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Wahlräume (Symbolfoto) © 123rf.com

Europawahl

„Wir kamen nach Deutschland, weil es eine Demokratie ist.“

Geflüchtete. Sie sind ein beherrschendes Thema im Wahlkampf, dürfen aber selbst nicht wählen: Die meisten haben kein Stimmrecht. Doch die Entscheidungen betreffen auch sie.

Von Donnerstag, 06.06.2024, 11:04 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 06.06.2024, 11:06 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Wird die Ukraine weiter mit Waffen unterstützt? Wann darf abgeschoben werden? Und wann wird der neue Kindergarten um die Ecke gebaut? All das sind Fragen, die Politikerinnen und Politiker auf Kommunal- oder Europaebene entscheiden. Und die anstehenden Wahlen am Sonntag beeinflussen, wer diese Entscheidungen trifft. Doch nicht alle in Deutschland lebenden Menschen dürfen wählen.

So auch Anna Stetska: Die 26-Jährige stammt aus dem ukrainischen Odessa und ist seit rund zwei Jahren in Deutschland. Sie engagiert sich im Verein Ukrainer in Trier. „Es ist schwierig, so etwas in einem fremden Land zu entscheiden“, sagt sie mit Blick auf die Wahlen. „Aber Leute, die hier länger wohnen, die verstehen sehr gut, was hier passiert. Dann wäre es besser, wenn sie etwas entscheiden könnten. Weil es ist auch ihr Leben, über das entschieden wird.“

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Doch viele Flüchtlinge und Migranten in Deutschland dürfen genau das nicht. Laut Gesetz sind bei Kommunalwahlen alle Deutschen und Staatsangehörigen anderer EU-Mitgliedsstaaten ab 18 Jahren wahlberechtigt. Auch von der Europawahl sind Staatsangehörige anderer Staaten ausgeschlossen.

Entscheidungen über die Köpfe hinweg

In Rheinland-Pfalz beispielsweise gab es nach Angaben des Integrationsministeriums Ende Mai rund 49.700 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Insgesamt lebten Ende April demnach etwa 101.900 Ausländerinnen und Ausländer mit einer Aufenthaltserlaubnis aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen im Land. Hinzu kommen laut Ministerium noch rund 15.000 Menschen mit einer Aufenthaltsgestattung und rund 6.700 Menschen mit einer Duldung.

Bernd Frietsch arbeitet unter anderem im Flüchtlingsrat Rheinland-Pfalz seit vielen Jahren mit Geflüchteten zusammen. Das Thema Migration stehe bei den Europawahlen im Vordergrund, sagt er. „Das sind dann so viele Entscheidungen völlig über die Köpfe der Betroffenen hinweg. Sie würden natürlich sehr gerne mitwählen.“ Nicht alle Flüchtlinge seien politisch aktiv. „Sie sind ja irgendwo dankbar, dass sie hier jetzt ein sicheres und freies Land gefunden haben. Es ist im Heimatland ganz anders“, sagt Frietsch. „Und deswegen ist jetzt vielleicht nicht das allerwichtigste Thema bei der Existenzneugründung im neuen Aufnahmeland, dass man gleich Europawahl mitmachen kann.“

Wunsch nach Wahlrecht – wenigstens bei Kommunalwahlen

Dennoch seien etwa bei den Demonstrationen gegen rechts vor wenigen Wochen auch viele Flüchtlinge dabei gewesen, hätten teils Reden gehalten. „In Afghanistan etwa, da haben viele für die westlichen Länder gearbeitet, haben mitgewirkt, Demokratie und Menschenrechte langsam ins Land zurückzuholen, zu implementieren“, sagt Frietsch. Dieses Demokratieverständnis sei durch die Flucht nicht plötzlich weg. „Sie würden das natürlich gerne hier weiterführen.“

So geht es auch Waheedullah Yaqubi. Der 45-Jährige kam nach der Machtübernahme der Taliban aus Afghanistan nach Deutschland. In seinem Heimatland arbeitete er für verschiedene Organisationen, auch die US-amerikanische Botschaft, wie er erzählt. „Ich sehe hier viele Werbeschilder“, sagt er auf die Frage nach den anstehenden Wahlen. „Ich habe mit meiner Frau gesprochen und gesagt, dass ich auch gerne wählen können würde.“ Er wünsche sich, dass er wenigstens bei Kommunalwahlen eine Stimme hätte.

