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Elif Yakac, Islam, Muslim, Islamwissenschaften, Politikwissenschaften
Elif Yakac © privat, Zeichnung: MiGAZIN

Unsichtbare Mauer

Es gibt sie immer noch, die „Ausländerklassen“

Obwohl die Trennung von Schüler:innen in „Ausländerklassen“ inzwischen verpönt und wissenschaftlich überholt ist, beobachte ich immer häufiger diese subtile Form der Klassenteilung.

Von Sonntag, 07.07.2024, 12:06 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 07.07.2024, 19:40 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

In den letzten Jahren beobachte ich an bayrischen und niedersächsischen Schulen ein äußerst skurriles Vorgehen. Die Klasseneinteilung der Schüler:innen an den Grund- sowie weiterführenden Schulen erfolgt oft nach folgendem Schema: Kinder mit und ohne Migrationshintergrund getrennt in eine Klasse einteilen. Diese Herangehensweise ist höchst problematisch, da die bestehende Bildungsungleichheit in Deutschland weiter zementieren könnte.

Diese Herangehensweise erinnert an Praktiken aus der Schulpolitik nach der Arbeitsmigration ab den 1950er Jahren, als Arbeiter:innenkinder in sogenannte „Ausländerklassen“ gesteckt wurden, basierend allein auf ihren Deutschkenntnissen. Dadurch wurden sie isoliert und konnten ihre Kompetenzen in anderen Fächern nicht ausreichend entwickeln. Es ist nicht lange her, dass ein ähnlicher Umgang 2015 mit der Ankunft der syrischen Geflüchteten in einigen deutschen Schulen erneut praktiziert wurde. Obwohl heute die definitorische Trennung in „Ausländerklassen“ und „Nicht-Ausländer-Klassen“ vermieden wird, beobachte ich dennoch immer häufiger eine subtile Form der Klassenteilung. Wohl gemerkt betrifft diese nicht nur geflüchtete Kinder, sondern auch Kinder, die von vornherein als Migrant:innen wahrgenommen werden – unabhängig davon, ob sie der deutschen Sprache mächtig sind oder nicht. Dies suggeriert eine subtile Annahme, dass Kinder mit nicht-deutschen Namen von vornherein als potenziell unterstützungsbedürftige Schüler:innen konstruiert werden.

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Eine besonders bemerkenswerte Beobachtung ergab sich in diesem Kontext aus meinen Gesprächen mit Eltern an Münchner Schulen. Sie äußerten den Eindruck, dass nicht nur Migrant:innenkinder, sondern auch ostdeutsche Kinder in diese „Extraklassen“ eingeteilt werden. Ein konkretes Beispiel hierfür zeigt sich an einer Grundschule mit vier neuen ersten Klassen, wo eine Klasse ausschließlich aus Kindern mit Migrationsbiografie und Ostdeutschen besteht, während in den anderen Klassen nur vereinzelt Kinder mit ausländischen Wurzeln anzutreffen sind.

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„Eine komplette Klasse wird zugunsten der restlichen Schülerschaft aufgegeben.“

Kritiker:innen könnten einwenden, dass Schulen nicht über ausreichendes Detailwissen zur Herkunft dieser ostdeutschen Familien verfügen und es sich um einen Zufall handeln könnte. Tatsächlich könnte es sich in der einen Klasse um einen besonders großen Zufall handeln, weshalb hier auch nicht die Rede von einer Erkenntnis, sondern einer Beobachtung bzw. Eindruck ist. Zumal eine umfassende Beobachtung einen intensiven Austausch mit den meisten Eltern der Klasse erfordert, um eine solche Praktik zu durchschauen. Dennoch scheint es nicht ganz unwahrscheinlich zu sein, dass vor allem engagierte Elternvertreter:innen mit einem besonderen Fokus auf Chancengleichheit solche Verteilungsmuster erkennen und durchschauen können.

Warum ist diese Praxis aber so problematisch? Es mag im ersten Moment vorteilhaft erscheinen, Kinder mit speziellen Sprachförderbedarfen in separaten Klassen zielgerichtet und intensiv zu unterstützen – was im Falle von ostdeutschen Kindern, die deutsche Muttersprache haben, ein deutlich schwaches Argument wäre. Doch klammern wir an dieser Stelle die Beobachtung mit ostdeutschen Kindern aus und gehen davon aus, dass die Schulen mit dieser Praxis eine positive Absicht befolgen, so darf im besten Falle nicht vernachlässigt werden, dass Konzepte wie „Vorbereitungsklassen“ oder „Ausländerklassen“ seit einigen Jahrzehnten in der Fachwelt als problematisch eingestuft wird – und das nicht umsonst.

