Leos Wochenrückblick
Berliner Einsichten und Aussichten
Wahlprognosen. Vier türkisch-stämmige Direktkandidaten in Kreuzberg-Nordost. Heinz Buschkowsky. Sarrazin und die Aleviten. Die wahre Parallelgesellschaft. Schulkampf. Roma in Berlin.
Von Leo Brux Montag, 18.07.2011, 8:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 06.02.2020, 9:59 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Wahlprognosen
Am Sonntag, den 18. September, wählt Berlin sein Abgeordnetenhaus neu.
Berlin – das ist die Stadt mit den heftigsten Auseinandersetzungen in Sachen Migration und Integration, die Stadt mit den größten Problemen dabei, die Stadt, auf die alle schauen, die vom Multikulti-Scheitern reden.
Was halten die Bürger von Berlin politisch von dieser Sache?
Die Parteien, die das politische Geschehen in Berlin bestimmen, haben sich alle für mehr Integrationsbemühungen ausgesprochen. Bei keiner gibt es auch nur eine Strömung, die an den Rechtspopulismus eines Geert Wilders anknüpft. Die CDU hat sich entschlossen von René Stadtkewitz getrennt, als dieser seine Nähe zu dem Holländer deutlich werden ließ.
Die Umfragezahlen schwanken; sie stehen im Moment etwa so – ich nehme ungefähr das Mittel aus den letzten Umfragen der verschiedenen Institute (zum Vergleich: Zweitstimmen 2006):
CDU: um 20% (21,3%)
SPD: über 30% (30,8%)
Die Grünen: um 20 bis 25% mit Abwärtstrend? (13,1%)
Die Linke: bis zu 14% mit Aufwärtstrend? (13,4%)
FDP: um 3% (7,6%)
Sonstige (17 Parteien): zusammen zwischen 6 und 10% (13,8%, vor allem für WASG und Die Grauen)
Die jeweils aktuellen Umfragen finden Sie auf dieser Seite von wahlrecht.de
Die rechten, explizit migrationsfeindlichen Parteien werden subsumiert unter die Sonstigen. Vier konkurrieren miteinander: NPD, Die Freiheit, Bürger pro Deutschland und Die Deutsche Konservative Partei. Ihr Anteil liegt wohl jeweils etwa im Ein-Prozent-Bereich.
Die Berliner scheinen ihre Integrationsprobleme recht gelassen zu sehen und der Neigung, sie aufzublähen zu einer nationalen Katastrophenperspektive, zu widerstehen.
Vier türkisch-stämmige Direktkandidaten in Kreuzberg-Nordost
78 der 130 Abgeordneten werden mit der Erststimme direkt gewählt. Die Direktkandidaten im Berliner Wahlbezirk 3, Kreuzberg Nordost (Wahl zum Abgeordnetenhaus Berlin) sind
Muharrem Aras (SPD), 38 Jahre, Rechtsanwalt
Ertan Taskiran (CDU), 40 Jahre, Angestellter
Figen Izgin (Die Linke), 45 Jahre, Sozialpädagogin
Dr. Turgut Altug (Grüne), 45 Jahre, Agrarwissenschaftler
Alle vier stammen aus der Türkei. Das Rennen wird entschieden zwischen Aras (SPD) und Altug (Grüne). Letztes Mal war Özcan Mutlu erfolgreich. Er kandidiert nun weit oben auf der Liste der Grünen. Die CDU kommt in diesem Wahlbezirk auf wenig mehr als 10%.
Die taz hat die vier Kandidaten schon im Juni vorgestellt.
Heinz Buschkowsky – der Populist der Mitte
Kürzlich hat der populäre Neuköllner Bezirksbürgermeister den “Hildegard-Hamm-Brücher Förderpreis für Demokratie” vom Förderprogramm Demokratisch Handeln erhalten.
Neukölln-Nord gehört, wie Kreuzberg, zu den Berliner Stadtbezirken, in denen die Integration auf der Kippe steht. Anhänger wie Gegner von Horst Buschkowsky beobachten fasziniert, wie er es macht.
