Miriam Rosenlehner, Migazin, Portrait, Rassismus, Schriftstellerin, Buch
Miriam Rosenlehner © privat, Zeichnung: MiGAZIN

Ansichten & Aussichten

Unter Deutschen: Entfremdung im Stadtviertel

Ich lebte lange günstig und glücklich in einem Stadtviertel, das andere mit Stirnrunzeln kommentieren. Dann zog ich um. Hier schläft man gut, wenn man zur Mehrheitsbevölkerung gehört.

Von Mittwoch, 10.07.2024, 10:12 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 09.07.2024, 7:41 Uhr Lesedauer: 9 Minuten  |  

Als ich vor vielen Jahren eine Wohnung in einer neuen Stadt suchte, passierte etwas Merkwürdiges. Überall stiegen die Mietpreise, nur bei einem Stadtviertel blieb es günstig. Um nicht zu sagen, billig. Ich erzählte den neuen Kollegen von meiner Entdeckung und stellte in Aussicht, in dieses innenstadtnahe Viertel zu ziehen. Schockierte, pikierte und peinlich berührte Blicke kamen auf diese Ankündigung: „Du kannst da nicht hinziehen!“, sagten sie. Auf die Frage, warum nicht, folgte nichts Genaues. Gefährlich sollte es dort sein, hörte ich heraus. Drogen wohl auch. Ich zog also zunächst in einen anderen Stadtteil und zahlte eben mehr. Bei meinem nächsten Umzug war ich mit der Stadt schon bekannter. Ich zog in das verrufene Viertel trotz all der Unkenrufe und lebte da glücklich sechs Jahre lang. Jeder in der Stadt, dem ich den Namen meines Viertels sagte, runzelte die Stirn und hob die Augenbrauen: Echt? Da wohnst du?

Es war eine wunderbare Wohnung, großzügig, hell und außergewöhnlich günstig. Der nächste Bahnhof war nur 2 Minuten entfernt. Vor dem Bahnhofsgebäude saßen die Süchtigen, meist etwas abseits. Ich erinnere mich, wie mir einer der vom Leben gezeichneten die Schwingtüre zu den Gleisen aufhielt und lächelte. Abends kam dort oft Polizei und Krankenwagen und luden einen bewusstlosen Menschen in den Wagen. Viele kamen danach wieder. Andere nicht mehr. Es stimmte natürlich. Es war schwer auszuhalten, dass gleich die Straße runter Menschen an der Heroinseuche starben und dass genau dasselbe Leid jeden Tag wieder passierte.

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Trotzdem fühlte ich mich wohl im Viertel. Die Straße runter gab es einige Shishacafes, Dönerbuden und Balkangrills. Eine zwielichtige Bar mit merkwürdig rotem Licht, um die Ecke das gehobene türkische Restaurant, gegenüber die deutsche Wirtschaft mit Biergarten. Es gab einen kleinen deutschen Supermarkt, eineinhalb Minuten weg, einen großen türkischen Supermarkt in die andere Richtung. Bei asiatischen Basics konnte ich zwischen zwei Läden auswählen. Es gab einfach mal keinen Tag mehr, an dem mir Fladenbrot, frischer Koriander oder irgendein exotisches Gewürz ausging. Sumach, Cumin, Zitronengras, fünf verschiedene Currysorten, Paprikapulver im Kilopack für einsvierzig. Frisches Gemüse günstiger als überall sonst in der Stadt, Kasava, Ingwer, Yamswurzeln, Helva und jede süße Spezialität aus der ganzen Welt. Fußläufig. Jüngst kamen noch ein Späti dazu. Freiwillig wäre ich da nicht weggezogen.

„Deutschsplaining hatte es im alten Viertel nicht gegeben, ich war sprachlos.“

Aber wie das so ist: die Liebe. Wir wollten zusammenziehen und brauchten etwas Größeres. So gab ich mein Viertel auf und wir residierten fortan im beliebtesten Viertel der Stadt. Jeder in der Stadt, dem ich den Namen meines Viertels sagte, lächelte: Ach! Da hast du ja Glück gehabt! Da gibt es so ein nettes Cafe! Einkaufen kann man da ja auch gut. Und hast du gesehen, die Leute stellen oft ihre Bücher oder Lampen vor die Türe, so kann sie jeder mitnehmen, der sie braucht! (Ich blinzelte. Mhm. Stimmt, der Müll vor den Türen ist mir auch schon aufgefallen.)

