Keine Lehren aus NSU
Forscherin: Gerichte zeigen große Defizite, Rassismus zu erkennen
Deutsche Gerichte prüfen Rassismus selten, mitunter reproduzieren sie ihn sogar. Carolin Stix hat Entscheidungen aus 20 Jahren untersucht und große Defizite festgestellt. Im MiGAZIN-Gespräch nennt sie haarsträubende Beispiele, erklärt, welche Handlungsbedarfe es gibt und was Rassismus in der Justiz für das Zusammenleben bedeutet.
Von Ekrem Şenol Donnerstag, 28.03.2024, 14:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 28.03.2024, 19:39 Uhr Lesedauer: 20 Minuten |
MiGAZIN: Erzählen Sie uns bitte kurz, worum es in Ihrem Buch „Subalternität, Rassismus, Recht. Eine Analyse der deutschen Rechtsprechung“ geht und warum das Thema wichtig ist?
Carolin Stix: Gerne. Die Arbeit untersucht das Zusammenspiel von Subalternität, Rassismus und Recht. Jeder dieser Begriffe umfasst eine andere Dimension gesellschaftlicher Macht. Mit Hilfe der Subalternitätsforschung habe ich dargestellt, wie sich die persönlichen Ausgrenzungserfahrungen rassifizierter Menschen in der öffentlichen Aushandlung von Normalitätsvorstellungen fortsetzen. Interessiert hat mich, ob und inwiefern sich diese Ausschlüsse auch in der deutschen Rechtsprechung wiederfinden. Ich habe dazu Gerichtsentscheidungen der letzten 20 Jahre rassismuskritisch untersucht. Zentral war für mich die Frage, auf welche Weise sich Rassismus auf die rechtliche Argumentation auswirkt.
Für den Kampf gegen Rassismus halte ich es für unerlässlich, möglichst genau zu verstehen, in welchen Bereichen rassistische Wissensbestände wie, weshalb und mit welchen Konsequenzen zum Tragen kommen. Einer besonders kritischen Würdigung sind dabei meines Erachtens staatliche Institutionen zu unterziehen. Gerade Gerichte sind zu Recht einer besonderen Gerechtigkeitserwartung ausgesetzt. Ungleichheitserfahrungen innerhalb der Judikative erschüttern das rechtliche Gleichheitsversprechen daher auf besonders gravierende Weise.
Wie haben Sie Gerichtsentscheidungen aus 20 Jahren untersucht? Wie sind Sie vorgegangen?
Es gibt viele unterschiedliche Wege, das Thema zu untersuchen. Ich hätte statt der gerichtlichen Entscheidungen, die ich mir angeschaut habe, etwa das Verfahren und hier die Kommunikation der Prozessparteien im Gerichtssaal untersuchen können. Meine Wahl fiel auf gerichtliche Urteile und Beschlüsse, weil sich die juristische Argumentationstechnik im Entscheidungstext leichter nachvollziehen lässt als im gesprochenen Wort. Da es mir gerade um eine systematische Analyse verschiedener Entscheidungen im gleichen Themenfeld ging, konnte ich so Querbezüge herstellen.
In einem zweiten Schritt habe ich darüber nachgedacht, welches Rechtsgebiet und damit verbunden, welche Gerichtsbarkeit ich analysieren möchte. Meine erste Intuition war, nachzuvollziehen, wie Gerichte das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) anwenden. Dieses verbietet eine „Benachteiligung aus Gründen der Rasse“, sodass naheliegt, durch einen Blick in die Rechtsprechung herauszufinden, was Gerichte unter Rassismus verstehen. Ich habe schnell gemerkt, dass ein solcher Fokus zu eng ist, um die aufgeworfene Frage zu beantworten. Vereinfacht gesagt: Rassismus ist nicht nur drin, wo „Rasse“ draufsteht. Rassistische Wissensbestände können sich auch auf Sachverhalte auswirken, die keine rassistische Diskriminierung verhandeln. Im Ergebnis habe ich daher neben zivil- und arbeitsgerichtlichen Entscheidungen auch solche der Straf- und Verwaltungsgerichtbarkeit ausgewertet und mir die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts angesehen.
Was sind die Kernergebnisse Ihrer Untersuchung?
