkeit und Befriedigung des menschlichen Egos gewidmet ist: Möglichst bequem reisen, viel und gut essen, komfortabel wohnen, Spaß haben bis sich die Balken biegen und das menschliche Selbst verköstigen so gut es geht.

Unsere Sinne leben in einer Überfluss – und Informationsgesellschaft, die uns konstant mit Nachrichten und dem Ruf, alles auszuleben, überhäuft. Problematisch wird es, wenn solch ein Egotrip über Hand nimmt und sich in Form von Ausbeutung, Gier, Selbstsucht oder Eigennutz bemerkbar macht. Auf Kosten von Mitmenschen und der Umwelt muss dann jede Lust gestillt werden. Wenn man den moralischen Ursachen von Umwelt– oder Finanzkrisen auf die Spur gehen möchte, so ist Selbstsucht oft nicht weit entfernt.

Ramadan transformiert den Menschen, indem er ihn für eine Zeit aus dieser Sinnesbetäubung loslöst und ihn dazu anleitet, diese egozentrische Lebensweise zu überdenken. Eine gesunde Portion Verzicht und Enthaltsamkeit kann für sich selbst und das Gemeinwohl auch Freiheit und Befriedigung bedeuten. Wir erinnern uns oft positiv an diejenigen in unserer menschlichen Geschichte, die für ein größeres Gut Opferbereitschaft und Beherrschung zeigten.

Ramadan bereitet den Menschen daher für den Rest des Jahres vor, in dem er in Erinnerung ruft, dass ein Mensch an Bedeutung gewinnt, indem er nicht nur seine eigenen Interessen, sondern auch verstärkt die seiner Mitmenschen in den Vordergrund stellt. Dies geschieht, indem man Seele und Körper ab und an Verzicht spüren lasst.

Demut und Bescheidenheit
Ramadan ist eine Herausforderung, aus sich selbst herauszuwachsen und über sein eigenes Ego hinaus mehr an andere zu denken. Durch die kurze Dauer des Fastens spürt man existenziell was Armut und Schwäche bedeuten, nachdem man mit all seinen Sinnen am Hunger und Durst der Schwächsten teilgenommen hat. Man stellt sich nicht nur vor, dass diese Menschen meist gar nichts bei Sonnenuntergang auf dem Tisch haben, sondern fühlt sich oft gezwungen, diese Situation aktiv zu ändern. Man reflektiert darüber, dass man als das intelligenteste Wesen auf der Erde nicht imstande ist, ein Tropfen Wasser zu erschaffen. Diese Erkenntnis löst in einem Menschen Demut und Bescheidenheit aus. Gewiss gibt es auch Mitbürger, die angeleitet sind, sich zu engagieren und Demut praktizieren, ohne dass sie fasten. Doch mit seinem ganzen Selbst zu dieser Erfahrung zu gelangen, hinterlässt einen tieferen Einfluss auf das menschliche Dasein.

Dankbarkeit
Jährlich enden etwa elf Millionen Tonnen Lebensmittel auf deutschen Müllhalden. 61 Prozent der weggeworfenen Lebensmittel stammen aus Privathaushalten. Wir vernichten damit jährlich größtenteils noch genießbare Speisen im Wert von bis zu 21,6 Milliarden Euro. Diese Summe muss man erst einmal verdauen, um sich über die Ausmaße klar zu werden. „Wir leben in einer Überfluss- und Wegwerfgesellschaft. In Deutschland und Europa wird viel zu viel weggeworfen, wertlos gemacht, vernichtet”, sagte Bundesverbraucherministerin Ilse Aigner (CSU).

Nahrung wird verschmäht und kleine Mängel sind schon Grund dafür, Produkte unachtsam wegzuwerfen. Dies ist ein Armutszeugnis für uns als Gesellschaft und wir sollten uns nicht einreden, dass negative Aspekte unseres Konsumverhaltens globale Armut nicht beeinflussen. Ein fehlendes Gleichgewicht im Mikrokosmos eines Menschen hat auch sicherlich Auswirkung auf seinen Makrokosmos. Genauso wie lokaler Waldraub oder die Bedrohung von bestimmten Tierarten Konsequenzen auf das globale ökologische Gleichgewicht haben, ist es mit unserem Basisverhalten nicht anders. Im Ramadan lernen wir umzulernen, und unseren Lebensstil zu überdenken. Ein hartes Stück Brot am Ende eines langen Fastentages kann so gut schmecken, und man lernt, es mit all seinen Sinnen zu schätzen und zu würdigen. Beim nächsten Mal überlegt man es sich dann zweimal, was weggeschmissen wird. Man lernt die fundamentale Lektion der Dankbarkeit.

Genügsamkeit
In einer Zeit des Massenkonsums und der globalen Finanzkrise, in der man sich einredet, dass man ohne all den Überfluss an materiellen Gütern kein lebenswertes Dasein fristen kann, wirft der Fastenmonat wichtige Fragen auf und motiviert uns, unsere Prioritäten erneut zu überdenken. Viel zu oft beschweren wir uns über das, was wir nicht haben oder streben nach dem, was noch sein muss, damit wir Zufriedenheit erlangen. Muss ich wirklich jeden einzelnen materiellen Wunsch befriedigen und ihn ausleben, um glücklich zu sein? Dem scheint nicht so.