Das neue Viertel empfing mich nicht ganz so herzlich wie mein altes. Ich versuchte, keine Vorurteile zu haben, aber niemand hielt mir die Türe auf, stattdessen schrie mich in den ersten Tagen ein dicker deutscher Mann von seinem Fahrrad herunter an, als ich auf einer Parkbank saß: Schwein! Ich war zu perplex, um zu antworten. Als ich zuhause meinen Müll in die Tonne schmiss, öffnete eine Frau aus meinem Haus das Fenster, um mich zu belehren, wie ich die Mülltonne zu schließen hatte. Deutschsplaining hatte es im alten Viertel nicht gegeben, ich war sprachlos.

Mir dämmerte, warum die Leute über die Einkaufsmöglichkeiten schwärmten: Deutscher Supermarkt groß, deutscher Supermarkt klein. Gehobener Italiener, deutscher Bäcker, deutscher Bäcker, noch ein deutscher Supermarkt. Ach so. Und das deutsche Café. Und diese Auswahl! Bio-Salami, Graubrot und Sauerkraut in jeder Variation. Irgendwie fiel mir das Ankommen schwer.

„Scheißkanake nannte der mich und ging weiter.“

Wir wohnten schon ein paar Wochen im neuen Haus, da stand ich im Morgengrauen auf unserer Straße. Es war Winter. Ich trug eine kopftuchähnliche Kopfbedeckung gegen die Kälte. Ein Mann ging hinter mir und nach einiger Zeit merkte ich, dass er zu nah kam. Die Straße war menschenleer, um fünf Uhr morgens hatte man in meinem alten Viertel durchaus Menschen draußen angetroffen, aber nicht hier. Auf meiner Höhe angekommen, zog der Typ den Rotz hoch und spuckte neben mir auf den Gehweg. Ich fragte mich noch nach seiner Kinderstube, als klarwurde, dass das Absicht war: Scheißkanake nannte der mich und ging weiter.

Mich traf die Wut wie ein Blitz. Ich schrie die ganze Straße zusammen, schrie ihm hinterher, er solle mir ins Gesicht sehen, wenn er mit mir rede, nannte ihn einen Rassisten. Er drehte sich nicht mal um und ging einfach weiter. Ich wollte ihn einen Feigling nennen, denn das ist er, weil er auf einer leeren Straße eine zwei Köpfe kleinere Frau anspuckt. Weil er sich nicht umdrehte, weil er so tat, als wäre nichts gewesen. Feigling! Wollte ich rufen. Aber ich ließ es. Weil ich alleine auf der Straße war und niemand hätte hier das Fenster geöffnet, wenn der Typ ein Messer gezückt hätte. Weiß man ja nicht, wie irre der wirklich ist. Es gibt nichts, was Leute wie ihn mehr provoziert als der Vorwurf der Feigheit. Nicht ihre Menschenfeindlichkeit, nicht ihre Dummheit, nichts davon bringt sie auf. Nur, wenn man den wahren Grund ihres Hasses beim Namen nennt: Feigling. Miss dich mit mir wie ein Mann, ja?

„Man schläft hier gut und sicher im Viertel, wenn man zur Mehrheitsbevölkerung gehört.“

Ich zitterte vor Wut, als ich die Treppen zu unserer Wohnung wieder hochstieg. Niemand hatte das Fenster geöffnet, die Straße blieb still und menschenleer. Die Frau, die vor ein paar Tagen durch ihr geschlossenes Fenster gehört hatte, wie ich Müll wegbrachte – die Auseinandersetzung mit dem Kerl hatte sie offenbar überhört. Man schläft hier gut und sicher im Viertel, wenn man zur Mehrheitsbevölkerung gehört.

Nur wenige Tage später traf ich den Typen wieder. Er kam aus dem Hauseingang neben unserem Haus und hatte seine zwei Hunde dabei. Es hätte gut gepasst, wenn es riesige, gefährliche Hunde gewesen wären, aber er zog zwei winzige Kläffer an den Leinen hinter sich her. Ein brauner und ein weißer Hund wedelten hinter dem Menschenfeind den ordentlichen Gehweg entlang. Er trug eine Mütze, die seine rasierte Glatze verdeckte und sah fast aus wie ein normaler Mensch. Er sah mich nicht an, ging die Straße entlang, als gehörte sie ihm.

