Interview mit Zeki Özdemir

„Viel wichtiger als das, was Eltern ihren Kindern sagen, ist das, was sie ihren Kindern vorleben.“

Migranten sind häufiger von psychischen Leiden betroffen und gehen damit anders um, sagt Psychologe Zeki Özdemir und fordert eine bessere Versorgung. Aber auch Migranten sind gefordert, sagt er. Insbesondere wenn es um Kindererziehung geht.

Von Mehmet Tanlı Dienstag, 07.02.2012, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 13.02.2012, 8:47 Uhr Lesedauer: 9 Minuten  |  

Mehmet Tanlı: Sie sind seit 14 Jahren als Psychologe bzw. Psychotherapeut in Ahlen und Hamm tätig und haben eine überwiegend türkeistämmige Patientenschaft. Wie schätzen Sie die gegenwärtige Situation der Migranten in Deutschland ein?

Zeki Özdemir: Die Situation ist derzeit nicht besonders rosig. Die Mordserie der rechtsextremen Zwickauer Terrorgruppe weckt bei meinen Patienten Erinnerungen an die Solinger Brandanschläge und andere fremdenfeindliche, rassistische Anschläge, die in Deutschland phasenweise leider immer wieder vorgekommen sind. Viele fühlen sich in diesem Land abgelehnt, diskriminiert und bedroht. Wissenschaftliche Untersuchungen über den Arbeits-, Wohnungs- und Bildungsmarkt bestätigen leider, dass Gesellschaft, Schulen und Institutionen in Deutschland bei der Integration von Migranten versagen oder zumindest nicht annähernd so erfolgreich sind wie andere Länder, insbesondere klassische Einwanderungsländer. Durch das Machwerk von Sarrazin wurde dieses Versagen dann auch noch einseitig den am stärksten diskriminierten Migranten, nämlich denen mit islamischem Hintergrund, in die Schuhe geschoben, was von vielen natürlich als besonderer Hohn empfunden wurde.

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Was denken Sie über Sarrazins Thesen?

Zeki Özdemir, Dipl.-Psych., geboren 1971 in Ankara als Sohn eines türkischen Lehrerehepaares. Seit 1973 in Deutschland. Aufgewachsen in Hamm (Westf.). Studium der Psychologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Berufliche Stationen an den Segeberger Kliniken und dem Universitätsklinikum Essen. 1. Vorsitzender der Gesellschaft für Türkischsprachige Psychotherapie und Psychosoziale Beratung e.V.

Özdemir: Ich habe jedenfalls in 14 Jahren Tätigkeit als Psychotherapeut nicht einen einzigen türkeistämmigen Migranten getroffen, der nicht den Wunsch gehabt hätte, mit seinen Kindern ein erfolgreiches Leben in Deutschland zu führen. Wer will schon, dass seine Kinder keinen Erfolg haben? Aber dass Migrantenkinder beispielsweise schon im Grundschulalter viel häufiger als deutschstämmige Kinder in ein Sonderschulverfahren kommen, ist mittlerweile auch wissenschaftlich belegt. Natürlich sind die nicht alle einfach von Geburt an weniger intelligent, wie es Sarrazin insinuierte. Da das von ihnen gesprochene Deutsch nicht ihre Muttersprache ist und im Kindergarten auch nicht auf ein angemessenes Niveau angehoben wird, werden sie in der Grundschulzeit häufig einfach auf die Sonderschule abgeschoben. So bleiben viele eigentlich begabte Migrantenkinder auf der Strecke, so wie dies auch nach wie vor für viele deutschstämmige Kinder unterprivilegierter Familien gilt. In kaum einem anderen westlichen Land werden Bildungsprivilegien so deutlich vererbt wie in Deutschland.

Meine Patienten berichten mir jedenfalls glaubhaft und immer wieder und in vielen Variationen von Diskriminierungen in den Bildungseinrichtungen und bei der Arbeits- oder Wohnungssuche. Das kann ja nicht alles erfunden sein.

Was verstehen Sie unter Integration?

Özdemir: Dass Migranten gerechte Chancen auf Arbeit, Bildung und andere soziale Güter erhalten. Ich habe nicht den Eindruck, dass dies derzeit der Fall ist. Meine Vorstellung von Integration ist ohnehin nicht die, dass eine Minderheit so werden sollte wie die Mehrheit, sodass sie am Ende praktisch unsichtbar ist. Das wäre Assimilation. Gelungen ist Integration nicht, wenn eine Minderheit nicht mehr anders ist, sondern wenn sie als Teil der Gesellschaft akzeptiert wird, obwohl sie weiterhin anders als die Mehrheitsgesellschaft ist. Also akzeptierte Vielfalt statt Monokultur.

Aber dieses Verständnis einer einschließenden, Andersartigkeit akzeptierenden Integrationspolitik hat sich in Deutschland leider noch nicht durchsetzen können. Vielmehr wird immer wieder von Leitkulturen gesprochen. Erste vorläufige politische Ansätze des Multikulturalismus wurden von Kanzlerin Angela Merkel ja als „gescheitert“ erklärt. Sie knüpft damit leider an die Missachtung des Themas Integration in der Ära Kohl an. Dieser hatte ja jahrzehntelang verleugnet, was jedes Kind auf der Straße sehen konnte: dass Deutschland ein Einwanderungsland war und dringend einer durchdachten Integrationspolitik bedurfte.

Migranten erleben psychische Leiden oft anders als Einheimische. Wieso?

