Die gerettete Zunge

Von der schönsten Erfindung der Menschheit, dem Verständnis und dem Nachbar

Vor ca. 100 000 Jahren - als auch die körperlichen Voraussetzungen entsprechend gut entwickelt waren – begann die Geburtsstunde von etwas, ohne das wir vermutlich nicht so weit wären, wie wir es heute nun mal sind. Die Sprache.

Von Mittwoch, 23.03.2011, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 28.03.2011, 2:57 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Sie beeinflusst das Zusammenleben der Menschen, ihre Denke und ihre Gefühle. Ca. 1000 v.Chr. wurden schätzungsweise 20 000 verschiedene Sprachen gesprochen. Und heute? Obwohl die Hälfte der Weltbevölkerung bilingual ist, werden nur noch 7000 Sprachen gesprochen, allein 832 davon in Papua Neuguinea. Die Sprachendichte ist um den Äquator herum am größten, in großen Staaten hingegen ist eine sprachliche Homogenität zu beobachten.

Sprachen und bedrohte Tierarten haben etwas gemeinsam. Manche sind vom Aussterben bedroht, in manchen Regionen unserer Erde stirbt jede zweite Woche eine Sprache und damit auch das jeweilige kulturelle Erbe aus. Hauptsächlich handelt es sich dabei um Eingeborenensprachen. Auch Politiker setzen sich immer mehr und mehr für Sprachen ein. So haben erst kürzlich – gegen den Willen des Parteivorstands um Kanzlerin Angela Merkel – einiger Politiker, die eine akute Gefährdung der deutschen Sprache befürchten, einem Sprachantrag zugestimmt und gefordert, man möge doch die deutsche Sprache vorsorglich schon mal unter Verfassungsschutz stellen. Aber selbst, wenn man Sprachen wie ein Denkmal unter Schutz stellt, darf man eines nicht vergessen, Sprachen sind keine Konservendosen, Sprachen sind lebendig, sie lassen sich eben nicht konservieren, sie leben und verändern sich mit und durch den Menschen. Und sie sind verschieden, sehr verschieden.

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Wenn man sich bei manchen Sprachen die Syntax und Lexik anschaut, fragt man sich vorerst, wie können die sich überhaupt verständigen? So gibt es in zahlreichen Sprachen keine Personalpronomen. Ja kann man denn ohne das Wort „mein“ überhaupt etwas besitzen? In anderen Sprachen wiederum gibt es keine Verwandschaftsbezeichnungen und trotzdem müssen sie nicht auf Onkel und Tante verzichten. Bei anderen Sprachen hingegen fehlt der Ausdruck für „rechts“ und „links“, vermutlich fahren die nur geradeaus? In den gälischen Sprachen fehlen die Worte für „ja“ und „nein“ und trotzdem können sie ihre Zustimmung bzw. Ablehnung zum Ausdruck bringen.

Im Deutschen kennen wir neben „er“ und „sie“ – was zumindest geschlechtlich noch Sinn macht – auch noch das „es“, das somit per se jedes Mädchen geschlechtslos macht – zumindest grammatisch. Das haben die Mädchen nicht verdient. Hätte Sigmund Freud seine Schriften vom „Ich“ und „Es“ überhaupt in Türkisch verfassen können? Vermutlich nicht, zumindest nicht so wie im Deutschen, denn im Türkischen gibt es keine geschlechtliche Unterscheidung in der 3. Person Singular. Für „er“, „sie“ „es“ sagen wir einfach nur „o“.

Im Gegensatz zu Sprachwissenschaftlern, die in weltweit operierenden Instituten für den Erhalt bedrohter Sprachen kämpfen, hat die Masse der Bevölkerung keinen Sinn für solch einen „Unsinn“. Per Deklaration wird bestimmt, was gesprochen wird. Ende des 19. Jahrhunderts wurde in Frankreich mit Einführung der Schulpflicht das Bretonische verboten.

Schüler, die gegen diese Regelung verstießen, mussten zur Strafe ein Hufeisen um den Hals tragen. Schilder ermahnten: „Defense de cracher par terre et de parler de Breton“ (Es ist verboten, auf die Erde zu spucken und Bretonisch zu sprechen). Und, wenn man heute auf die Website der Herbert-Hoover-Schule in Berlin geht, findet man in der Hausordnung unter § 1, Artikel 3: „Die Schulsprache unserer Schule ist Deutsch, die Amtssprache der Bundesrepublik Deutschland. Jeder Schüler ist verpflichtet, sich im Geltungsbereich der Hausordnung nur in dieser Sprache zu verständigen.“

Auch ich habe heute mit Sprachen zu tun, aber schon damals als Kind hatte ich keine Angst vor Sprachen. Im Gegenteil. Meine Großmutter sprach arabisch, wir sind mütterlicherseits aus Dubai, in Istanbul lebend sprach sie natürlich auch türkisch. Da sie in Fener wohnte, einem ehemaligen Viertel mit vielen Griechen, hatte sie griechisch gelernt und konnte es fließend. Man muss mit seinen Nachbarn gut leben, sie können zwar türkisch sagte sie immer, aber sie freuen sich, wenn ich mit ihnen griechisch spreche.

