7-jährige Tochter

Nein, ich gehe nicht in die Türkei! Dort tragen alle Kopftücher!

„Nein! Du kannst allein in der Türkei leben! Ich gehe nicht mit! Dort tragen alle Kopftücher!“ Das saß. Erschrocken starrte ich in das Gesicht meiner Tochter, die mit dem größten Trotz und dem erbarmungslosen Widerstand einer 7-jährigen ihre Mutter - mich - versuchte, von ihrer Abneigung gegen ein - temporäres - Leben und Wohnen in der Türkei zu überzeugen.

Von Meltem Kulaçatan Mittwoch, 10.08.2011, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 24.01.2014, 7:43 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Ich bemühte mich um Fassung, indem ich ihr fest in die Augen sah, was nahezu zwecklos erschien – sie verschränkte ihre Arme und sah weg. Wir waren auf dem Weg von der Schule nach Hause. Sie saß auf dem Sattel meines Fahrrades, das mir in Anbetracht ihrer Aussage fast umgekippt wäre. „Überleg doch mal, wie viele Frauen aus meiner Familie in der Türkei ein Kopftuch tragen?“, bemühte ich mich in angestrengt ruhigem Tonfall. Sie überlegte lange, bis sie „gar Keine!“ sagte. Im selben Moment hätte ich mir auf die Zunge beißen können. Ich tat nichts Anderes als das, was sie offensichtlich aus ihrer Umgebung signalisiert bekommt: dass das Kopftuch einer Frau stigmatisierend ist, sie ausgrenzt, sie mit Ablehnung konfrontiert wird, völlig unabhängig davon, wer sie eigentlich ist. Und völlig unabhängig davon, dass es wirklich niemanden etwas angeht.

Othering heißt der Begriff, der in der deutschen Sprache fehlt, im Türkischen jedoch mit ötekileştirmek wörtlich übersetzt und verwendet wird. Meine gesamte Familie stammt aus Izmir. Sie alle sind tief überzeugte Kemalisten, was regelmäßig zu hitzigen Diskussionen zwischen ihnen und mir führt – insbesondere mit meiner Mutter. Die größte Sorge meiner Mutter gilt meinem – in ihren Augen – Abfall von Mustafa Kemal Atatürk und meinem Agnostizismus. Nach dem Ende jeder Diskussion am Telefon fragt sich mich besorgt, was sie denn falsch gemacht hat in meiner Erziehung und dass sie gegen meinen Irrglauben und für mich beten wird. Nichts geht über Allah und Atatürk.

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Sie hat natürlich nichts falsch gemacht. Bei jeder Türkeireise ermahnt sich mich mit größter mütterlicher Fürsorge und Angst, dass ich meine politische Meinung auf keinen Fall lautstark kundtun sollte, mir würde sofort etwas zustoßen. Ich frage sie dann jedes Mal, ob sich ihrer Ansicht nach irgendjemand für die politische Meinung einer in Deutschland geborenen europäischen Türkin tatsächlich interessieren könnte? Das interessiert wiederum meine Mutter nicht: sie malt dann Horrorszenarien aus, in denen sie mich auf der Anklagebank und im Gefängnis irgendwo in der Türkei sieht und mich dort nicht herausbekommt und vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen muss.

Ich habe mich vor Kurzem mit jemandem aus der Türkei um selbige mütterliche Sorge unterhalten. Er erzählte mir, dass er aus den Trümmern während des großen Erdbebens in der Türkei im Jahr 1999 gerettet wurde. Er schilderte mir seine Todesangst und seine körperlichen Schmerzen. Als er im Krankenhaus lag und seine Mutter ihn besuchte meinte sie weinend, schreiend und anklagend zu ihm: „Siehst Du, mein Sohn! Das kommt davon, weil Du Dich von Gott abgewendet hast und Atatürk ständig kritisierst! Du hörst jetzt sofort auf damit! Gott und Atatürk mögen Dir vergeben!“ Ich glaube, dass meine Mutter ähnliche Gefühle meinen politischen und areligiösen Gedanken gegenüber empfindet.

