Nebenan
Politisches Gesamtversagen
Wird der „Westen“ den Haftbefehl gegen Netanjahu vollstrecken oder weiterdioplomatisieren wie immer? Die Antwort ist von Bedeutung – global. Es geht um viel mehr als Glaubwürdigkeit.
Von Sven Bensmann Montag, 25.11.2024, 10:12 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 25.11.2024, 8:50 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Es war eine politische Bombe, die letzte Woche eingeschlagen ist: Der Internationale Strafgerichtshof erlässt Haftbefehl gegen Israels Präsidenten Netanjahu, der daraufhin gleich einmal verkünden ließ, dass es purer Antisemitismus sei, wenn sich ein Jude für seine Taten verantworten muss.
Derweil ringt die deutsche Regierung mit ihrer Haltung, die mit: „Wir achten internationales Recht natürlich – im Allgemeinen. Aaaber wenn Rechtsextreme Verbrechen begehen, die dann gleichzeitig auch noch Juden sind, dann können wir uns nicht so recht vorstellen, diese wirklich zur Verantwortung zu ziehen. Immerhin sind wir der Westen, und da gibt es ein Recht für uns und eines für alle anderen.“ noch freundlich umschrieben ist.
Ein wenig ist es ja sogar nachvollziehbar. Abgesehen von einem vergleichsweise kurzen Intermezzo im 20sten Jahrhundert ist die Zeit von der frühen Globalisierung bis heute so sehr von einer europäischen – und die USA sind hier explizit mit eingeschlossen – kulturellen, politischen und nicht zuletzt waffenbasierten Hegemonie geprägt, dass der Westen damit lange durchgekommen ist. Noch heute gibt es Menschen, die glauben, wenn andere Völker ausgebeutet, Menschen geraubt und versklavt oder gleich in die Wüste gejagt wurden, um dort zu verrecken, dann bedeute das, dass diese Menschen „zivilisiert“ worden seien.
Ähnlich gilt das so heute auch noch: Die israelische Regierung – die zulässt, dass illegale Siedler mithilfe der Armee unschuldige Palästinenser einfach von deren Land vertreiben können, um sich selbst dort breitzumachen – wird von Apologeten des Rassismus gern damit verteidigt, dass Israel ja im Gegensatz zu seinen Nachbarn immerhin behaupte, eine Demokratie zu sein, dass Palästinenser natürlich Bürger zweiter Klasse seien, aber immerhin ja mal Bürger – und, dass mit dem für sie geltenden militärischen Besatzungsrecht ja immerhin so eine Art von Recht gelte. Ganz so als dürfe man die Regierung nur am Standard anderer klerikalfaschistischer Regierungen der Region messen und nicht etwa an universalen Vorstellungen von Völkerrecht und Demokratie – weil alles andere antisemitisch sei.
„Die Völker der unterstützten Tyrannen fühlen sich in ihrem Streben nach Demokratie von der EU verraten.“
Während seit Jahren nun aber darüber spekuliert wird, ob beziehungsweise wann denn nun die globale Militärhegemonie der USA enden werde, ist die politisch-kulturelle Hegemonie des Westens seltener Teil dieser Diskussionen. Dabei zeigt sich gerade dieser Tage, dass die westliche Welt immer häufiger irritiert vor den Scherben ihrer verkorksten Diplomatie steht, weil der Rest der Welt ihr in der Deutung von Ereignissen nicht mehr so willfährig folgt.
So wird der Überfall Russlands auf die Ukraine weltweit von vielen Staaten zunehmend als regionaler, europäischer Konflikt gesehen, der die eigene Politik nicht mehr oder weniger bestimmen sollte, als die Konflikte Somalias oder Äthiopiens mit deren Nachbarn: Man ist nicht mehr gewillt, sich zum Beispiel Boykotten einfach anzuschließen und der eigenen Wirtschaft zu schaden, nur weil Europa Krieg führt – oder um auf eine natürlich absolut unverantwortliche Eskalation des Konflikts zu reagieren, weil Russland, das mit einer von beinahe ganz Europa und den USA unterstützten Ukraine Krieg führt, nun plötzlich einfach so den global player Nordkorea in diesem Konflikt hineinzieht.
„Was man sich damals noch am CDU/CSU-Stammtisch zu denken schämte, wird heute von Merz und Söder offen geäußert – und selbst in SPD und Grüne hinein formuliert.“
Auch die offene und finanzielle Unterstützung afrikanischer Machthaber durch die EU, die sich durch die Zusammenarbeit mit diesen Leuten, die Erfahrung darin haben, unerwünschte Menschen unauffällig verschwinden zu lassen, unerwünschter Menschen, die Zugang zur EU erträumen, unauffällig entledigen will, führt zu immer offenerer Kritik aus dem Rest der Welt. Europa isoliert sich nur gegen Migration. Die Völker der unterstützten Tyrannen fühlen sich in ihrem Streben nach Demokratie von der EU verraten und die Angehörigen der in den Ländern dieser Diktatoren Vergewaltigten, Gefolterten und ohne Wasser in der Wüste Ausgesetzten fühlen sich in ihrer Hoffnung auf den Schutz ihrer unveräußerlichen Menschenrechte betrogen.
Mehr noch: Vor zehn Jahren zitierten hierzulande noch viele Kommentatoren das Bild von der Zivilisation als dünner Firnis über dem darunter lauernden Biest angesichts der kurz zuvor aufgetauchten Pegida und AfD. Heute ergeben sich viele Menschen ganz offen und lautstark genau diesem inneren Monster: Was man sich damals noch am CDU/CSU-Stammtisch zu denken schämte, wird heute von Merz und Söder offen geäußert – und selbst in SPD und Grüne hineinformuliert: Es ist keine neue Erkenntnis, dass Imperien vor dem Kollaps eine interne Radikalisierung erfahren und sich nach außen isolieren.
Insbesondere China besetzt diese Lücken natürlich gern und effektiv, ist auf dem afrikanischen Kontinent mittlerweile stark präsent und hat eigene Netzwerke im Zuge von Belt and Road (der neuen Seidenstraße), von BRICS und anderen Initiativen geschmiedet. Die von Russland und China herbeigesehnte multipolare Welt, sie wird gerade Realität.
Europa steht vor einer schmerzhaften Anpassungsphase. Deutschland wird sich zukünftig ernsthaft vor der Weltöffentlichkeit rechtfertigen müssen – zum Beispiel, wenn es völkerrechtlich bindende Haftbefehle einfach nicht vollstreckt. (mig) Meinung
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