„Kinder, die von ihren deutschsprachigen Mitschüler:innen getrennt werden, haben weniger Gelegenheit, Freundschaften zu schließen.“

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigt in ihren regelmäßigen Publikationen – Bildung auf einen Blick – dass die Bildungschancen und der Bildungserfolg von Kindern in Deutschland sehr stark von ihrer sozialen Herkunft und dem Migrationshintergrund abhängen. So belegen die Pisa-Ergebnisse aus dem Jahre 2022, dass der sozioökonomische Hintergrund der Eltern sich insbesondere auf die Mathe-Kompetenzen der Kinder auswirkt, während der Migrationshintergrund ihre Sprachkompetenzen beeinflusst. Berücksichtigen wir zudem die Ergebnisse des Mikrozensus 2021, wonach Personen mit Migrationshintergrund und ohne Staatsangehörigkeit signifikant höher armutsgefährdet sind, was auf ihre sozioökonomische Lage hinweist, stellt sich eine entscheidende Frage: Wenn der Bildungserfolg in Deutschland nach wie vor so stark vom sozioökonomischen Hintergrund sowie vom Migrationshintergrund abhängt, inwiefern macht es Sinn, Kinder mit Migrationsbiografie, die signifikant höher vom Armut gefährdet sind, in separate Klassen zu ‚stecken‘? Verstärkt dies nicht gerade die Barrieren, die überwunden werden sollen?

Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse impliziert eine derartige Herangehensweise weniger die gezielte Förderung dieser als förderbedürftig konstruierten Kinder, sondern vielmehr ihre Isolierung von der restlichen Schülerschaft, um möglicherweise das Tempo und das Leistungsniveau der übrigen Kinder nicht zu beeinträchtigen. Ganz salopp gesagt: Eine komplette Klasse wird zugunsten der restlichen Schülerschaft aufgegeben.

„Kinder mit ausländischen Wurzeln dürfen nicht automatisch als förderbedürftig kategorisiert werden.“

Doch welche Nachteile könnte diese Praxis konkret mit sich bringen? Ein zentraler Nachteil dieser Isolierung ist der eingeschränkte Zugang der betroffenen Kinder zu deutschen Muttersprachler:innen. In ihren „Parallelklassen“ sind sie sprachlich benachteiligt, was ihre Integration und ihren Spracherwerb erheblich erschwert. Jeder, der jemals eine Sprachreise unternommen hat, weiß um die Bedeutung der sprachlichen Immersion. Diese direkte Einbindung in die Zielsprache ist entscheidend für den erfolgreichen Spracherwerb. Es ist daher realitätsfern zu erwarten, dass Kinder mit tatsächlichen Sprachdefiziten in einem Umfeld ohne ausreichenden Kontakt zu deutschsprachigen Mitschüler:innen signifikante Fortschritte machen können. Ohne die Möglichkeit, sich in einem sprachlich vielfältigen und herausfordernden Umfeld zu bewegen, bleibt ihre sprachliche Entwicklung oft auf der Strecke.

Zusätzlich führt die Separation zu einer sozialen Stigmatisierung und verringerten Chancen auf soziale Integration. Kinder, die von ihren deutschsprachigen Mitschüler:innen getrennt werden, haben weniger Gelegenheit, Freundschaften zu schließen und in den Schulalltag integriert zu werden. Dies kann langfristig zu einem Gefühl der Ausgrenzung und Minderwertigkeit führen, was wiederum negative Auswirkungen auf ihre schulische Motivation und ihren Lernerfolg haben kann.

Insgesamt zeigt sich, dass die Praxis, Schüler mit Migrationsbiografie in separate Klassen zu isolieren, weitreichende negative Konsequenzen haben kann. Deshalb gehört diese Herangehensweise endlich abgeschafft. Dabei muss ein Umdenken stattfinden: Kinder mit ausländischen Wurzeln dürfen nicht automatisch als förderbedürftig kategorisiert werden. Stattdessen sollten integrative Ansätze gefördert werden, die sowohl den individuellen Förderbedarf aller Kinder berücksichtigen als auch ihre Einbindung in die gesamte Schülerschaft gewährleisten. Trennungen aufgrund ethnischer oder sprachlicher Merkmale könnten diese Ziele jedoch untergraben, indem sie strukturelle Ungleichheit und Diskriminierung verstärken. Meinung

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