Hinsichtlich der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ließ sich schnell feststellen, dass es im Vergleich zu anderen Diskriminierungsmerkmalen des Art. 3 Abs. 3 S.1 GG auffällig wenige Entscheidungen gibt, die eine rassistische Benachteiligung prüfen. Dieser Befund steht exemplarisch für die gesamte deutsche Rechtsprechung. Zugleich überrascht dies vor dem Hintergrund der tatsächlichen Bedeutung und Häufigkeit rassistischer Diskriminierungen.
„Die Entscheidungsanalyse offenbart, dass die deutsche Rechtsprechung erhebliche Schwierigkeiten hat, Lebenssachverhalte rassismuskritisch zu würdigen.“
Die Entscheidungsanalyse offenbart, dass die deutsche Rechtsprechung erhebliche Schwierigkeiten hat, Lebenssachverhalte rassismuskritisch zu würdigen und Rassismus im Anschluss rechtlich „zu verarbeiten“, das heißt tatbestandlich zu fassen. Insgesamt herrscht ein sehr enges Verständnis von Rassismus vor. Teilweise wird Rassismus etwa mit der politischen Ideologie des Rechtsextremismus gleichgesetzt und rassistisches Verhalten damit an hohe Hürden geknüpft. Terminologische Unsicherheiten hinsichtlich des Rechtsbegriffs „Rasse“ beispielsweise in Abgrenzung zu „ethnischer Herkunft“ mischen sich mit Defiziten, das Ausmaß der persönlichen Herabwürdigung und Ausschlusswirkung durch Rassismus angemessen zu berücksichtigen. Entgegen der Stoßrichtung des modernen Antidiskriminierungsrechts verbinden einige Gerichte Rassismus mit einem subjektiven Schuldvorwurf, fordern also ein vorsätzliches, mitunter feindseliges Verhalten, statt die strukturelle Wirkung rassistischer Ungleichheitsverhältnisse zu erfassen und der rechtlichen Beurteilung zu Grunde zu legen.
Wie zeigt sich Rassismus in deutschen Gerichtsurteilen im Allgemeinen? Gibt es Gerichtsbarkeiten die besonders oft auffallen?
Ich differenziere zwischen Gerichtsentscheidungen, die daran scheitern, Rassismus innerhalb der rechtlichen Bewertung zu erfassen und solchen, die selbst rassistische Deutungen reproduzieren.
Erstere kennzeichnet, dass die gerichtliche Prüfung auf die rassistische Dimension eines Sachverhalts nicht hinreichend eingeht oder die erlebte Benachteiligung bagatellisiert. Ich führe diesen Befund einerseits auf das verkürzte Rasse- und Rassismusverständnis der deutschen Rechtsanwendung zurück. Andererseits folgt der Befund mangelnden Kenntnissen über die Ausschlusswirkung von Rassismus. Negativ fällt vor allem die Strafgerichtsbarkeit auf. Die Mechanismen finden sich aber auch in der Rechtsprechung zum AGG, von der wegen der expliziten Verhandlung rassistischer Benachteiligungen ein höheres Maß an Sensibilität zu erwarten wäre.
„Unterschiede in der gerichtlichen Argumentation zwischen sog. „Ehrenmorden“ und sonstigen Partnertötungen gegenüber. Es zeigt sich, dass in die gerichtliche Beurteilung der Sachverhalte rassistische Annahmen, insbesondere zur islamischen Religion, einfließen.“
Innerhalb der zweiten Gruppe von Entscheidungen übernehmen Gerichte selbst rassifizierte Deutungen. Als Beispiel führe ich die Verfassungsbeschwerde einer Rechtsreferendarin aus Hessen an, die sich gegen ein ihr auferlegtes, pauschales Kopftuchverbot im Referendariat zur Wehr setzte. Darüber hinaus werte ich die Rechtsprechung zu Femiziden aus. Hierbei stelle ich die Unterschiede in der gerichtlichen Argumentation zwischen sog. „Ehrenmorden“ und sonstigen Partnertötungen gegenüber. Es zeigt sich, dass in die gerichtliche Beurteilung der Sachverhalte rassistische Annahmen, insbesondere zur islamischen Religion, einfließen. Die analysierten Entscheidungen stabilisieren so eine rassifizierte Vorstellung über das „Fremde“ als rückständig und offenbaren, wie verwoben die gerichtliche Argumentation mit diskursiv eingeübten Selbst- und Fremdzuschreibungen ist. Gleichzeitig illustrieren die Entscheidungen eine Verschiebung rassistischer Narrative weg von einer biologistischen hin zu einer scheinbar kulturellen Grundlage.
