
„Gerechtigkeit für Lorenz“
Rassismus-Debatte nach tödlichen Polizei-Schüssen entflammt
Nach den tödlichen Polizeischüssen in Oldenburg auf einen 21-jährigen Schwarzen sind viele Fragen ungeklärt. Warum gibt es keine Aufnahmen aus Bodycams? Und warum ermitteln Polizisten gegen ihre eigenen Kollegen? Der Fall bewegt viele Menschen.
Sonntag, 27.04.2025, 16:16 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 27.04.2025, 16:16 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Mehr als eine Woche nach dem gewaltsamen Tod von Lorenz A., ein junger Schwarzer Mann, durch Polizeischüsse in der Oldenburger Fußgängerzone sind noch immer viele Fragen offen – manche Umstände stoßen auf Unverständnis. Eine Initiative von Menschen mit Migrationshintergrund sieht in den Schüssen auf den 21-Jährigen den Beleg eines systemimmanenten Rassismus in der Polizei. Kritik gibt es zudem wegen fehlender Aufnahmen von den Bodycams der Einsatzkräfte.
In den sozialen Medien fordern Menschen lückenlose Aufklärung und Gerechtigkeit, die Stimmung ist aufgeheizt. Auch im Stadion des FC Bayern München bewegte der Fall die Menschen. „Rassistische Mörderbullen ermitteln gegen rassistische Mörderbullen“ und „Gerechtigkeit für Lorenz“ war während des Bundesliga-Spiels des deutschen Fußball-Rekordmeisters gegen Mainz auf Bannern im Stadion zu lesen.
Kritiker: Das Fehlen von Bodycam-Aufnahmen ist ein Skandal
Ein Polizist hatte in der Nacht zu Ostersonntag fünfmal in Richtung des 21-Jährigen geschossen. Laut Obduktion wurde Lorenz an der Hüfte, am Oberkörper und am Kopf verletzt. Drei Schüsse trafen ihn von hinten, ein vierter Schuss soll ihn am Oberschenkel gestreift haben. Der 27 Jahre alte Schütze wurde vorläufig suspendiert. Die Staatsanwaltschaft Oldenburg führt gegen den Beamten ein Verfahren wegen Totschlags. Beides ist in solchen Fällen üblich. Kritisch bewertet wird, dass die benachbarte Polizei-Dienststelle Delmenhorst die Ermittlungen übernimmt. Das Mobiltelefon des betroffenen Polizisten wird geprüft, der polizeiliche Funkverkehr aus der Nacht ausgewertet. Am Sonntag gab es zunächst keine neuen Erkenntnisse der Behörden.
Aufnahmen der Bodycams der Polizisten, die bei dem Einsatz dabei waren, stehen nicht zur Verfügung, weil die Geräte nicht eingeschaltet gewesen seien, hieß es von den Ermittlern. „Nach meiner Einschätzung hätte die Kamera in diesem Fall eingeschaltet sein müssen“, sagte der Anwalt von Lorenz‘ Mutter, Thomas Feltes, der „HAZ“. Eine laufende Kamera hätte dem Juristen zufolge einen präventiven Effekt haben können.
„Müssen System umfassend in den Blick nehmen“
Dass Polizisten zwar Bodycams trugen, aber nicht eingeschaltet hatten, bezeichnete Rafael Behr von der Akademie der Polizei Hamburg bei RTL/ntv als „Skandal“. In der Rückschau seien schon so viele Dinge passiert, für welche die Bodycam hätte Aufklärung bringen können.
Der Kriminologe Tobias Singelnstein kritisiert einen anderen Aspekt der polizeilichen Ermittlungen. „Ermittlungen durch die benachbarte Dienststelle ist das schlechteste Modell, was wir in Deutschland haben“, sagte Singelnstein der Deutschen Presse-Agentur. „Es gibt Bundesländer, die einen Schritt weiter sind und spezialisierte Dienststellen geschaffen haben, die beim Landeskriminalamt angesiedelt sind oder sogar ganz selbstständig sind.“
Kriminologe: unvoreingenommene Ermittlung kann schwierig sein
Aus Sicht des Kriminologen sind Ermittlungen von Polizisten in benachbarten Dienststellen eine problematische Konstellation. „Man muss gar nicht davon ausgehen, dass aktiv versucht wird, die Beschuldigten zu bevorteilen“, meint der Professor für Kriminologie und Strafrecht von der Goethe-Universität Frankfurt. „Nur wenn man selbst diese Situation oder sogar den Beschuldigten kennt, geht man mit einem anderen Verständnis an so ein Verfahren heran. Es ist dann schwierig, völlig unvoreingenommen zu sein.“
Die tödlichen Schüsse müssten kritisch untersucht werden. „Man wird sich sehr genau anschauen müssen, warum dieser Einsatz so eskaliert ist und was dazu beigetragen hat, dass es so eskaliert ist“, sagte Singelnstein. Die meisten Ermittlungen gegen Polizisten wegen rechtswidriger Gewalt werden schließlich eingestellt, wie der Forscher berichtet. „Nur etwa zwei Prozent der Fälle kommen am Ende vor Gericht.“
Nach Angaben der Ermittler hatte der Deutsche zuvor vor einer Diskothek Reizgas versprüht und mehrere Menschen leicht verletzt. Dann flüchtete er. Als Streifenpolizisten ihn hätten stellen wollen, sei er bedrohlich auf die Beamten zugegangen und habe Reizgas in ihre Richtung gesprüht.