Sprache und Mensch gehören zusammen. Man kann keinen Menschen willkommen heißen und erwarten, dass er seine mitgebrachte Sprache, wie einen Hut ablegt. Und wie heißt es so schön im Grundgesetz? „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“

Sehr schön, dann klappt das vielleicht doch noch mit den Nachbarn, selbst, wenn der im Gepäck noch eine andere Sprache mitbringt.

Mit bestem Gruß
Ihre Zerrin Konyalıoğlu Aktuell Meinung

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  1. Sinan Sayman sagt:

    Herr Bleier, man setzt sich hier in DEU für Kurdisch in der Türkei ein, wer am Arbeitsplatz aber deutsch spricht, fliegt raus. Erklären Sie uns doch bitte, den Unterschied zwischen DEU und Türkei oder der Wertigkeit von Sprachen.
    http://www.bild.de/BILD/news/vermischtes/2008/09/05/firma-witeg-aus-wertheim/erlaubt-nur-deutsch-am-arbeitsplatz.html

  2. Bleier sagt:

    Ach, ich gebs auf.

    Wenn sie daraus, dass Lehrer ihren Schülern nahe legen, sich mehr mit der deutschen Sprache zu beschäftigen, damit sie nicht zwangsläufig in einer Hartz4 Karriere landen oder wenn ein einzelnes Unternehmen in einem offenbar hochkomplexen Fertigungsprozess zur Einhaltung von Qualitätsstandard eine von allen Seiten verstehbare Kommunikation verlangt, konstruieren wollen, dass in Deutschland Sprachen systematisch unterdrückt werden, dann tut es mir Leid.

    Dann leben sie eben weiter auf ihrer Insel der Glückseeligen.

    Derweil verlassen zwar weiter tausende türkische Jugendliche die Schule, die in einer komplexen Gesellschaft allenfalls als Hilfsarbeiter für dreifüffzich die Stunde was werden, aber wenigstens haben sich die Lehrer nicht angemaßt, ihnen ihre heilige Muttersprache zu entwenden.

  3. Leon sagt:

    Während meiner Schulzeit empfahl der Englischlehrer mal die BBC oder BFBS im Radio zu hören.
    Eine Beleidigung meiner Muttersprache oder versuchte Zwangsangelisierung habe ich deshalb nicht empfunden.

  4. Sinan Sayman sagt:

    Herr Bleier, Deutschpflicht geht auch am Arbeitsplatz weiter, auch für die, die es schon können, also sie sie sollen deutsch sprechen um es lernen, zieht nicht. Warum verbietet man eine andere Sprache am Arbeitsplatz, wenn der schon deutsch kann. Tun Sie nicht so, als seinen sie um die Zukunft dieser Kinder bemüht und wollten nur ihr bestes. Deutsch sprechen, sich deutsch benehmen, deutsch denken und fühlen wird doch erwartet, damit Sie sich nicht überfremdet fühlen.

  5. Bierbaron sagt:

    @ Sinan Sayman

    Der Unterschied zwischen Kurden in der Türkei und Türken in der BRD ist der zwischen einer autochthonen und einer zugewanderten Minderheit: Kurden siedelten bereits vor der Invasion nomadisch lebender Turkvölker auf dem Gebiet der heutigen Türkei, so wie auf dem Gebiet der heutigen BRD bestimmte autochthone Minderheiten (Dänen, Friesen, Sorben) vor Gründung eines deutschen Nationalstaats hier siedelten und deshalb bestimmte Minderheitenrechte haben, die auch eine Pribiligierung bzgl. der Spracherziehung beeinhalten.

    In meinen Augen geht daher auch der Artikel an der politischen Wirklichkeit vorbei. Niemand erwartet, dass Zuwanderer ihre Sprache wie einen Hut ablegen. Nur wer auf ewig einen anderen Hut tragen möchte, darf sich nicht wundern wenn er nicht nur als anders, sondern auch als nicht zugehörig angesehen wird. Die von Frau Konyalıoğlu vertretene Spracherziehung überwindet die Distanz zwischen Türken und Deutschen nicht, sie institutionalisiert sie in einer aparten Bildungspolitik.
    Von der finanziellen Unmöglichkeit, jeder zugewanderten Minderheit ihre Sprache zu lehren, gar nicht zu reden…

    Grüße
    Bierbaron

  6. schneider sagt:

    „Warum verbietet man eine andere Sprache am Arbeitsplatz, wenn der schon deutsch kann. “

    Sinan, kapieren Sie es nicht? Das ist ja schrecklich mit Ihnen zu diskutieren. […] Mann, es soll EINE Sprache gesprochen werden, damit die Qualität im Fertigungsprozess gewährleistet ist! Ob die Türken im Pausenhof türkisch oder kurdisch oder irgendeine andere Turksprache sprechen, wird wohl dem Arbeitgeber völlig egal sein. Es geht um den die Sprache AM ARBEITSPLATZ. Wenn dort in hundert verschiedenen Sprachen gemurmelt wird, kann doch wohl keine vernünftige Kommunikation geführt werden, oder sehen Sie das anders. Nochmal: ARBEITSPLATZ. Gleiches gilt für den Unterricht und die Lehrsprache an den Universitäten.