Özdemir: Migranten haben es mit ihren Ausgrenzungs-, Anpassungs- und Verlusterlebnissen schwerer im Leben als Einheimische und weisen daher häufigere und schwerere psychische Leiden auf. Seine Heimat zu verlassen und sich in einem fremden Land zurechtzufinden, in dem man sich nicht gerade besonders willkommen fühlt und auf alle möglichen sichtbaren und unsichtbaren Hürden trifft, ist eben nicht einfach.

Spielen kulturelle Besonderheiten eine Rolle?

Özdemir: Es gibt manche kulturelle Besonderheiten, die krankheitsfördernd sind. Ich denke da z.B. an besondere kulturelle Belastungen, denen türkisch- oder kurdischstämmige Frauen ausgesetzt sind und die sich bei diesen in einer vierfach erhöhten Selbstmordrate im Vergleich zu deutschstämmigen Frauen ausdrücken. Leider suchen Migranten auch erst deutlich später psychotherapeutische Hilfe auf als deutschstämmige Patienten und weisen daher häufig chronifiziertere Störungen auf.

Dies liegt nur noch wenig an einer Skepsis gegenüber Psychotherapie, denn auch unter den Türkeistämmigen hat sich – häufig vermittelt durch türkische Medien – mittlerweile herumgesprochen, dass man sich bei psychischen Problemen professionell helfen lassen kann. Allerdings gibt es in Deutschland viel zu wenige Therapeuten mit Migrationsgeschichte. In Deutschland sind die Wartezeiten für Psychotherapie ohnehin schon extrem lang. Aber für Migranten, die sich auf türkischsprachige Psychotherapie angewiesen sehen, sind diese nur noch als skandalös zu bezeichnen. Die Patienten gehen viel eher zu einem Therapeuten, der ihnen sprachlich und kulturell ähnlich ist. Sogar in den USA gehen beispielsweise heute noch farbige Patienten viel eher zu farbigen Therapeuten, weil sie sich von diesen besser verstanden fühlen. Ob das wirklich so ist, sei dahingestellt, aber die Nachfrage bei den Patienten ist groß.

Was tun Sie, um dieser Nachfrage gerecht zu werden?

Özdemir: Ich bin Vorsitzender der Gesellschaft für Türkischsprachige Psychotherapie und Psychosoziale Beratung e.V. und vertrete damit einen Großteil aller türkischsprachigen Psychotherapeuten und psychosozialen Berater in Deutschland. Wir haben uns darum bemüht, dass im Zuge des neuen Versorgungsstrukturgesetzes im Gesundheitswesen die Möglichkeit eingerichtet werden sollte, dass Psychotherapeuten mit türkischen Sprachkenntnissen in Bezirken mit hohem türkischen Migrantenanteil die Möglichkeit von Sonderbedarfszulassungen erhalten sollten. Das hätte nur einige wenige zusätzliche Praxen bedeutet, wäre aber eine enorme Entlastung für die Patienten, aber auch für unsere deutschstämmigen Therapeutenkollegen gewesen, die sich mit türkeistämmigen Patienten häufig überfordert sehen.

Außerdem hätte es Kosten gespart, weil unbehandelte, chronifizierte psychische Störungen enorme soziale Folgekosten, wie Arbeitsausfall oder Erwerbsunfähigkeit erzeugen. Ich bin also extra nach Berlin gefahren, habe mit dem Präsidenten der Bundespsychotherapeutenkammer gesprochen und wir haben einen gemeinsamen kleinen Passus als Gesetzesänderungsvorschlag eingebracht. Unterstützung bekamen wir aber leider nur von der Opposition.

Sprechen Migranten eine Erkrankung – auch psychischer Art – innerhalb der Familie offener an?

Özdemir: Ich erkenne keinen Unterschied zwischen meinen Patienten mit oder ohne Migrationsgeschichte. Persönliche Angelegenheiten werden ja meistens eher innerhalb der Familie angesprochen. Kaum jemand geht mit seinen Erkrankungen gerne hausieren, gerade wenn diese psychischer Art sind. Gesellschaft Interview Leitartikel

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  1. Achherje sagt:

    “Viel wichtiger als das, was Eltern ihren Kindern sagen, ist das, was sie ihren Kindern vorleben.”

    Richtig und auch falsch? Das kann man so oder so sehen? Viel wichtiger? Als was? Was sagen sie denn ihren Kindern? Was leben sie (ihnen denn vor)?

    Ein Islamist (überzeugt von seinem Gedankengut) wird seinen Kindern wichtiges zu vermitteln haben – wie ein Rechtsradikaler wohl auch? Und, das Vorleben … das wird sicherlich auch praktiziert. Fast or slow … je nach Doktrin und innerlicher Befindlichkeit?

    Hartz4-ler’Innen leben ihren Kindern eben auch vor, wie es gehen kann, wie es funktioniert, nicht selten, um dauerhaft in einer zweifelhaften, „bezweifelswerten“ Glückseeligkeit leben zu dürfen?

    Jeder lebt seinem Kind das vor, was er meint, dass es genau das richtige ist – egal welche Motivation dahinter steckt? Also, mal ehrlich … lohnt es sich überhaupt, dieses Thema zu diskutieren? Man könnte wieder Bücher füllen.

    Die Welt ist so wie sie ist … und, der Mensch ist so wie er ist. Ob gut, ob schlecht (diese sog. Weisheit) … bis hin zum Ende der Menschheit wird diese Wahrheit (einiger) Bestand haben.

    Vielleicht ist die Menschheit einfach nur total verblödet? Wo soll man da noch die Ausnahmen suchen, wenn man dieser Theorie verfallen ist?

    Was weiß ich … schöne Grüße

    Achherjeee ….