„Wir kamen nach Deutschland, weil es eine Demokratie ist.“

„Wir kamen nach Deutschland, weil es eine Demokratie ist. Das ist sehr wichtig für uns“, sagt Yaqubi, der mittlerweile im Landkreis Bad Dürkheim wohnt. „Ich höre, dass die AfD mich zurück nach Afghanistan schicken will, wenn sie an die Macht kommt. Aber dann bin ich tot.“

Deutschland habe ihnen ermöglicht, zu studieren und dass seine Kinder zur Schule gehen könnten. „Wir schätzen die Unterstützung, die wir bekommen, wirklich sehr. Wir wollen uns integrieren“, sagt er. „Aber wenn ich sehe, dass ich nicht das Recht habe zu wählen, nicht mal für die lokalen Wahlen, dann denke ich, dass wir immer noch kein Teil dieses Landes sind.“

Thema Wahlrecht seit Jahrzehnten ein Dauerbrenner

Es sei auch der Anspruch unserer Gesellschaft, dass sich die Menschen integrieren sollen, sagte Frietsch. „Dazu gehört natürlich auch die politische Partizipation.“ Seit er mit der Arbeit in der Flüchtlingshilfe vor rund 30 Jahren begonnen habe, sei das Thema Wahlrecht ein Dauerbrenner, sagt er. „Inzwischen gibt es immerhin in Rheinland-Pfalz überall zu wählende Migrationsbeiräte.“

Der rheinland-pfälzische Landesbeirat für Migration und Integration hat die Aufgabe, die Landesregierung zu beraten. Er kann als Expertengremium Stellungnahmen abgeben und Anregungen, Vorschläge und Empfehlungen beschließen. Es sei bedauerlich, dass Drittstaatenangehörige unabhängig von ihrer Zeit in Rheinland-Pfalz an den Wahlen am 9. Juni nicht teilnehmen dürften, hieß es in einem Wahlaufruf des Landesbeirats. Er spricht sich für eine politische Teilhabe für Menschen mit einem rechtmäßigen und langjährigen Aufenthalt in Rheinland-Pfalz aus.

Eine selbst geschaffene Wahlausgrenzung

Die aktuelle Ampel-Koalition in Rheinland-Pfalz will sich laut des Koalitionsvertrages für ein breites Wahlrecht bei Kommunalwahlen einsetzen. Dort heißt es: „Wir streben das kommunale Wahlrecht für Angehörige von Drittstaaten (Nicht-EU-Länder) mit verfestigtem legalem Aufenthalt in Deutschland an.“ Bis dahin seien die Beiräte für Migration und Integration wichtige Akteure in der kommunalen Demokratie.

Für Bernd Frietsch gibt es noch ein weiteres Problem: die Verwaltungsarbeit beim Einbürgerungsprozess. „Es dauert, obwohl die Voraussetzungen alle erfüllt sind, dann sehr oft ein, sogar zwei Jahre, bis man die Staatsbürgerschaft überreicht bekommt. Bis dahin sind natürlich die Europawahlen vorbei“, sagt er. Das sei ein von der Gesellschaft und Verwaltung selbst geschaffener Punkt der Wahlausgrenzung, sagt Frietsch. „Wenn ich so gut integriert bin, dass ich eigentlich Deutscher werden kann laut Gesetz, dann müsste es auch die Möglichkeit geben, dass ich wählen kann.“ (dpa/mig) Aktuell Gesellschaft

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