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Das Gästezimmer

Solidarität ist aus der Mode gekommen

Früher galten Solidarität und Hilfe als Tugenden, wer half, handelte ehrenhaft. Heute werden Menschen kriminalisiert und verklagt wenn sie Geflüchteten in Not helfen - was für eine Verschiebung.

Von Freitag, 24.05.2019, 5:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 28.05.2019, 16:11 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Der Fall Sea-Watch ist nur der letzte Akt einer Tragödie, die sich seit Jahren im Mittelmeer abspielt. Diese Tragödie, die die europäische Öffentlichkeit lange unberührt ließ, hat seit Amtsantritt der neuen italienischen Regierung einen neuen Höhepunkt erreicht und zeichnet sich durch eine unvergleichliche Kriminalisierungs- und Verleumdungskampagne aus. Obwohl die Schmutzkampagne gegenüber Hilfsorganisationen in Italien anfing, belegt eine Studie, dass gegen immer mehr Bürger in ganz Europa wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung ermittelt wird. Solidarität war früher ehrenhaft, löblich, heute ist sie nicht erwünscht. Nicht nur von den Rechten, sondern auch von Protestbewegungen jeder Couleur. Solidarität, könnte man sagen, ist außer Mode gekommen.

Doch wie kam es dazu? Die italienische Journalistin Annalisa Camilli, die für die Wochenzeitung Internazionale über das Thema Migration berichtet, hat die Schmutzkampagne gegenüber Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in ihrem Buch La Legge del Mare, das Gesetz des Meeres, rekonstruiert. Alles begann 2014, als das erste private Rettungsschiff im Mittelmeer, die Phoenix, seinen Einsatz begann, gespendet hatten zwei reiche italo-amerikanische Philanthropen. Mehrere Hilfsorganisationen – darunter Ärzte ohne Grenzen oder Save the Children, Jugend rettet – folgten dem Beispiel: sie sammelten Spenden, erwarben Schiffe, schulten die Besatzung und beteiligten sich an Rettungsaktionen. Sie konnten das Sterben nicht stoppen, senkten die Zahl der Opfer aber deutlich. Dann kam die Schmutzkampagne.

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Die Kritik an die NGOs kam zuerst von der Europäischen Grenz- und Küstenwache Frontex, die unter anderem die Rettungsschiffe als Anziehungsfaktor bezeichnete. Deren Direktor Fabrice Leggeri sagte 2017 in einem Interview mit der Welt, dass die Rettungseinsätze von Hilfsorganisationen auf den Prüfstand gehören. Die Staatsanwaltschaft der sizilianischen Stadt Catania, die in den folgenden Jahren mehrere Ermittlungen einleitete, begann über vermeintliche Verbindungen zwischen NGOs und Schleppern zu sprechen. Die italienische Politik legte nach: Luigi di Maio, aktuell Arbeitsminister der Fünf-Sterne-Bewegung, sprach von „Meer-Taxis“, Innenminister Salvini von „stellvertretenden Schleppern“. Auch die damalige Regierung der Sozialdemokraten leistete ihren Beitrag zur Schmutzkampagne, beispielsweise mit dem Verhaltenskodex für NGOs von Innenminister Marco Minniti. Den Rest erledigten die sozialen Medien, und wie üblich ging das schnell und undifferenziert rum.

Bisher endeten alle Ermittlungen gegen NGOs im Nichts. Auch die Behauptung von Frontex, Rettungsschiffe im Mittelmeer seien ein Pull-Factor für Migranten, wurde mehrmals widerlegt, unter anderem von einer Studie der Goldsmiths University of London. Danach sind schlechte Lebensbedingungen, mangelnde Perspektiven und Gewalt in den Herkunfts- und Transitländern, die zur Mittelmeerüberquerung drängen. Trotzdem sieht es nicht danach aus, als wolle die italienische Regierung ihren „Kampf“ gegen die Hilfsorganisationen beenden, im Gegenteil – ein harter Kurs, der leider breite Unterstützung findet.

Eine Studie von OpenDemocracy zeigt: Die Zahl derer, gegen die wegen Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt ermittelt wird oder die festgenommen wurden, ist in den vergangenen 18 Monaten deutlich gestiegen. Und zwar nicht nur in Italien und Frankreich, wo die meisten Fälle aufgezeichnet wurden, sondern auch in anderen europäischen Ländern wie Deutschland. Da ist zum Beispiel der Fall vom Pfarrer Christian Hartung aus dem Hunsrück (Rheinland-Pfalz). Gegen ihn wurde ermittelt, weil er zusammen mit vier Kollegen drei jungen Männern aus dem Sudan Zuflucht gewährt hatten. Kurz vor Ostern kamen die Richter zu dem Schluss, dass er sich nicht illegal verhalten hat.

Die Kriminalisierung der Solidarität geht trotzdem weiter: über Italien nach Europa, von den NGOs im Mittelmeer zu den normalen Bürgern, die sich für Migranten engagieren. Auch das ist ein Zeichen des Rechtsrucks in Europa. Auch wenn sie nicht überall mitregieren, haben rechtsradikale Parteien wie die AfD es geschafft, die öffentlichen Debatte deutlich zu verschieben. Aktuell Meinung

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