
Zwei Deutschlands
DDR im Kopf
35 Jahre nach der Wiedervereinigung ist Deutschland noch immer geteilt – nicht durch Mauern, sondern durch Bilder in unseren Köpfen – global. Die Welt sieht noch immer zwei Deutschlands.
Von Edgar Pocius Montag, 06.10.2025, 10:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 06.10.2025, 9:26 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
In Alltagsgesprächen hier in (West-)Deutschland fällt mir oft ein hartnäckiger blinder Fleck auf: Viele wissen erstaunlich wenig über die Hälfte ihres eigenen Landes, die einst die Deutsche Demokratische Republik (DDR) war. Unter jüngeren Generationen schwingt noch immer ein vages Misstrauen gegenüber „dem Osten“ mit. Fragt man, wo sie gerne studieren oder arbeiten würden, kommen die Antworten fast reflexartig: München, Hamburg oder Köln. Rostock, Dresden oder Leipzig werden dagegen selten genannt.
Diese Wahrnehmungen sind ansteckend und werden auch von Neuankömmlingen in Deutschland mühelos übernommen. Vor einigen Monaten sagte mir eine chinesische Sprachaustauschpartnerin auf Xiaohongshu (eine Art chinesisches Instagram) ganz unverblümt: „Die DDR ist arm. Vielleicht ist es besser, einen Ausbildungsplatz in Düsseldorf zu suchen?“ Doch es war ihre anschließende Reflexion, die mir im Gedächtnis blieb: „Die Spaltung Deutschlands existiert nicht nur in den Köpfen der Deutschen, sondern auch in den Köpfen der Welt.“ Auch die Wörter „DDR“ und „arm“ brannten sich mir ein. Die politisch nicht korrekte Ehrlichkeit einer Außenseiterin sprach offen aus, was in Deutschland oft unausgesprochen bleibt.
Sie hat recht. Diese Teilung ist mehr als ein innerdeutsches Problem – sie ist in die globale Identität Deutschlands eingeschrieben.
Wiedervereinigung oder Übernahme?
Auf dem Papier war das Ereignis von 1990 eindeutig: Wiedervereinigung. Es war ein Prozess, der durch Verträge geregelt wurde, getragen von Volksbewegungen wie dem ostdeutschen Ruf „Wir sind das Volk“ und abgesegnet von der internationalen Gemeinschaft.
„Viele fühlten sich wie Migranten im eigenen Land.“
Doch für viele Ostdeutsche klafften zwischen den juristischen Formalitäten und ihrer gelebten Realität Welten. Was im Westen als freudiges Wiedersehen gefeiert wurde, empfanden viele im Osten als Übernahme. Fast über Nacht wurden ihre Institutionen – von Schulen und Universitäten bis hin zu ganzen Industrien – aufgelöst und ersetzt. Mit der Schließung der Betriebe und dem Verlust der Lebensgrundlagen setzte sich eine subtile, aber verheerende Botschaft fest: „Deine Vergangenheit, deine Fähigkeiten, dein Leben – all das zählt hier nicht.“ Viele fühlten sich wie Migranten im eigenen Land.
Aus meinen eigenen Erfahrungen mit Menschen aus der ehemaligen DDR weiß ich: Ihre Mentalität ähnelt oft jener von Menschen aus Osteuropa, die unter dem Eisernen Vorhang gelebt haben. Nicht selten wird die DDR-Erfahrung mit einer Art „Migrationshintergrund“ verglichen. Allerdings erschwert die in Teilen gepflegte Opferrolle die Selbstermächtigung, da Verantwortung an das „System“ abgegeben wird.
Die Historikerin Patrice G. Poutrus schreibt hierzu:
„Schon deshalb sind die Ostdeutschen keine Migrant:innen im eigenen Land, denen ihre Heimat verlustig gegangen ist, wie wiederholt formuliert wurde. Von manchen ostdeutschen Akteur:innen wurde sogar die These aufgestellt, die ostdeutschen Länder seien eine Art Kolonie des Westens. Beide Behauptungen vereinfachen die Verhältnisse in Vergangenheit und Gegenwart auf höchst problematische Weise, wenn z. B. aus disparaten Tatbeständen wie Elitenbildung und Eigentumsstruktur in der ostdeutschen Gesellschaft die Forderung nach einer Solidaritätsgemeinschaft ‚der Ostdeutschen‘ begründet wird. So werden die Gegensätze und Konflikte in Ostdeutschland weitgehend ignoriert. Und das Opfer-Narrativ in Ostdeutschland wird nur bestätigt. Dies ist umso problematischer, wenn man bedenkt, dass es letztlich besonders den Rechtsradikalen in die Hände spielt, denn es stützt deren Vorstellung von Gleichheit nach Herkunft, die darüber entscheidet, wer welche soziale Unterstützung und gesellschaftliche Anerkennung verdient.“
Das Erbe einer gebrochenen Einheit
Die Folgen dieser schmerzhaften Integration sind keine historischen Fußnoten; sie prägen das Deutschland von heute.
