NSU, V-Personen, V-Männer, Nationalsozialistischer Untergrund
NSU und Umfeld, eine geschredderte Akte © Tribunal NSU-Komplex auflösen

„Aufklärung und Wahrheit“

Erstes NSU-Dokumentationszentrum entsteht in Chemnitz

Die Bundesregierung will bis 2030 ein Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex errichten. Der Standort ist noch unklar. In Chemnitz geht zunächst ein sächsisches Pilotvorhaben an den Start. Opfer fordern Recht auf Aufklärung und Wahrheit – „etwas, was uns jahrelang verwehrt wurde“.

Mittwoch, 17.04.2024, 11:33 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 17.04.2024, 11:33 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Im sächsischen Chemnitz entsteht bis 2025 das bundesweit erste Dokumentationszentrum zur rechtsradikalen Terrorzelle „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU). Das Pilotvorhaben wurde am Dienstag in Chemnitz vorgestellt. Demnach soll auf mehr als 1.300 Quadratmetern ein Ort der Erinnerung entstehen, dessen Aufgaben Bildungs- und Forschungsarbeit sein werden.

Standort des bundesweit ersten Informations- und Dokumentationszentrums zum NSU ist die ehemalige Zentrale eines Energieversorgers. Die Eröffnung ist für 2025 vorgesehen, wenn Chemnitz Kulturhauptstadt Europas ist. Als Standorte waren neben Chemnitz auch Zwickau im Gespräch. Zwickaus Oberbürgermeisterin Constance Arndt (parteilos) hatte jedoch gemahnt, den Fokus einer solchen Einrichtung zu weiten. Der NSU-Fokus einer solchen Einrichtung greife zu kurz. Das verwische den Blick auf andere extreme Phänomene. Kritiker warfen ihr vor, NSU zu relativieren und das Vorhaben zu verwässern.

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In Chemnitz und Zwickau lebte und agierte die Terrorgruppe jahrelang im Untergrund. Der NSU tötete zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen, neun von ihnen mit Migrationshintergrund. Im Jahr 2011 flog die Terrorzelle auf.

Justizministerin: „Wir tragen Verantwortung“

Sachsens Justizministerin Katja Meier (Grüne) betonte: „Wir tragen Verantwortung hinsichtlich der Aufarbeitung des NSU-Komplexes und der zukünftigen Verhinderung rassistisch motivierter Straftaten.“ In Sachsen seien die Morde des NSU zwar nicht verübt, jedoch operativ vorbereitet worden.

Geplant sind im neuen Zentrum die Präsentation der Wanderausstellung „Offener Prozess“ sowie Bildungs-, Begegnungs- und Beratungsangebote. Zudem soll ein Forschungsbereich entstehen. Der Betrieb ist laut Meier zunächst für 2025 gesichert. In diesem und im nächsten Jahr stellen Bund und Land dafür jeweils zwei Millionen Euro bereit.

Bund plant Dokumentationszentrum

Der Chemnitzer Projektleiter Khaldun Al Saadi sagte, das Projekt sei „all jenen gewidmet, die unter den Taten gelitten haben oder leiden“. Zudem plant die Bundesregierung bis 2030 ein Dokumentationszentrum und einen Erinnerungsort für die NSU-Opfer. Als Standorte sind Nürnberg, München, Köln und Berlin im Gespräch.

 

Hintergrund: Der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU)

Der NSU ist ein ehemaliges rechtsextremistisches Terrornetzwerk. Die Gruppe existierte zwischen 1998 und 2011. Ihr werden zehn Morde zugeschrieben. Zwischen 2000 und 2007 tötete sie neun Menschen mit Migrationshintergrund – acht türkischstämmige und einen Griechen – sowie eine Polizistin. Laut Bundesanwaltschaft bestand die Terrorzelle aus Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe.