Im Ramadan merkt man ziemlich schnell, dass man auch mit Wenig auf dem Tisch zufrieden sein kann. Und wenn der Mensch mit existenziellen Dingen wie Nahrung genügsam sein kann, dann kann er es auch mit anderen Dingen. Manche Muslime haben leider ein verzerrtes Bild vom Ramadan als eine Konsumorgie entwickelt, in der exzessiv gekocht und gegessen wird. Dies widerspricht dem Sinn des Fastenmonats und viele Muslime äußern ihre Bedenken hierzu genauso wie gläubige Christen, die kritisieren, dass Weihnachten zu einem Fest des Konsums reduziert wird.

Genügsamkeit ist in sozialer Hinsicht deswegen so wichtig, weil er als ethischer Wert Gier und Ausbeutung verhindern kann. Wahre Freiheit, so lehrt der Fastenmonat, ist nicht nur die Befriedigung eines jeden Wunsches, sondern auch manchmal der Verzicht. Ein prophetisches Sprichwort sagt nicht umsonst: „Genügsamkeit ist ein niemals erschöpfender Reichtum.“

Ramadan ist daher für viele Muslime nicht nur eine Rückkehr zum Schöpfer, zum eigenen Ich und zur Familie, sondern auch eine Rückkehr zur Gemeinschaft und zur Gesellschaft, in der wir leben. Viele ethische und moralische Aspekte unseres sozialen Miteinanders, die manchmal in Vergessenheit geraten, werden durch den Fastenmonat erneut ins Bewusstsein gerufen. Ramadan ist also auch ein Ruf, sich daran zu erinnern, was uns als Menschen in unserer Essenz ausmacht. In einer turbulenten Zeit, in der so viel Beachtung auf unsere unleugbaren Differenzen geschenkt wird, sind es vielleicht diese universalen Werte, an denen wir als Gemeinschaft aufbauen können. Die Einheit von Körper und Geist eines Menschen, die der Ramadan schwerpunktmäßig ins Visier nimmt, ist essenziell für eine gesunde Balance. Vielleicht gelingt es uns im selben Maße, diese Einheit oder wenigstens die Basis zwischen jedem Individuum und seiner Mehrheitsgesellschaft zu schaffen. Denn jeder Mensch braucht eine gesunde Beziehung zum sozialen Umfeld, um Harmonie zu erlangen. Aktuell Meinung

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MiGDISKUTIEREN (Bitte die Netiquette beachten.)

  1. linguistin sagt:

    Liebe Frau Sayilgan,

    herzlichen Dank für den informativen Artikel. Vor allem der Aspekt der Genügsamkeit hat mich sehr zum Nachdenken gebracht. Leider wird durch all die Werbung und den Medien immer das Gegenteil, nämlich das Gefühl, dass man noch Dieses und Jenes bräuchte, vermittelt. Es liegt jedoch an Jedem selbst, sich Grenzen zu setzen und genügsam zu sein…

    „Genügsamkeit ist ein niemals erschöpfender Reichtum.“

    Diese Weisheit scheint mir mehr zu beinhalten, als man auf den ersten Augenblick annimmt. Wenn man dieses Reichtum einmal entdeckt hat, hat man wohl bereits sehr viel erreicht in seinem Leben und kann „die Harmonie erlangen“, von der Sie schreiben. Nur so gelingt es wohl auch dankbar im Leben zu sein.

  2. Zara sagt:

    Während des Ramadan werden mehr Lebensmittel verbraucht und weggeschmissen als den Rest des Jahres.

    Heilfasten kann gesund sein, aber nur bei ausreichend Flüssigkeitszufuhr.

  3. Neudeutsch sagt:

    Es liegt in der Natur des Menschen, nach neuen Erfahrungen, nach Mehr zu suchen. Es ist vielen zB bekannt, dass Reichtum nicht glücklich macht, da nach einer gewissen Zeit diese zur Gewohnheit wird. Es entsteht die Angst, diese verlieren zu können. Letzteres ist auch Grund dafür, dass sie finanziell Schwache unter Generalverdacht stellen, die es gilt unter Kontrolle zu halten. Während umgekehrt sozial Schwache in ihnen häufig Vorbilder sehen.

    Auch als nichtreligiöse Person möchte ich an dieser Stelle einen islamischen Geistlichen aus Istanbul zitieren, der einige Monate in Deutschland verbracht hat: „Ich war überrascht und erfreut, zu sehen, dass dort einige wichtigen Prinzipien des Islams gelebt werden. Die Sozialstaatlichkeit und damit der Dienst am Anderen sowie zB auch Demut, Respekt und Schutz gegenüber der Tier- und Pflanzenwelt. Ich bin mit einer neuen Meinung zurückgekommen.“

    Warum nicht ein Beispiel an dem nehmen, was bereits gut funktioniert? Auf dass der Sinneswandel (zB hin zu Bio und Fairtrade und regionalen Schätzen) sich weiter fortsetzt.
    Mehr Achtsamkeit und Rücksichtnahme täten unserer Gesellschaft gut