
35 Jahre Einheit
Die Mauer fiel uns auf den Kopf
Deutschland feiert 35 Jahre Einheit. Viele Menschen mit Migrationserfahrung knüpfen etwas anderes daran: Brandsätze, Evakuierungen, „No-go-Areas“, später der NSU – und heute hohe AfD-Werte im Osten. Die Geschichte der Einheit hat einen blinden Fleck.
Von Birol Kocaman Mittwoch, 01.10.2025, 15:59 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 02.10.2025, 8:00 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Die Einheitsraketen leuchten bis heute. Für viele von uns war das Licht jedoch das von brennenden Häusern. Der Jubel der Nation – und die Sirenen der Feuerwehr. Das ist keine Pointe, das ist Erinnerung.
Hoyerswerda, September 1991: tagelange Angriffe auf Vertragsarbeiter und Asylsuchende; am Ende werden die Betroffenen aus der Stadt herausgefahren, Rechtsextreme feiern „ausländerfrei“. Das war eine Zäsur – und ein Fanal.
Rostock-Lichtenhagen, August 1992: das Pogrom vor laufenden Kameras. Molotowcocktails gegen das Sonnenblumenhaus, Tausende klatschen, der Staat schaut zu spät hin. Danach folgten Mölln und Solingen. Und im politischen Berlin folgte der sogenannte Asylkompromiss – die Einschränkung von Grundrechten als Antwort auf Pogrome.
Die nackten Zahlen jener Jahre sprechen eine deutliche Sprache: 1992 registrierte das BKA 6.336 „fremdenfeindliche“ Straftaten, 1993 sogar 6.721. Zeitgenössische Analysen dokumentieren den sprunghaften Anstieg schon 1991. Das war keine Randnotiz; das war Alltag.
„Rechtsextreme propagierten ’national befreite Zonen‘ – de facto ‚No-Go-Areas‘ für Migrant:innen und People of Color. Der Begriff ‚Baseballschlägerjahre‘ steht bis heute.“
Dazu kam die Drohkulisse im Raum: Rechtsextreme propagierten „national befreite Zonen“ – de facto „No-Go-Areas“ für Migrant:innen und People of Color. Der Begriff „Baseballschlägerjahre“ steht heute für diese Welle rechter Gewalt nach der Vereinigung.
Wer die 2000er „befriedet“ fand, verwechselte Stille mit Aufklärung. In Thüringen formierte sich der NSU aus einem Milieu, das in der Nachwendezeit gewachsen war; untergetaucht wurde im benachbarten Sachsen (Jena/Chemnitz/Zwickau). Der Rest ist eine blutige Liste von Morden, Bomben, Banküberfällen – und ein Staatsversagen, das Untersuchungsausschüsse bis heute beschäftigt.
„Wer hat verloren? Schauen wir in die Statistik der Toten. Unabhängige Recherchen zählen mindestens 221 – plus Verdachtsfälle.“
Wer hat verloren? Schauen wir in die Statistik der Toten. Die Bundesregierung erkennt heute 117 rechte Mordopfer seit 1990 an; unabhängige Recherchen der Amadeu-Antonio-Stiftung zählen mindestens 221 – plus Verdachtsfälle. Hinter jeder Zahl ein Name, eine Familie, ein leeres Zimmer.
Und heute? In Ostdeutschland erzielt die AfD – von Verfassungsschutzämtern teils als gesichert rechtsextrem eingestuft – seit Jahren ihre stärksten Werte. 2024 wurde sie in Thüringen stärkste Kraft; in Sachsen lag sie knapp hinter der CDU; in Brandenburg knapp hinter der SPD. Das ist kein Osten-Bashing. Das ist eine nüchterne Feststellung über politische Kräfteverhältnisse – mit Konsequenzen für alle, die sichtbar „nicht-deutsch“ gelesen werden.
Zur Wahrheit gehört: Rassismus ist gesamtdeutsch. Aber: Die Nachwendedynamik hat im Osten besonders harte Räume und Rituale geformt – und viele von uns haben gelernt, Landkarten nicht nach Sehenswürdigkeiten, sondern nach Sicherheitszonen zu lesen.
„Ohne die Perspektive derjenigen, die nach 1990 zu Zielscheiben wurden, bleibt die Einheitsgeschichte unvollständig.“
Die Einheit? Für Menschen mit Migrationserfahrung war sie oft ein Stresstest auf offener Bühne: erst Angst, dann Abwertung, dann Aushandlung – und viel zu selten Anerkennung. Der Satz „Wir sind ein Volk“ blieb zu oft eine Einladung mit Sternchen: gültig nur für die, die als „wir“ durchgehen.
35 Jahre danach wäre ein ehrliches Fazit fällig: Ohne die Perspektive derjenigen, die nach 1990 zu Zielscheiben wurden, bleibt die Einheitsgeschichte unvollständig. Wer feiern will, muss auch aufzählen. Wer Zukunft will, muss schützen – Häuser, Menschen, Rechte. Leitartikel Panorama
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