„Um 18:13 Uhr geht er Gassi. Ich frage mich, ob ich übertreibe. Vielleicht. Aber dann muss ich daran denken, wie es zu den Morden des NSU kam.“

Seither treffen wir uns öfter. Er ist immer allein mit seinen zwei Minihunden, ich habe noch nie eine andere Person bei ihm gesehen. Eines Morgens beobachtete der Nachbar, wie ich zu meinem Mann ins Auto stieg und zeigte meinem Partner den Vogel. Auf der Fahrt rätselten wir, was uns der Mann mit der Geste hatte sagen wollen – wahrscheinlich, nahmen wir schließlich an, wollte er sagen, dass ein guter deutscher Mann keine wie mich in seine Nähe lassen sollte, aber mein Mann steht einfach nicht auf BDM-blond.

Seither habe ich seinen Zeitplan gelernt und richte mich nach der inneren Uhr seiner Hunde. Wenn ich das Haus verlasse, sehe ich zu seinem Hauseingang, um nicht unvorbereitet zu sein. Meine Post nehme ich nur aus dem Briefkasten, wenn ich sicher bin, dass er nicht sehen kann, welchen Kasten ich öffne. Ich hoffe darauf, dass er so nicht erfahren wird, wie ich heiße. Wenn ich alleine bin und es klingelt, sehe ich durch den Spion. Wenn ich nachhause komme, sehe ich auf die Uhr, bevor ich in unsere Straße einbiege: Um 18:13 Uhr geht er Gassi. Ich frage mich, ob ich übertreibe. Vielleicht. Aber dann muss ich daran denken, wie es zu den Morden des NSU kam. Die Mörder hatten eine Liste mit über 10.000 Namen darauf. Diese Todesliste hätte den Ermittlern Rätsel aufgeben sollen, wenn sie sich gefragt hätten, wie diese Namen auf die Liste gekommen waren. Aber in ihren Abläufen war ja nicht einmal vorgesehen, die Todeskandidaten zu informieren.

Zwei der NSU-Morde hatten in meinem damaligen Stadtviertel stattgefunden. Wie waren die Namen der Getöteten auf die Liste gekommen? Wie wurde entschieden, wer sterben sollte? Neben dem Nürnberger Schneider Özüdoğru, der 2001 umgebracht wurde, hatte ein junger Neonazi gewohnt. Nach dem Mord an Özüdoğru wurde der Nazinachbar nicht einmal von den Behörden befragt. Ein privates Rechercheteam redete schließlich Jahre später mit ihm.

Neben dem ehemaligen Schneiderladen, dessen Schaufenster mit stilisierten Blumen geschmückt war, läuft senkrecht das Fallrohr einer Regenrinne. Als ich vor gar nicht langer Zeit daran vorbeilief, bemerkte ich Naziaufkleber darauf. Naziaufkleber auf der Regenrinne hatte auch der Nebenklageanwalt im NSU-Prozess 2013 angesprochen. Aber die Prozessbeteiligten waren irritiert von seinem irrelevanten Einwurf. Ich sah mir den Hauseingang neben dem Laden an. Dort hatte der Nazi gewohnt, den niemand gefragt hatte.

„Für uns Zielpersonen hat manches einen Zusammenhang, den die Mehrheitsgesellschaft geflissentlich ignoriert.“

An diese Geschichte muss ich denken, wenn mein Hausnazi um 18:13 mit seinen Hunden das Haus verlässt. Ich versuche mich so zu verhalten, dass er mich vergisst. Wenn ich einmal unaufmerksam war und ihm begegne, wechsle ich die Straßenseite. Für uns Zielpersonen hat manches einen Zusammenhang, den die Mehrheitsgesellschaft geflissentlich ignoriert.

Die Regenrinne mit den Naziaufklebern ist dafür ein Sinnbild. Während die Republik sich anschickt, den NSU mit einem Dokuzentrum als bundesdeutsche Geschichte zu inszenieren, fragt sie sich nicht nach der Gegenwart dieser Geschichte. Das hat sie nie getan. Nach jedem neuen Anschlag läuft alles wie ein vorhersehbares Uhrwerk ab und endet in Gedenkfeiern mit mahnenden Worten, die die Sache zu den Akten legen wollen. Wir hier bleiben mit dem Problem der Gegenwart zurück und richten unsere Leben darauf ein.

  Meinung

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