Nach den NSU-Morden wurde Paragraf 46 Absatz 2 StGB geändert. Es schreibt nun ausdrücklich vor, dass rassistische oder fremdenfeindliche Tatgründe bei Straftaten besonders zu beachten sind. Wie gehen Richter mit dieser Vorschrift um? Wenden Gerichte die Lehren aus dem NSU-Komplex in der Praxis an?
Ich möchte zunächst darauf hinweisen, dass es bereits vor der genannten Gesetzesänderung möglich war, rassistische Motive strafschärfend zu würdigen. Die Reform sollte insofern dazu beitragen, der strafrechtlichen Ahndung von rassistischem Tatverhalten zu mehr Konsequenz zu verhelfen und hatte damit hauptsächlich deklaratorischen Charakter.
„Trotz den Erfahrungen mit der NSU-Mordserie … erfolgt die Prüfung des § 46 Abs. 2 StGB noch immer zurückhaltend.“
Trotz den Erfahrungen mit der NSU-Mordserie und der besonderen Aufmerksamkeit, welche die Vorschrift durch die Reform erhielt, erfolgt die Prüfung des § 46 Abs. 2 StGB noch immer zurückhaltend und auffällig uneinheitlich. Innerhalb der Strafgerichtsbarkeit bestehen große Defizite, die rassistische Dimension einer Tat zu erkennen und als solche angemessen zu berücksichtigen. In vielen Fällen bleibt eine potenziell rassistische Tatmotivation unerwähnt, obwohl die Tatperson sich eindeutig rassistisch äußert oder die Auswahl der Opfer für eine rassistische Dimension des Angriffs spricht.
Erfolgt die Prüfung des § 46 Abs. 2 StGB doch, so spielen mitunter sachfremde Erwägungen in die Bewertung ein. Eine rassistische Tatmotivation wird etwa an eine rechtsextreme Ideologie geknüpft oder in die Nähe einer psychologischen Erkrankung gerückt. Letzteres geschieht, ohne zu thematisieren, dass auch im Falle einer möglicherweise herabgesetzten Hemmschwelle die Auswahl der Opfer keineswegs zufällig erfolgt.
Gibt es Beispiele, in denen Richter den Paragrafen 46 StGB hätten anwenden müssen, es aber unterlassen haben?
Ja, in meinem Buch habe ich mehrere Entscheidungen dargestellt, auf die dies zutrifft. Ich möchte zwei Urteile herausgreifen. In einem Fall des Landgerichts Magdeburg1 aus dem Jahr 2018 griff ein weißer Mann einen schwarzen Menschen im Bus, später eine migrantische Familie im Park an und beleidigte diese jeweils rassistisch. Das Gericht sah keinen Anlass, ein rassistisches Tatmotiv in der Strafzumessung anzusprechen. Positiv berücksichtigte es, dass der Angeklagte alkoholbedingt „enthemmt“ und im Vorfeld der Verhandlung „medial vorverurteilt wurde“. Als nachteilig für den Angeklagten wertete das Gericht lediglich, dass der Täter die Tat während einer laufenden Bewährungsstrafe verübte.
„Weil es aber keine Zugehörigkeit des Täters zur ‚rechten Szene‘ feststellen konnte, verneinte das Gericht ein rassistisches Tatmotiv. Um dies zu bekräftigen, führte es aus, dass der Angeklagte bereits bei ’syrischen Immigranten‘ zum Essen eingeladen war, was er interessant gefunden und genossen habe.“
Die zweite Entscheidung verdeutlicht, dass auch dann, wenn Gerichte die rassistische Tatmotivation erkennen, keine überzeugende Bewertung gewährleistet ist. Das Landgericht Regensburg2 hatte über einen Mann zu urteilen, der mit einer Machete bewaffnet in eine Geflüchteten-Unterkunft stürmte. Zuvor hatte er gerufen, er werde nun rübergehen und „Asylanten“ bzw. „Ausländer abschlachten“. Auch beim Eintritt in das Gebäude und einer späteren körperlichen Auseinandersetzung mit einem Bewohner äußerte sich der Täter wiederholt und eindeutig rassistisch. Das Gericht urteilte, dass sich der Angeklagte zwar „durchaus negativ“ über „die Flüchtlingsproblematik“ geäußert habe. Weil es aber keine Zugehörigkeit des Täters zur „rechten Szene“ feststellen konnte, verneinte das Gericht ein rassistisches Tatmotiv. Um dies zu bekräftigen, führte es aus, dass der Angeklagte bereits bei „syrischen Immigranten“ zum Essen eingeladen war, was er interessant gefunden und genossen habe. Mit dieser Feststellung endet die Prüfung möglicher rassistischer Tatmotive. Weder die beleidigenden Aussagen noch die Auswahl der Opfer fand Eingang in die Abwägung des Gerichts.