„Niedrigere Renten, weniger Vermögen und ein greifbares Gefühl des Zurückgelassenseins.“
Der ökonomische Unterschied ist nach wie vor deutlich. Zwar wurde die Infrastruktur modernisiert, doch ein erhebliches Wohlstands- und Chancen-Gefälle bleibt bestehen. Ostdeutsche Löhne liegen im Durchschnitt noch immer rund 16,5 Prozent unter denen des Westens. Das ist nicht nur eine Zahl – es bedeutet niedrigere Renten, weniger Vermögen und ein greifbares Gefühl des Zurückgelassenseins, trotz jahrzehntelanger offizieller „Einheit“.
In den Jahren nach der Wiedervereinigung vollzog sich eine leise demografische Krise. Ambitionierte junge Menschen, insbesondere Frauen, wanderten in Scharen nach Westen, um zu studieren und Karriere zu machen. Dieser „Brain Drain“ hinterließ viele ostdeutsche Städte mit einem unausgeglichenen Geschlechterverhältnis, einem ausgedünnten sozialen Gefüge und einer Generation, die mit Einsamkeit und Perspektivlosigkeit kämpfte.
In den Machtzentren Berlins, Frankfurts oder Düsseldorfs sind Ostdeutsche auffallend unterrepräsentiert. In Medien, Politik und Vorstandsetagen sind die Stimmen und Lebenserfahrungen der Ossis selten diejenigen, die die nationale Erzählung prägen. Wenn die eigene Geschichte kaum erzählt wird, ist es leicht, sich wie ein Bürger zweiter Klasse im eigenen Land zu fühlen.
Die Politik des Protests
Aus diesem Nährboden wirtschaftlicher Sorgen und kultureller Marginalisierung bezieht die Alternative für Deutschland (AfD) ihre Stärke im Osten.
Für viele ihrer Wähler ist die AfD weniger eine stringente ideologische Bewegung als vielmehr ein Vehikel des Protests – ein lauter, deutlicher Ausdruck der Ablehnung gegenüber einem politischen Establishment, das sie seit Jahrzehnten ignoriert fühlen. Bei der Bundestagswahl 2021 wurde die AfD in mehreren ostdeutschen Wahlkreisen stärkste Kraft, oft mit über 30 Prozent der Stimmen. Ihr Erfolg ist ein mächtiges Zeugnis für den unvollendeten Zustand der deutschen Einheit und bietet eine Erzählung, die Ressentiments bestätigt und eine marginalisierte Identität aufwertet.
Meiner Einschätzung nach spielt die AfD dabei gezielt mit völkischen Denkmustern, die im Osten auf besonders fruchtbaren Boden fallen. Viele Ostdeutsche haben – ähnlich wie Menschen aus Osteuropa – Jahrzehnte lang unter dem Eisernen Vorhang gelebt, in einer Gesellschaft, die von Isolation geprägt war und in der der Kontakt mit Fremden stark begrenzt blieb. Dieses historische Erbe erklärt, warum nicht nur Teile der ostdeutschen Bevölkerung, sondern auch viele Migrant:innen aus Osteuropa sich von den einfachen Identitätsangeboten der AfD angesprochen fühlen.
Eine Spaltung in der globalen Vorstellung
Damit komme ich zurück zur Beobachtung meiner Austauschpartnerin. Die deutsche Spaltung ist nicht nur ein inneres, sondern auch ein globales Bild. Wenn die Welt an Deutschland denkt, sieht sie Schloss Neuschwanstein, die Frankfurter Skyline oder das Münchner Oktoberfest. Der Osten, falls er überhaupt wahrgenommen wird, erscheint oft als Stereotyp von Industrieverfall oder politischem Extremismus.
„Die physische Mauer ist verschwunden, doch die Mauern in den Köpfen bestehen fort.“
Selbst 35 Jahre nach dem Fall der Mauer haftet die ehemalige DDR in der globalen Vorstellung noch immer als Ort der Armut, des Niedergangs und der Andersartigkeit. Die Landkarte des Kalten Krieges ist weiterhin unauslöschlich im mentalen Weltatlas eingeprägt.
Das unvollendete Projekt der Einheit
Der Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober ist daher zugleich Feier und ernüchternde Erinnerung an ein unvollendetes Projekt. Die physische Mauer ist verschwunden, doch die Mauern in den Köpfen – und in der weltweiten Wahrnehmung – bestehen fort.
Meiner Meinung nach wäre ein entscheidender Schritt, um die Einheit voranzutreiben, mehr Selbstermächtigung und Reflexion seitens der Ostdeutschen, um das Bild über sich selbst neu zu definieren. Gleichzeitig braucht es eine kluge Kommunalpolitik, die bessere Infrastruktur schafft und die Region wirtschaftlich attraktiver macht. Nur so kann das Ost-West-Gefälle dauerhaft überwunden werden. Meinung
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