Das Buschkowsky-Konzept: Es geht nur über Bildungspolitik. Mit aller Macht (!) muss dafür gesorgt werden, dass die Kinder in den Kindergarten gehen, ganztags und als Pflicht, und dass sie in die Schule gehen, ganztags, und dass jedes Schulschwänzen dabei verhindert wird, auch mittels Polizei und Kindergeldkürzung, wenn es nicht anders geht. In der Schule können die Kinder dann lernen, was sie zum Leben brauchen, sie bekommen eine Ausbildungs- und Arbeitsplatzchance. Über die Familien klappt das nicht.
Die Laudatio bei der Preisverleihung hielt der SZ-Journalist Tanjev Schultz – abgedruckt ist sie in der taz. Ein kleiner Auszug:
Wer sich in Neukölln auskennt, weiß, dass die Polizei dort manchmal bitter nötig ist. Wir brauchen einen starken Staat. Seine Stärke beweist er vor allem in den Institutionen der Bildung. In den Kindergärten und Schulen, in der Jugendhilfe, in den Universitäten. Manchmal geht es aber nicht ohne Polizei.
Es darf keinen rechtsfreien Raum geben, keinen Raum, in dem das Gewaltmonopol des Rechtsstaates nicht mehr gilt. Es darf allerdings auch nicht passieren, dass Polizisten, Richter und Staatsanwälte die Ersten und Einzigen sind, die sich um einen Jugendlichen kümmern. Die Ersten, die ihm mal zuhören. Ein Staat ist stark, wenn er die Kriminalität schon im Ansatz bekämpft.
Heinz Buschkowsky kämpft für diesen starken Staat. Er kämpft dafür, dass der Staat nicht einknickt. Dass er Kinder nicht verloren gibt.
Wer auch etwas über die Kritik an Buschkowsky lesen möchte, kann einen Blick auf den Artikel in meinem Blog werfen.
Sarrazin und die Aleviten
Die Berliner Türken mögen Sarrazin nicht so besonders. Die taz berichtet kurz und witzig darüber.
Besonders spektakulär war offensichtlich die Ausladung Sarrazins durch die Alevitische Gemeinde. Deren Vorsitzender begründete die Absage:
Wer Vorurteile schüre, den könnten die Aleviten, die als religiöse Minderheit selbst seit Jahrhunderten Opfer von Vorurteilen seien, nicht in ihrem Haus begrüßen. Auch vor der Gemeinde skandierten Demonstranten: „Hau ab!“ – unter ihnen befand sich neben Grünen und Linken auch der SPD-Kandidat des Wahlkreises, Sarrazins Parteigenosse Muharrem Aras. „Antidemokratisches Verhalten“ zeigten die GegendemonstrantInnen, meinte Sarrazin: „Sie bestätigen Vorurteile!“
Das ZDF wird voraussichtlich am 22. Juli in der Sendung aspekte dazu berichten.
Die Aleviten in Deutschland sind in der Sache gespalten. Die Gegenseite vertritt zum Beispiel Cigdem Toprak in ihrem Blog.
Von ihr stammt auch ein Artikel in der Zeit, den der Aggromigrant scharf kommentiert.
In den Streit einbeziehen sollte man Hakan Turans (Andalusian) Artikel über den Besuch des Diyanet-Vorsitzenden in einem alevitischen Cemev. Der „oberste Sunnit“ der Türkei erkennt an: die Alevi sind auch Muslime.
Die wahre Parallelgesellschaft
Hier ist es nur als Scherz gemeint. Aber es ist schon mehr als ein Scherz. Der Tagesspiegel schreibt:
Der Bundespräsident bekommt sehr wohl etwas mit von der Realität jenseits von Schloss Bellevue. Er wisse, dass es in Berlin „echte Parallelgesellschaften“ gibt, sagt Christian Wulff. Zum Beispiel in dem Viertel, in dem er in Berlin wohne. Dort interessiere sich kein Mensch für andere Berliner Stadtteile wie Marzahn, Neukölln oder Wedding. Dort interessiere nur der Tennisverein. Er hat das Reizwort „Parallelgesellschaft“, mit dem Politiker, Wissenschaftler, Journalisten gewöhnlich Zugewanderte analysieren, attackieren und stigmatisieren, einfach mal gewendet. Die Zuhörer danken es ihm mit kräftigem Applaus.