Gibt es auch Urteile aus Zivilgerichten, in denen mögliche rassistische Hintergründe nicht oder wenig berücksichtigt wurden?
Ich kann von einem Berufungsfall berichten, den das Landesarbeitsgericht Hessen3 zu entscheiden hatte. Gegenstand des Verfahrens war eine Klage auf Entschädigungszahlung eines indisch-stämmigen Arbeitnehmers, der vorträgt, über einen mehrjährigen Zeitraum fast täglich Opfer rassistischer Diskriminierungen durch seine Kollegen geworden zu sein. Das Gericht urteilte, es könne offenbleiben, ob die strittigen Aussagen tatsächlich gefallen sind. Selbst wenn, wäre deutlich geworden, dass die Äußerungen lediglich dazu dienten „sich angesichts der andauernden dysfunktionalen Zusammenarbeit mit den Kollegen in Indien (…) Luft zu verschaffen und abzureagieren.“ Das Gericht resümiert, dass selbst dann, wenn der Kläger „als einzig anwesender Inder von den Kollegen als ‚Blitzableiter‘ missbraucht worden sein sollte“, immer klar war, „dass er zu keiner Zeit der Adressat der pauschalen Abwertung war“. Die Vorstellung, es könne zwischen einer pauschalen und einer konkreten Betroffenheit von Rassismus unterschieden werden, geht fehl. Das Gericht verharmlost so nicht nur Rassismus unterhalb der Schwelle einer körperlichen Auseinandersetzung. Es verkennt ebenfalls den Unterschied zwischen einer individuellen Kränkung und einer rassistischen Beleidigung, die eine historisch gewachsene Machtstruktur aktiviert und daher ein besonderes Kränkungs- und Bedrohungspotenzial aufweist.
Zugleich möchte ich darauf hinweisen, dass ich gerade im Arbeitsrecht auch auf rassismuskritisch auffällig versierte Entscheidungen gestoßen bin. Eine Entscheidung des Arbeitsrechts Berlin4 zeigt beispielsweise nicht nur ein hohes Maß an Empfindsamkeit, sondern operiert zudem mit einem interdisziplinär informierten Verständnis von Rassismus. Das Gericht macht lange Ausführungen zur besonderen Bedeutung von Alltagsrassismus und zu dessen einschüchternden Effekten, die für Betroffene von solchen Erfahrungen ausgehen. Die Entscheidung überzeugt auch deshalb, weil das Gericht berücksichtigt, dass eine rassistische Beleidigung stets an ein bestehendes Machtverhältnis anknüpft, welches sich auf diese Weise stabilisiert und das Ausmaß der Herabwürdigung verstärkt.
Rassismus kommt in nahezu allen Bereichen des Lebens vor. Bei der Wohnungssuche, bei der Arbeitsuche oder an der Diskotür. Nur wenige dieser Fälle landen erfahrungsgemäß vor Gericht. Besteht die Gefahr, dass von Rassismus Betroffene vor Gericht ein weiteres Mal Opfer werden?
Leider ist diese Frage eindeutig zu bejahen. Dies zeigen allein die wenigen Entscheidungen, die ich in meiner Arbeit ausführlicher darstellen konnte. Wenn Gerichte die rassistische Erfahrung von Betroffenen verkennen, bagatellisieren oder sich gar selbst an der Rassifizierung von Menschen beteiligen, kann dies verletzten und ein Gefühl der Hilflosigkeit entstehen lassen.
