
Kolonialgeschichte im Unterricht
Kamerun wagt wenig Kritik an deutschen Kolonialisten
Am 20. April 1885 starb Gustav Nachtigal, der Kamerun zur deutschen Kolonie machte. In Douala steht bis heute ein Denkmal für ihn. Dekoloniale Ansätze erhalten kaum Raum.
Von David A. Fischer Samstag, 19.04.2025, 10:12 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 17.04.2025, 20:12 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Unter einem mit reifen Früchten behangenen Mangobaum in Kameruns Wirtschaftsmetropole Douala hat der Lehrer Genesis Ntari seine Klasse versammelt. Im Halbkreis stehen die Sekundarschüler:innen um einen Obelisken, auf dessen Vorderseite das Antlitz von Reichskommissar Gustav Nachtigal prangt. Ntari hält einen kurzen Vortrag und lässt dabei am Satzende immer eine hörbare Pause, damit die Klasse im Chor mit einstimmen kann: „Am 12. Juli 1884 annektierten die Deutschen…“ „…KAMERUN!“ „Dieses Denkmal erinnert daran. Hier hissten sie die deutsche…“ „…FLAGGE!“
Auch 140 Jahre nach dem Tod von Gustav Nachtigal steht in Kameruns größter Stadt ein Denkmal für den Mann, der lokale Könige zwang, ihr Land an deutsche Händler zu überschreiben. „Wir sagen nicht, dass Kolonialismus eine schlechte Sache ist. Kolonialismus hatte positive und negative Aspekte“, sagt der Lehrer Ntari. Das ist die Schlagrichtung, die die Geschichtsbücher in Kamerun vorgeben. Straßen, Schienen und wirtschaftliche Entwicklung auf der einen Seite, Enteignung, Zwangsarbeit und rassistische Gewaltherrschaft auf der anderen.
Als Nachtigal 1884 als Gesandter von Reichskanzler Otto von Bismarck nach Kamerun aufbrach, hatte er bereits Expeditionen nach Tschad, Sudan und Algerien unternommen. Er galt als angesehener „Afrikaforscher“. Das Gebiet rund um sein Denkmal, gehörte damals den Königen Bell und Akwa. Deutsche Händler hatten sich dort niedergelassen und forderten militärische Rückendeckung durch das Reich. Mit Kanonenbooten lief Nachtigal schließlich in die Kamerunbucht ein und erklärte das Deutsche Reich zur Schutzmacht.
Ausbeutung und Demütigung
Was folgte waren 32 Jahre Kolonialverbrechen, Ausbeutung und Demütigung unter der kleinen deutschen Minderheit, die das Land wirtschaftlich und politisch dominierte. Im Ersten Weltkrieg übernahmen Frankreich und England die Kolonie, bis sich das geteilte Kamerun schließlich 1960 bzw. 1961 unabhängig erklärte und vereinigte. All das erlebte Nachtigal nicht mehr. Er starb am 20. April 1885 – nur Monate nachdem er in Douala die Reichsflagge gehisst hatte – an Bord eines Marineboots an Malaria.
Neben reaktionärem Kolonialrevisionismus, der seit dem Nationalsozialismus fortbesteht, gibt es in Deutschland heute viel Kritik an Nachtigals Vermächtnis. Ein Gutachten der Afrikanistikprofessorin Marianne Bechhaus-Gerst kam 2023 zu dem Schluss, er habe „das ‚koloniale Projekt‘ des Deutschen Reichs unterstützt“ und Vertragspartner mit „Gewalt, Geiselhaft und Unterdrucksetzung“ bedroht. Die Bezirksvertretung von Köln-Nippes hat seitdem beschlossen, die Nachtigal-Straße umzubenennen. Im Berliner Wedding ist der ehemalige Nachtigal-Platz bereits nach dem kamerunischen Widerstandskämpfer Rudolf Manga Bell benannt. Zuletzt verschwand im Dezember 2024 in Stendal unweit von Nachtigals Heimatort seine Büste aus einem Park. Der Bürgermeister spekulierte über politischen Aktivismus.