Meiner eigenen Tochter gegenüber ging ich in Überzeugungsarbeit: In der Türkei gibt es deutsche Schulen. Es wäre doch toll, wenn sie besser Türkisch sprechen könnte und einen Unterricht in zwei Sprachen hat. Meine Tochter antwortet mir immer auf Deutsch. Es gibt jedoch Ausnahmen, denen sie konsequent folgt: Wenn sie etwas unbedingt haben möchte, dann kehrt sie ihren gesamten Charme heraus und bittet mich auf Türkisch darum. In solchen Momenten weiß ich natürlich, dass ich mich von meiner Freude keinesfalls hinreißen lassen darf – was mir kaum gelingt, es ist schließlich meine Muttersprache.

Unser Gespräch versetzte mir einen schmerzlichen Stich. Ich fühlte mich unweigerlich an die Bemühungen meiner Mutter erinnert, meiner Schwester und mir die türkische Sprache und ihre kulturellen Werte zu vermitteln. Ich erinnerte mich an den Frust meiner eigenen Mutter, da ihr ihre Töchter immer fremder wurden. „Ihr seid so deutsch! Ich erkenne meine eigenen Kinder nicht wieder!“, war einer ihrer Sätze, wenn sie frustriert und traurig war. Sie hatte Angst vor dem Prozess der Assimilierung, der Verfremdung der eigenen Kinder – weg von ihr. Ich selbst frage mich, ob der Prozess der Assimilierung nicht der natürlich konsequentere ist, obwohl ich ihn persönlich ablehne.

Jetzt, da ich mich in einer ähnlichen Situation befinde, verstehe ich ihre Gefühle. Während ich mit meiner Tochter nach Hause ging, fragte ich mich, was sie eigentlich von ihrer Umgebung und in ihrer Schule tatsächlich vermittelt bekommt in unserer multikulturellen und ja doch eigentlich pluralistischen Gesellschaft?

Ich erklärte ihr, dass sie ganz viele Kinder in ihrer Klasse hat, die zwei Sprachen sprechen, deren Eltern aus anderen Ländern als aus Deutschland kommen und doch auch hin und wieder nicht in Deutschland leben. Sie dachte nur kurz nach und meinte: „Ja, klar, das ist doch normal!“ Was jedoch verläuft nicht „normal“? Diese Frage ließ mich nicht los. Es ist schließlich nicht so wie zu meiner Schulzeit, in der ich immer wieder gefragt wurde, wann ich denn wieder nach Hause ginge? Ich sagte dann jedes Mal, „Wenn die Schule aus ist!“ – das war jedoch nicht gemeint. Gemeint war, wann ich und wir „wieder“ in die Türkei nach Hause gehen würden. Es sind nicht mehr die 1980er Jahre, in denen finanzielle Anreize während der Regierung Kohl geschaffen wurden, damit die sogenannten Gastarbeiter hier ihre Zelte abbrechen und gemeinsam mit ihren Familien aus der Bundesrepublik Deutschland fortziehen mögen. Es sind zum Glück auch nicht mehr die furchtbaren Anfangsjahre der 1990er: In der damals politisch und öffentlich unsäglich geführten Debatte im Jahr 1992 um die Abschaffung des individuellen Grundrechts auf Asyl erfuhr ich einer meiner ersten bewussten politischen und rechtlichen Sensibilisierungsphasen.

Die Angst nach und während den schrecklichen Ereignissen in Mölln, Solingen und Hoyerswerda haben sich tief in mein Bewusstsein verankert sowie der hässliche Begriff „Beileidstourismus“, den der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl äußerte, um sein Verhalten zu rechtfertigen – im Gegensatz zur menschlichen Anteilnahme und Präsenz des ehemaligen verstorbenen Bundespräsidenten Johannes Rau, der die Familie Genç persönlich besuchte. Ich habe die Bilder des Journalisten aus Hoyerswerda nicht vergessen, der verzweifelt im Asylbewerberheim in die Kamera sprach, dass sie hier alle verbrennen werden, wenn nicht bald sofort Hilfe käme. Draußen standen Menschen, die klatschten – gemeinsam mit einer untätig zusehenden Polizei. Zur deutsch-deutschen Wiedervereinigung hatte ich über viele Jahre ein zutiefst gespaltenes Verhältnis. Ich verband damit nur „Angst.“ Ich kann die Bilder, die ich mit den damaligen Ereignissen verbinde, sofort abrufen. Sie waren da, als die im dritten Monat schwangere Marwa El-Sherbini vor zwei Jahren in Dresden getötet wurde – vor den Augen ihres Kindes, vor den Augen ihres Mannes – in einem Gerichtssaal mitten in Deutschland. Gesellschaftspolitisch wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dass diese Erfahrungen meiner Tochter und den Kindern aus ihrer Generation erspart bleiben.