Opfer zu Täter gemacht
„Ich frage mich tatsächlich, wie viele Leute eigentlich noch sterben müssen, dass man nicht nur von Einzelfällen spricht, sondern dass wir wirklich mal das System umfassend in den Blick nehmen, um solche Dinge zu verhindern“, sagte Tahir Della aus dem Vorstand der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) der Deutschen Presse-Agentur.
Er halte es für unfassbar, dass nach wie vor eine solche Tat geschehen könne, sagte Della. Immer noch würden nach solchen tödlichen Polizeieinsätzen von Medien und der Polizei nach Rechtfertigungen gesucht. „Dann werden die Opfer von Polizeigewalt zu Tätern stigmatisiert“, kritisierte Della. Es sei falsch, nur dann von rassistischen Handlungen zu sprechen, wenn man jemanden eine rassistische Haltung nachweisen könne oder ein Mensch eine rassistische Motivation offen zugebe.
Grünen-Politiker fordert Aufklärung
Der Tod des 21-jährigen Lorenz mache ihn betroffen, sagte der Grünen-Vorsitzende, Felix Banaszak. Der Co-Parteichef sagte der Deutschen Presse-Agentur: „Bei Menschen, die Rassismus, Diskriminierung und Ausgrenzung ausgesetzt sind, lösen solche Fälle existenzielle Ängste aus, sie sind verunsichert und erschüttert.“
Denn für sie gelte: „Sie wissen nicht, ob sie sich darauf verlassen können, dass sie hier sicher sind, dass sie dem Staat und seinen Institutionen vertrauen können“. Er betonte, die Polizei leiste tagtäglich wichtige Arbeit für die Gesellschaft. Es sei aber wichtig, dass „jegliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Maßnahme restlos ausgeräumt und der Fall haarklein aufgearbeitet“ werde.
Tausende fordern bei Demo Aufklärung
Zu einer Kundgebung und Demonstration in der Oldenburger Innenstadt waren am Freitag Tausende gekommen. Es waren Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Hautfarbe. Sie fragten sich: Warum musste dieser junge Mann sterben?
Viele hielten Schilder hoch. „Er wurde ermordet. Kein Vergeben. Kein Vergessen.“ Andere formulierten mit Fragezeichen: „Tödliche Gewalt? Oder tödlicher Rassismus?“ Aus Sicht von ISD-Vorstand Della ist es nun notwendig, dass ein Verhalten wie das des Schützen in Oldenburg für die Polizeibeamten wirkliche Konsequenzen habe. Es sei nicht damit getan, sie in den Innendienst zu versetzen oder sie für ein paar Wochen vom Dienst zu suspendieren. „Es muss wirklich eine handfeste Bestrafung und eine handfeste Verfolgung von solchen Fällen geben“, sagte Della.
Nach der Demonstration sprach die Polizei von einem weitgehend störungsfreien Verlauf. Polizeivizepräsident Arne Schmidt sagte: „Der Tod von Lorenz A. bewegt viele Menschen zutiefst – auch innerhalb der Polizei.“
„Gerechtigkeit für Lorenz“ in sozialen Medien
In den sozialen Medien wächst derweil der Unmut. Viele befürchten, dass die Schüsse auf den Schwarzen einen rassistischen Hintergrund haben könnten. Unter den Hashtags #gerechtigkeitfürlorenz und #justiceforlorenz mehren sich Stimmen gegen Polizeigewalt und Rassismus. „Das war kein Einzelfall – das war tödliche Polizeigewalt“, heißt es etwa auf Instagram. Oft zu sehen ist ein Foto des Toten mit dem Zitat: „Wer vier Schüsse von hinten abgibt, will nicht stoppen – sondern töten!“
Zahl tödlicher Polizeischüsse 2024 auf Höchststand
Die Innenministerkonferenz der Bundesländer veröffentlicht jedes Jahr eine neue Statistik zum polizeilichen Schusswaffengebrauch des Vorjahres. In Deutschland ist die Zahl tödlicher Polizeischüsse im Jahr 2024 auf einen Höchststand gestiegen. Nach einer Auswertung von Polizeiberichten durch die Deutsche Presse-Agentur starben 2024 bundesweit 22 Menschen bei Schusswaffengebrauch durch die Polizei.
Die Fachzeitschrift „CILIP – Bürgerrechte & Polizei“ dokumentiert die Todesfälle und Hintergründe ab dem Jahr 1976 und gleicht diese mit Statistiken der Innenministerkonferenz ab. In den Vorjahren lag die Zahl deutlich niedriger: 2023 waren es zehn, 2022 elf und 2021 acht Tote. Insgesamt starben seit 2015 141 Menschen an tödlichen Polizeischüssen. (dpa/mig) Leitartikel Panorama
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