Dekoloniale Vorstöße unliebsam
In Kamerun sind die Bedingungen für solche Aktionen schwieriger. Menschenrechtsorganisationen dokumentieren immer wieder, wie die Behörden unter dem seit 43 Jahren amtierenden Präsidenten Paul Biya politische Aktivist:innen verhaften und verschwinden lassen. Für dessen Regierung ist Deutschland eins der wichtigsten Partnerländer. Dekoloniale Vorstöße über ein gewisses Maß hinaus gelten als diplomatisch unliebsam. Einen politischen Affront will sich die Regierung nicht leisten.
Koloniale Kontinuitäten beobachtet der Historiker Roland Ndille von der Universität Buea auch im Geschichtsunterricht. In Schulen würde die deutsche Besatzungszeit als goldenes Zeitalter der Entwicklung präsentiert, als Teil einer zivilisatorischen Mission. „Im Lehrbuch steht, dass die Deutschen Plantagenarbeiter rekrutiert haben. Aber sie sprechen nicht über die Rahmenbedingungen. Hier wurde ein Dorf an einem Tag komplett zerstört. Wer konnte, ist in den Wald geflohen. Dann unterzeichneten sie einen Vertrag, der sie verpflichtete, den Deutschen 200 Elefantenstoßzähne zu zahlen. Stell dir vor, du wächst auf und hast nie einen Elefanten gesehen, weil sie die Elefanten töten mussten, um die Kriegsentschädigungen zu bezahlen. Und danach musst du deine Söhne als Arbeiter auf die Plantagen schicken“, sagt Ndille.
Nicht für die Schwarzen Menschen
Die ausbeuterischen Strukturen hinter der Kolonialisierung von Kamerun kommen dem Historiker im Unterricht zu kurz. Geschichtsbücher seien seit der Unabhängigkeit zu wenig überarbeitet worden und stellten immer noch koloniale Ideologien in den Vordergrund. In der Tat seien Straßen und Eisenbahnen gebaut worden. „Aber das war nicht für die Schwarzen Menschen. Es war eine Handelsroute, um Waren nach Europa zu bringen. Wer diese Art von Bildung erhält, erkennt nicht den kritischen Teil des deutschen Kolonialismus“.
Bis heute ist im Stadtbild von Douala der Einfluss der Kolonialmächte kaum zu übersehen. Die Hochhäuser im wirtschaftlichen und politischen Zentrum stehen Seite an Seite mit den ehemaligen Verwaltungsgebäuden der Deutschen und Franzosen. Wenige hundert Meter vom Nachtigal-Denkmal findet sich eine Statue für den französischen General Leclerc – nach Protesten von Aktivist:innen inzwischen abgeschirmt hinter einem Zaun. Spuren aus der Zeit vor Nachtigal sind dagegen selten. Selbst das Maritime Museum, eins der größten in der Millionenstadt, stellt kaum Exponate aus, bedeutende präkoloniale Kulturgüter stehen eher in ethnologischen Museen in Berlin, Paris und London. Zu sehen sind dafür verpixelte Kopien der Verträge, mit denen die Könige Akwa und Bell ihr Land abtreten mussten. Darunter stehen die Unterschriften der deutschen Händler.
Aufarbeitung steht bevor
Nach zehn Minuten am Nachtigal-Denkmal zieht Genesis Ntari mit seiner Klasse weiter. In zwei Jahren werden die Schüler:innen ihren Abschluss machen. Eine kritischere Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit müssen sie sich außerhalb der Schule erarbeiten. Ntari wünscht sich ein Denkmal für die Widerstandskämpfer:innen in Kamerun – und generell mehr erfahrbare Geschichte. Bis dahin führt er seine Klassen weiter zum Obelisken von Gustav Nachtigal. „Zumindest sollten sie es sehen. Sie sollten die Artefakte sehen, sie sollten die Denkmäler sehen, sie sollten diese historischen Stätten sehen“, sagt Ntari.
Auch der Geschichtswissenschaftler Roland Ndille will nicht, dass das Denkmal abgerissen wird. Stattdessen solle es an einen Ort gebracht werden, wo Interessierte mehr über die Kolonialzeit lernen können. Für ihn steht Kamerun noch eine schwierige Aufarbeitung seiner Geschichte bevor: „Die Menschen werden eine Menge kolonialen Schmerz sehen.“ (mig) Aktuell Feuilleton
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