Rassismus-Verdacht bleibt
Staatsanwalt: Alle acht Polizeischüsse waren gerechtfertigt – Verfahren eingestellt
Bei einem Polizeieinsatz in Nienburg geben Beamte mehrere Schüsse ab, mindestens acht Kugeln treffen das Opfer. Ein Gambier stirbt. Nun wurden das Verfahren eingestellt. Viele Fragen bleiben offen. Der Flüchtlingsrat übt Kritik. Gegen einen beteiligten Polizisten läuft ein Rassismus-Verfahren.
Sonntag, 29.09.2024, 11:51 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 29.09.2024, 13:16 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Ein halbes Jahr nach tödlichen Schüssen der Polizei in Nienburg an der Weser hat die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen 14 Beamte eingestellt. Die Polizisten seien in Lebensgefahr gewesen und hätten die Waffen als letztes Mittel eingesetzt, teilte die Staatsanwaltschaft Verden mit. Der 46 Jahre alte Gambier, Lamin Touray, wurde dabei tödlich verletzt, eine Polizistin angeschossen.
Nach Angaben der Ermittler bedrohte Touray am Karsamstag seine Freundin mit einem Messer. Der Frau gelang die Flucht. Sie verständigte die Polizei. Mehrere Beamte seien zu der Reihenhaussiedlung gefahren und von dem Mann bedroht worden, hieß es. Als sie die Tür des Hauses gewaltsam geöffnet hätten, sei ihm ein Messer aus der Hand gefallen. Im Wohnzimmer habe er nach einem weiteren Messer gegriffen und sei damit auf die Polizisten zugegangen. Er habe die Aufforderung der Beamten ignoriert, das Messer fallen zu lassen.
Ermittler: Schüsse gerechtfertigt
Laut Staatsanwaltschaft ging der Mann schließlich zur Terrasse, wo weitere Polizisten standen. Auch dort hätten ihn die Einsatzkräfte mehrfach gebeten, die Waffe niederzulegen – ohne Erfolg. Die Lage habe sich zugespitzt, als der Mann auf zwei Polizisten losgegangen sei und mit dem Messer mehrfach in ihre Richtung gestochen habe. Ein Stich konnte den Angaben nach mit einem Polizeischild abgewehrt werden.
Schließlich habe der Mann mit vorgehaltenem Messer vor zwei weiteren Beamten gestanden, schilderte die Staatsanwaltschaft weiter. In dem Moment hätten drei Polizisten mehrfach – acht Kugeln trafen den Mann – auf den Angreifer geschossen. Zwei Schüsse seien tödlich gewesen. Der Einsatz der Waffen sei „gerechtfertigt erfolgt“, resümierte die Staatsanwaltschaft.
Flüchtlingsrat widerspricht Tathergang
Nach den Vorschriften des Niedersächsischen Polizeigesetzes dürfen Schusswaffen gegen Menschen als letztes Mittel eingesetzt werden. Ein tödlicher Schuss darf nur abgegeben werden, wenn jemand in großer Gefahr ist. Bei dem Einsatz in Nienburg zeigten laut Staatsanwaltschaft mildere Maßnahmen keine Wirkung: Der Angreifer habe sich weder im Gespräch noch durch ein Reizsprühgerät, einen Diensthund und die Drohung mit der Waffe beschwichtigen lassen. Die Schüsse seien in einer „hochdynamischen Bedrohungslage“ gefallen.
Der Flüchtlingsrat Niedersachsen widerspricht dieser Darstellung. Es müsse aufgeklärt werden, inwiefern die von der Staatsanwaltschaft behauptete „Lebensgefahr“ für die am Einsatz beteiligten Polizisten selbst verursacht worden sei durch eskalierendes Fehlverhalten beziehungsweise durch Nicht-Deeskalation. Aufgeklärt werden müsse auch, weshalb die Polizei den Anruf der Freundin Lamins „als Bedrohungssituation mit Messer klassifiziert“ habe, obwohl „die Freundin bis heute beteuert, zu keinem Zeitpunkt von Lamin bedroht worden zu sein“, so der Flüchtlingsrat.
Polizistin und Diensthund verletzt
Bei dem Einsatz sei versehentlich eine Polizistin getroffen und schwer verletzt worden, teilte die Staatsanwaltschaft weiter mit. Die Ermittler fanden das vollständige Projektil nicht und können deshalb nicht klären, aus welcher Waffe der Schuss abgefeuert wurde. Auch ein Diensthund wurde verletzt. Das Verfahren wurde ebenfalls eingestellt.
Andere Kollegen blieben nach Angaben der Polizei unversehrt. Alle Beteiligten wurden vernommen und psychologisch betreut, wie eine Polizeisprecherin damals sagte. Aus Neutralitätsgründen übernahm die Polizei im benachbarten Landkreis Verden die Ermittlungen. Die Ermittler überprüften nach eigenen Angaben die Munition der Dienstwaffen und werteten zwei Aufzeichnungen von Bodycams aus. Außerdem holten sie ein rechtsmedizinisches und ein waffentechnisches Gutachten ein.
Flüchtlingsrat: Polizisten ermitteln gegen ihre Kollegen
Eine Praxis, die stark in der Kritik steht. Experten bezweifeln, dass Kollegen von der Nachbarwache gegen ihre Kollegen offen und ergebnisoffen ermitteln. Auch der Flüchtlingsrat fordert Aufklärung vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft Verden habe in dem Fall gegen Polizisten ermittelt, mit denen sie sonst zusammenarbeite. Es sei zudem wichtig zu prüfen, ob rassistische Einstellungen das Verhalten der Beamten gegenüber dem Gambier beeinflusst hätten.
Es werde momentan geprüft, ob einer der eingesetzten Beamten eine verfassungsfeindliche Einstellung habe, räumte Tanja Wulff-Bruhn, Präsidentin der Polizeidirektion Göttingen, ein. Der Polizist befinde sich nicht mehr im Dienst. „Diese Prüfung hat keine Verbindungen zur hier betrachteten Einsatzlage“, betonte sie jedoch. Die Staatsanwaltschaft habe intensiv ermittelt und festgestellt, dass Rassismus keine Rolle gespielt habe.
Verfassungsfeindliche Einstellung eines Polizisten?
Zuvor war bekanntgeworden, dass einer der am Einsatz beteiligten Polizisten auf in sozialen Netzwerken rechtsextreme Inhalte verbreitet haben soll. „Auch dieser Umstand unterstreicht, dass die Todesumstände Lamins nicht innerhalb des Polizei- und Justizapparats abgehandelt werden dürfen, sondern zwingend einer unabhängigen gerichtlichen Untersuchung bedürfen“, so der Flüchtlingsrat.
Immer würden Menschen bei Polizeieinsätzen getötet, kritisiert der Flüchtlingsrat weiter. Besonders betroffen seien dabei People of Coulor. Mindestens fünf Menschen mit Fluchtgeschichte starben in den vergangenen vier Jahren in Niedersachsen im Zusammenhang mit Polizeieinsätzen. (dpa/mig) Leitartikel Panorama
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