Dieser Artikel über Wulffs Auftritt beim Kirchentag nimmt am Ende noch eine bemerkenswerte Wende:
Die Religion, der Islam, wird nicht mehr für schuldig erklärt, wenn Integration misslingt. Es geht viel mehr um soziale und wirtschaftliche Probleme, um Identität und um das Grundgesetz, an das sich „natürlich alle halten müssen“, wie Wulff sagt.
So dürfe es auch nicht sein, „dass Kinder unter ihren erziehungsunfähigen Eltern Schaden nehmen“. Schulschwänzen müsse Konsequenzen haben. Das Publikum hört geduldig zu, applaudiert allen auf dem Podium gleichermaßen.
Und am Ende fragt der Moderator: „Könnte es vielleicht sein, dass die Kopftuchmädchen unsere Zukunft sind?“ Weil sie fleißig seien und gewissenhaft. Und immer mehr von ihnen den Mut haben, eigene Wege zu gehen.
Schulkampf in Berlin
Berlin HAT Probleme. Eins davon sind die Schulen. Einen Fall beschreibt eine Sendung des WDR.
Bei gleicher Intelligenz hat ein Akademikerkind eine 5-mal höhere Chance das Gymnasium zu besuchen wie ein Arbeiterkind. Wohlgemerkt, bei gleicher Intelligenz. In keinem anderen europäischen Land ist dieser Unterschied so krass wie in Deutschland. Und die schlechtesten Chancen haben Kinder aus Einwandererfamilien.
Unser Bildungssystem hat versagt. Und jetzt? Jetzt wurschtelt jeder vor Ort vor sich hin und dann prallen plötzlich Welten aufeinander, die sich so fremd sind, wie sie nur sein können. …
… Die Papageno-Grundschule ist begehrt. Junge Familien aus Berlin Alt-Mitte wollen ihr Kind hier hinschicken. Alt-Mitte ist begehrte Wohngegend für Anwälte, Journalisten, Web-Menschen. Hier wählt fast jeder Zweite Grün oder Links.
1.000 Meter weiter: Die Vineta-Schule in Wedding. 92 % ihrer Schüler sind nicht-deutscher Herkunft. Ihre Eltern haben wenig Geld, dafür viele Sorgen. Zwei Drittel der Kinder hier kommen aus Hartz-IV-Familien.
Früher waren die beiden Stadtteile an der Bernauer Straße eigene Schulbezirke, also getrennte Welten. Doch vor zwei Jahren legte das Schulamt die Schulbezirke Wedding und Alt-Mitte einfach zusammen. Auch um die Schüler zu mischen. Seitdem herrscht mitten in Berlin Schulkampf.
Wie löst man so ein Problem? – Vielleicht auch dadurch, dass man genauer hinschaut. Vielleicht sind die Schüler der Vinetaschule gar nicht so viel schlechter? Das deutet jedenfalls die WDR-Monitor-Sendung an.
Roma-Schüler in Neukölln, Berlin
Noch ein Problemfeld – eines, um die Xenophoben aus dem Häuschen zu bringen: Berlin investiert Steuergeld, damit frisch eingewanderte Romakinder aus Rumänien und Bulgarien was lernen.
Seit Jahresbeginn ist die Zahl der aus Rumänien und Bulgarien zugewanderten Romafamilien sprunghaft gestiegen: 500 wohnten inzwischen im Kiez, sagt Bildungsstadträtin Franziska Giffey (SPD). Diese Zahl veranlasste das Bezirksamt von Neukölln, eine spezielle Sommerschule für die Kinder und Jugendlichen einzurichten. Deren Deutschkenntnisse sind meist unzureichend für den normalen Schulalltag. Betreut werden sie durch elf zusätzliche rumänischsprachige Lehrkräfte, die durch Gelder von Senat und Bezirk finanziert werden. Am ersten Schultag nahmen 28 Kinder an den Deutschstunden teil.
Mehrere tausend Roma leben jetzt schon in Berlin-Neukölln. Resultat der Armutswanderung. Die taz hat auch darüber wieder den besten Bericht. Aktuell Meinung
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Ich versteh die Berliner nicht. Was ist los mit denen?