Aber zurück zu meiner Tochter – und der dritten Generation „mit Migrationshintergrund.“ Wann hört dieser eigentlich auf und wann wird Identität als endlich das angenommen, wahrgenommen und vor allen Dingen respektiert, was sie eigentlich ist? Sie ist stets in Wandlung, kontextbezogen, für diejenigen aus meiner Generation eng verknüpft mit den Sprachen, Mimiken und Gesten, die wir innehaben, wenn wir sie sprechen und fühlen. Weshalb ist das nicht selbstverständlich? Keinen dieser sprachlichen, emotionalen und geographischen Räume möchte ich missen. Sie alle sind Teil von mir. Während ich mit diesen Gedanken beschäftigt bin fragt mich meine Tochter: „Echt, Mama? Dort gibt’s auch deutsche Schulen?“ „Ja, klar! Ganz viele sogar!“ Sie überlegt kurz. „Okay, aber nicht für immer – versprochen?“ Ich muss schmunzeln und sage: „Versprochen! Ganz ehrlich.“

Ein paar Tage später hole ich sie gemeinsam mit ihrer Freundin Eva aus der Schule ab. Eva stammt aus der Slowakei. Beide sitzen im Auto hinten. Ich beobachte sie und höre ihnen zu. Eva ärgert sich darüber, dass die Lehrerinnen und Lehrer in der Schule das „v“ in ihrem Namen nicht stimmhaft aussprechen. „Das bin doch nicht ich! Die meinen mich doch gar nicht!“ Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen und sage ihr, was „Eva“ – mit stimmhaften „V“ natürlich – auf Türkisch heißt – Havva. Meine Tochter und sie tauschen sich sofort aus: auf Türkisch und auf Slowakisch und darüber, wie viele Sprachen sie können, wenn sie sich gegenseitig Türkisch und Slowakisch beibringen und in der Schule Englisch und Französisch lernen werden – und wohin sie überall reisen können und wo sie überall leben können, dann, mit all den Sprachen im Gepäck. So einfach ist das! Aktuell Meinung

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MiGDISKUTIEREN (Bitte die Netiquette beachten.)

  1. Mehmet sagt:

    Sehr schöner Bericht.

    Ich wünsche deiner Tochter und allen unseren Kindern, dass Sie nicht mehr auf Grund Ihrer Herkunft ausgegrenzt werden.

    Vielleicht beginnt die Bundesregierung nach 50 Jahren bald mit ernsthafter Integrationspolitik. Nicht nur labbern, sonder Taten.

    So wie deine Tochter müssen viele Kinder sich als was anderes fühlen, minderwertig. Traurig.

  2. Leser sagt:

    Willkommen in Deutschland, Frau Kulacatan.

  3. G. Weirauch sagt:

    Ein trauriger Bericht.
    Wann wird endlich der türkische und deutsch-türkische Sündenbock nicht mehr als Druckmittel, als Demon etc. für das elende Versagen und Ablenk-
    kungsmanöver bestimmter gesellschaftlicher Interessengrupen und der Politik wirkungslos sein? ich hoffe sehr, das diese schäbige, üble entwürdi- gende Ausgrenzug schnellstens in sich zusammenbricht. Vor, in der osma- nischen Zeit und unverständlicherweise bis heute, hat Deutschland immer noch einiges Ansehen in der Türkei. Aber irgendwann, wenn es keine Wende der Sichtweisen gibt, wird leider auch noch der Rest des guten Rufes, vorrangig in der Türkei verlorengehen. Sehr traurig!

    Selamlar!

    G. Weirauch

  4. Fikret sagt:

    Das ist einfach nicht wahr. Das ist ein falsches Propaganda der manchen bekannten Medien in Deutschland. Es ist schrecklich,wie ein Kleinkind bei Meinungsmache mißbraucht wird,