    In unserer Firma wird ausschliesslich auf Englisch kommuniziert.Raubt mir jemand meine Sprache ( in meinem Fall teschechisch und deutsch)? Nein, niemand will mir meine Sprache rauben.

    „Deutsch sprechen, sich deutsch benehmen, deutsch denken und fühlen wird doch erwartet, damit Sie sich nicht überfremdet fühlen.“

    Deutsch sprechen können ist die Grundlage, um in Deutschland irgendetwas zu erreichen. Sehen Sie sich selbst an oder die Macher des Migazin: gebildete, mehrsprache Türken, die neben perfektem Deutsch vermutlich zum größten Teil auch perfekt Türkisch können: ideal, so sollte es sein. Man braucht seine Heimat nicht vergessen oder nicht verleugnen, man sollte aber seine Heimat nicht in der Fremde nachbauen wollen.

    Deutsch benehmen, was ist das? Deutsch denken und fühlen? Irrsinn.

  7. Sinan Sayman sagt:

    Herr Schneider, in den Mittagspausen am Arbeitsplatz sollte es erlaubt sein, in der Sprache zu sprechen, die man möchte, also kommen Sie mir nicht so daher. Wenn zwei Türken sich ein Büro teilen, ist die Aufforderung Deutsch zu sprechen albern. Auf dem Schulhof ist es den Lehrern im übrigen nicht egal, Kinder sind verpflichtet deutsch zu sprechen. Haben Sie die Hausordnung nicht gelesen, steht auf deutsch.

  8. schneider sagt:

    „„Die Wahrung unseres Qualitätsstandards bedarf einer präzisen Kommunikation. Um dies sicherzustellen, sind wir auf den Gebrauch der deutschen Sprache angewiesen. Die Anweisung bezieht sich ausschließlich auf den Fertigungsprozess. Außerhalb dessen ist es jedem Mitarbeiter freigestellt, nach Belieben jede Sprache zu sprechen“

    => aus dem verlinkten Artikel. Es geht also wie ich schon vorher erwähnt, um den Fertigungsprozess. Trösten Sie sich, ich dürfte in dieser Firma während des FERTIGUNGSPROZESSES auch nicht in meiner Heimatsprache sprechen. Werde ich oder mein Volk deswegen von den bösen, bösen, schlechten, bösen, intoleranten Deutschen diskriminiert?

    Ich habe übrigens in Spanien über mehrere Jahre vergeblich einen Job gesucht, weil mein Spanisch nicht ausreichte…. wie diskriminierend, diese Spanier. Nicht wirklich, oder?

    „Wenn zwei Türken sich ein Büro teilen, ist die Aufforderung Deutsch zu sprechen albern.“

    => Wo ist das jemals anders gewesen? Wie und warum sollte das wer unterbinden? Wo soll es ein Beispiel geben, wo man sowas umsetzen will?

    „Auf dem Schulhof ist es den Lehrern im übrigen nicht egal, Kinder sind verpflichtet deutsch zu sprechen.“

    => meines Wissens gibt es EINE Problemschule irgendwo in EINEM Problemkiez, wo sich Eltern und Lehrer darauf geeinigt haben, deutsch auch auf dem Schulhofe sprechen zu müssen. EINE EINZIGE SCHULE!!!

    Fazit: niemand in diesem Land will Euch Türken eure Nationalität rauben, eure Sprache verbieten oder sonstwie diskriminieren. Ich bin auch Ausländer, ich weiss wovon ich spreche.

  9. Zerrin Konyalioglu sagt:

    Ihnen allen vielen Dank für die rege Diskussion. Ich werde so lange das Thema kommunizieren, bis es wirklich nur noch um die Förderung der Deutschkompetenz geht, und nicht um die Abwertung sprachlicher Vielfalt. Der Schein trügt, es geht bei einigen nicht um die Sprache, sondern um Diffamierung von Minoritäten, leider. Die Verankerung von Deutsch im GG ist ein politischer Akt und das Zitat von dem Lehrerverbandspräsident Josef Kraus lässt tief blicken:

    „Wir steuern auch sprachlich auf Parallelgesellschaften zu. Berlin-Kreuzberg und Neukölln sind fast schon autarke Gebiete. Vom Gemüsehändler bis zum Zahnarzt spricht dort alles türkisch.
    Ich sehe deshalb die Festlegung auf Deutsch als Landessprache als einen wichtigen Schritt zur Integration. Wer auf diese Festlegung verzichtet, kriegt Parallelgesellschaften. … Zuwanderer sollen auch qua Verfassung merken, was dieser Staat und dieses Gemeinwesen erwarten. “
    Besten Gruß
    Ihre
    Zerrin Konyalioglu

  10. Bleier sagt:

    @Zerrin Konyalioglu

    Und womit genau liegt Herr Kraus daneben?