Sie haben solche Probleme und wählen trotzdem links. Bei den Passdeutschen verstehe ich es, aber nicht bei den richtigen Deutschen.
Nichtberliner,
es könnte ja sein, dass sich Nichtberliner die Berliner Verhältnisse schlimmer vorstellen, als sie in Wirklichkeit sind.
Eigentlich hat Berlin keine sonderlich hohe Kriminalität, zum Beispiel. Schon mehr als Hamburg oder München, aber sonderlich dramatisch ist es nicht. Hinzu kommt, dass das, was manche beklagen, auch seine guten Seiten hat.
Was die Parallelgesellschaft der Reichen anbelangt, so ist das doch für jemand, der der Mittelschicht angehört, auffällig, wie sich die Reichen allmählich immer mehr abschotten; wie sie so reich werden, dass sie Teile unserer Infrastruktur nicht mehr brauchen, auf ihren abgegrenzten Inseln leben und den Rest verkommen lassen. Wenn die Reichen so mächtig werden, dass sie uns Normalsterbliche nur noch als Dienstpersonal udn Arbeitstiere brauchen, ist das schon eine sehr viel gefährlichere Sache für die Gesellschaft als wenn sich eine Gruppe armer Einwanderer vorübergehend mal eine Parallelgesellschaft einrichtet. Die hat keine Macht. Die mit dem Geld haben sehr viel Macht.
Das mit den Kopftuchmädchen ist mir schon oft aufgefallen: Sie sind bestens integriert, sie sind tüchtig, sie arbeiten ausgesprochen gut, sie sind auch selbstbewusst, sie lassen sich von den modernen Unterhaltungsmedien nicht so katastrophal ablenken. Vom nationalen Interesse her gehören sie zu den Stärken des Landes. Mittelfristig werden diese Frauen ihren erfolgreichen Weg gehen, trotz Diskriminierung. Und einen Teil der guten Zukunft Deutschlands ausmachen.
Eigentlich müsste grade Sarrazin diese Frauen loben: Sie sind wirtschaftlich tüchtig, sie erziehen ihre Kinder gut, sie sind bildungsorientiert, und sie setzen wenigstens zwei Kinder in die Welt. DAS ist es doch, was Sarrazin möchte und was seiner Meinung nach Deutschland braucht.
Eigentlich schade, dass dieser Typus von Frau immer nur eine kleine Minderheit bleiben wird.
Leo Brux, wieso ist ein Stadtteil wie der in dem der Bundespräsident wohnt eine Parallelgesellschaft? Da gibt es wahrcheinlich nur wenig Kriminalität und alles ist sauber und ordentlich wie es sein soll.
Wenn die Kopftuchmädchen unsere Zukunft sein sollen heißt das dass der Islam unsere Zukunft ist? Wollen Sie dass ich auswandere?
@ Leo Brux
Berlin hat keine sonderlcih hohe Kriminalität?
Natürlich kann man sich alles schön reden. Und natürlich kann man auch die Fragmentierung der Gesellschaft nach Arm und Reich, nach ethnischen und religiösen Gruppen ( Herr Mayzek tut dieses ja auch) toll finden. Aber muss dieses so nsein.
Wenn man dieses alles wirklich so will, muss man auch sagen, dass man adieu Sozialstaat sagt.
Conring,
haben London oder Paris eine hohe Kriminalität? – Sie ist deutlich höher als die von Berlin.
Soweit ich weiß, war die Kriminalität in Berlin früher auch mal höher. Die Berliner scheinen jedenfalls wegen der Kriminalität nicht auszuflippen.
Die Fragmentierung in Arm und Reich finden ja nun ich oder Mazyek NICHT toll. Da hab ich sicherlich schon eine Menge Sozialistisches drüber geschrieben hier oder auf meinem Blog. Die ethnische Fragmentierung betreiben vor allem diejenigen, die soziale Probleme ethnisieren, und dazu gehören auch Sie.
Grade ich betone hier immer wieder, dass das angeblich ethnische Problem vor allem ein soziales ist. Wollen Sie ausgerechnet MIR unterstellen, dass ich das Gegenteil behaupte? Aufgrund welcher Äußerungen?