Lia Petridou, MiGAZIN, Journalistin, Kommunikation, ndo, neue deutsche medienmacher
Lia Petridou © privat, Zeichnung: MiGAZIN

Gute Tote, schlechte Tote

Einmal Narrative Change, bitte!

Im Streit um Israel und Palästina prallen schrille Fronten aufeinander. Zwei Lager dominieren, während Empathie und Dialog an den Rand gedrängt werden – ein Muster unserer polarisierten Gesellschaft am Beispiel Jouanna Hassoun.

Von Montag, 18.08.2025, 11:32 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 18.08.2025, 11:32 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Jouanna Hassoun ist eine palästinensisch-deutsche Aktivistin, die seit fast zwei Jahrzehnten Bildungs- und Dialogarbeit zu Israel/Palästina leistet. Bekannt wurde sie durch ihr Engagement für Verständigung zwischen jüdischen und palästinensischen Communities in Deutschland sowie durch humanitäre Hilfsaktionen für Gaza. In der aktuellen Debatte ist sie zur Projektionsfläche für Bewunderung und gleichzeitig auch heftige Kritik geworden.

„Narrative Change“ ist der heiße Scheiß. Auch und gerade in „unseren Communities“. Wer sich wie ich gern überall und nirgends einsortiert und nach fast 20 Jahren außerhalb Deutschlands den Drang verloren hat, die Welt in beigefarbene Schächtelchen zu ordnen und sie mit Nummern zu versehen, bekommt mitunter Probleme.

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Davon kann Jouanna Hassoun – Aktivistin, Gelehrte und Mensch – dieser Tage ein Liedchen singen. Denn: das klare Bekenntnis zu den Fronten, zum ausschließlichen Dogma, ist unabdingbar geworden. Wer in den Sozialen Medien am schrillsten und schlichtesten lamentiert, mit Buzz Words den Cyber Mob in Wallung zu bringen versteht, gewinnt. Wer abwägt, verliert.

„Wer in den Sozialen Medien am schrillsten und schlichtesten lamentiert, mit Buzz Words den Cyber Mob in Wallung zu bringen versteht, gewinnt. Wer abwägt, verliert.“

Das bekommt Jouanna Hassoun im Augenblick zu spüren. Ihre Vergehen: Menschlichkeit und Empathie und das, was die US-Amerikaner:innen „Resourcefulness“ nennen. Es wird ihr unterstellt: Karrierismus und Kalkül, auch und nicht minder lautstark von „unseren Communities“.

Abgesehen davon muss sie sich zeitgleich auch noch mit Israelfundis und Hamas-Liebhaber:innen abmühen. Die Ersten bewerten jegliche humanitäre Regung Palästinenser:innen gegenüber als Verrat an der vielfach zitierten und häufig instrumentalisierten „deutschen Staatsräson“ und als Gesinnungsverschwisterung mit der Hamas. Für die Zweiten ist das Massaker des 07. Oktober selbstredend „Teil des palästinensischen Befreiungskampfes“ und die Zunahme antisemitischer Übergriffe in Deutschland und das Benennen derselbe Teil einer mehrheitsgesellschaftlichen Public-Relations-Kampagne zugunsten der „jüdischen Weltverschwörung“.

„Menschenopfer werden einer Hierarchie unterworfen. Gute Tote, schlechte Tote.“

Hassoun hat es also vermehrt mit Fronten zu tun, die die Polarisierung und gesellschaftliche Division auf Kosten von Menschenleben und Frieden billigend in Kauf nehmen. Dabei werden Menschenopfer konsequenterweise einer Hierarchie unterworfen. Gute Tote, schlechte Tote. Es wird darum immer klarer: Wir alle benötigen dringend einen „Narrative Change“.

Die Erzählung ist kurz und prägnant: Hassoun arbeitet seit ca. 20 Jahren zu Israel/Palästina, sie hat palästinensische Wurzeln, sie glaubt an einen palästinensisch-israelischen Dialog, den sie mitnichten kritikfrei führt, gerade, auch wenn es um die Versäumnisse zweier Bundesregierungen geht, und sie schafft es seit Mai dieses Jahres, trotz aller logistischen, rechtlichen und humanitären Widrigkeiten, Lebensmittel und Medikamente nach Gaza zu transportieren.

Interessanterweise gefällt das nicht allen in Deutschland. Es gefällt unter anderem auch denen nicht, die für sich die Deutungshoheit des Krieges beanspruchen. Sie unterstellen Hassoun Opportunismus, weil sie selbstredend den politischen Friedensplan für diesen mörderischen Konflikt schon seit Jahrzehnten in der Schublade haben. Und allein diese Tatsache könnte perfider nicht sein.

„Die intrinsische Motivation der selbstlosen Güte und das Handeln nach dem eigenen Gewissen existiert letztendlich gar nicht (mehr).“

Wenn ich diese Argumentation nämlich zu Ende dächte, und es drängt sich mir bisweilen der Eindruck auf, dass zu Ende denken dem Zeitgeist nicht mehr entspricht, müsste ich davon ausgehen, dass die intrinsische Motivation der selbstlosen Güte und dem Handeln nach dem eigenen Gewissen letztendlich gar nicht (mehr) existiert. Diese Annahme entspricht in seinen Grundzügen dem ausgesprochen hässlichen „Gutmenschen“-Narrativ.

„Wie kaputt und zynisch ist eine Gesellschaft, in der Empathie oder das empathische Handeln häufig mit Argwohn und Neid belauert wird?“

Wie kaputt und zynisch ist eine Gesellschaft, in der Empathie oder das empathische Handeln häufig mit Argwohn und Neid belauert wird? In der ich Anderen die Maßstäbe der eigenen Moral und „Haltung“ aufzwinge und wenn diese Menschen meinen Vorstellungen, oder schlimmer, der Vorstellung des Kollektivs nicht entsprechen, werden sie angegangen, sei es öffentlich oder mittels verdeckter, übler Nachrede. Ich meine mich erinnern zu können, dass dafür vor einigen Jahren der Begriff „Mobbing“ etabliert wurde.

Menschen, die zurzeit den Dialog suchen, stehen oft unter Generalverdacht. Und natürlich geht es den harschesten Kritiker:innen dabei immer auch um das eigene politische Renommee. Um die Aufteilung des Öffentlichkeitsterritoriums, das Erringen des sozialen Kapitals, die lauteste Stimme in den digitalen Räumen.

Mir müsste jetzt eigentlich nur noch jemand abschließend erklären, inwiefern es humaner ist, eine verbiesterte Verbalschlacht von der Wohnzimmercouch in Wanne-Eickel aus zu führen, statt palästinensische Kinder mit Nahrung und Medizin zu versorgen. Meinung

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