Sie waren seit den 1990er-Jahren in der Neonazi-Szene Thüringens aktiv und gehörten zum 1996 gegründeten Thüringer Heimatschutz (THS), einer Kameradschaft, die unter anderem Kontakte zur rechtsextremen NPD pflegte. Dem Terrornetzwerk werden zudem Sprengstoffanschläge und Raubüberfälle zugeordnet.

Mehr als 13 Jahre lang lebte das Trio in Sachsen im Untergrund. Im November 2011 flog die Gruppe auf. Die rassistische Mordserie wurde nun als solche auch erkannt. Zuvor war in der Öffentlichkeit stets von „Döner-Morden“ die Rede.

Nach dem Auffliegen des NSU begann in Deutschland eine mühsame politische Aufarbeitung, bei der auch Pannen der Sicherheitsbehörden aufgedeckt wurden. Trotz 13 Untersuchungsausschüssen blieben viele Fragen offen, vor allem die nach den Unterstützern.

Am 4. November 2011 waren nach einem Banküberfall in Eisenach Böhnhardt und Mundlos tot in ihrem ausgebrannten Wohnmobil in einem Vorort von Eisenach gefunden worden. Mundlos soll zunächst seinen Komplizen erschossen und das Wohnmobil in Brand gesetzt und danach sich selbst erschossen haben.

Im sächsischen Zwickau ging am selben Tag die Wohnung, in der die beiden NSU-Mitglieder mit Beate Zschäpe gelebt hatten, in Flammen auf, das Haus wurde nahezu komplett zerstört. Vier Tage später stellte sich Zschäpe der Polizei.

Die Stadtverwaltung ließ das ausgebrannte Haus in der Frühlingsstraße im Zwickauer Stadtteil Weißenborn abreißen. Sie befürchtete, dass es zu einem Wallfahrtsort für Neonazis hätte werden können.

In einem Mammutverfahren mussten sich Zschäpe sowie vier mutmaßliche Helfer zwischen 2013 und 2018 vor dem Oberlandesgericht München verantworten. Die Hauptangeklagte wurde als Mittäterin der Morde und Sprengstoffanschläge wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und schwerer Brandstiftung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.

Das Gericht stellte außerdem die besondere Schwere der Schuld fest. Seit August 2021 ist das Urteil rechtskräftig. Zschäpe legte beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde ein, scheiterte jedoch. Bis heute ist unklar, wie viele Personen tatsächlich von der rechtsextremen Terrorgruppe wussten und ihr halfen.

Einer Machbarkeitsstudie der Bundeszentrale für politische Bildung zufolge könnte das Dokumentationszentrum als ein dezentrales Verbundsystem realisiert werden, in dem das sächsische Vorhaben ebenso integriert werden kann wie weitere lokale und regionale Gedenkinitiativen. Der Präsident der Bundeszentrale, Thomas Krüger, betonte, das Chemnitzer Pilotvorhaben liefere wichtige Impulse für das Bundesvorhaben.

Kubaşık: Recht auf Aufklärung und Wahrheit

Die Staatssekretärin im Bundesinnenministerium, Juliane Seifert (SPD), erklärte, das bundesweite Zentrum solle kein Museum werden, sondern ein Ort der kritischen Auseinandersetzung und Aufarbeitung, „ein Ort der Zukunft“. Entstehen solle auch ein Archiv des Rechtsterrorismus und ein Ort politischer Bildung. Chemnitz solle dabei elementarer Bestandteil des bundesweiten Netzwerks zur NSU-Aufarbeitung werden.

Familien von Opfern des NSU hatten immer wieder ihre Perspektiven für den Aufarbeitungsprozess eingebracht. Gamze Kubaşık, die Tochter des 2006 vom NSU erschossenen Dortmunders Mehmet Kubaşık, betonte per Videobotschaft: „Es muss einen Raum geben, in dem das Recht auf Aufklärung und Wahrheit gegeben ist – etwas, was uns jahrelang verwehrt wurde.“ Der NSU müsse als Teil deutscher Geschichte verstanden werden. (epd/mig) Aktuell Panorama

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