„Gerichte reduzieren beispielswiese die Höhe der Entschädigung deutlich, weil die rassistische Behandlung der betroffenen Person ‚von Anfang an bewusst‘ gewesen sei. Diese habe ‚damit gerechnet‘, diskriminiert zu werden.“
Ich möchte diese Hilflosigkeit an einem Beispiel illustrieren. Eine besondere Schwierigkeit im Zusammenhang mit rassistischen und sonstigen Diskriminierungen besteht darin, diese zu beweisen. Zwar reicht es nach § 22 AGG aus, dass eine Person Indizien vorträgt, die eine Benachteiligung vermuten lassen, um die Beklagten mit dem Gegenbeweis zu belasten. Trotz allem ist die Beweisführung vor Gericht nicht einfach. In meiner Arbeit habe ich dies anhand eines Vergleiches verschiedener Diskotheken-Fälle dargestellt. Die Betroffenen sind hier der besonderen Schwierigkeit ausgesetzt, zu belegen, dass es sich bei der Einlassverweigerung nicht um eine zufällige, einmalige Ablehnung aus welchen Gründen auch immer, sondern um eine rassistische Diskriminierung handelt. In der Praxis werden hierzu Testing-Verfahren eingesetzt, um Anhaltspunkte für eine strukturelle Diskriminierung zu erhalten. Testpersonen suchen gezielt verschiedene Clubs auf und zählen, wie oft sie abgewiesen werden. In den von mir untersuchten Verfahren nehmen die Gerichte dieses Vorgehen zum Anlass, den erlebten Diskriminierungen ein geringeres Gewicht beizumessen. Gerichte reduzieren beispielswiese die Höhe der Entschädigung deutlich, weil die rassistische Behandlung der betroffenen Person „von Anfang an bewusst“ gewesen sei. Diese habe „damit gerechnet“, diskriminiert zu werden und hätte „sich auch darauf einstellen“ können.
In Fällen, denen kein Testing-Verfahren zugrunde lag, ist hingegen der Beweis einer rassistischen Diskriminierung kaum möglich. So verweist etwa ein Gericht darauf, dass es sich bei der Abweisung um ein „Maß gewissermaßen täglichen Unrechts“ handele, welches „jedem Menschen alltäglich in jeglicher Lebenssituation widerfahren“ könne5. Die gegenwärtige Rechtsprechung kann die Betroffenen so in eine Zwickmühle versetzen: Entweder lehnen die Gerichte eine Diskriminierung aufgrund mangelnder Beweise ab oder aber die Beweiserhebung, das heißt das Testing-Verfahren, wird dafür herangezogen, die Diskriminierungserfahrung zu relativieren.
Gerichte entscheiden auch über politische Streitigkeiten, beispielsweise über Wahlplakate oder über Wortgefechte in Parlamenten. Welche Auffälligkeiten bzw. Entscheidungen sind Ihnen während Ihrer Recherche begegnet?
Sie sprechen hier eine komplexe und schwierige Konstellation an. Denn die Wahlplakate fallen in den Schutzbereich der Meinungs- und Parteienfreiheit, parlamentarische Debatten werden durch das freie Mandat und die hieraus ableitbaren Rederechte der Abgeordneten besonders geschützt. Das Bundesverfassungsgericht hat in zahlreichen Entscheidungen auf die überragende Bedeutung der freien Rede für das demokratische Gemeinwesen hingewiesen. Es betont, dass eine Meinung ihrem Wesen nach auch polemisch oder verletzend sein darf. Gleichzeitig gefährdet ein grenzenloser Schutz der Meinungsfreiheit die grundrechtlich geschützte Diskriminierungsfreiheit. Die Aufgabe von Gerichten besteht also darin, die Meinungsfreiheit mit anderen Rechtsgütern, wie dem Persönlichkeitsschutz, abzuwägen und in einen schonenden Ausgleich zu bringen.
„Die Grenzziehung zwischen zulässiger Meinungsäußerung und unzulässiger Diskriminierung vollzieht sich so maßgeblich durch die Perspektive jener Menschen, die zuvor nicht von den einschüchternden Effekten der Hassrede betroffen waren.“
Aus rassismuskritischer Perspektive ist auffällig, dass die Rechtsprechung ein „verständiges Durchschnittspublikum“ imaginiert, um mehrdeutige Plakattexte zu bewerten. Den Maßstab dieser Bewertung können dabei nur solche Stimmen prägen, die im Diskurs tatsächlich vorkommen und als „allgemein“ und „normal“ gelten. Durch rassistische Ausschlüsse werden dabei bestimmte Wahrnehmungen bei der Maßstabsbildung vernachlässigt und vor allem privilegierte, das heißt weiße Sichtweisen berücksichtigt. Die Grenzziehung zwischen zulässiger Meinungsäußerung und unzulässiger Diskriminierung vollzieht sich so maßgeblich durch die Perspektive jener Menschen, die zuvor nicht von den einschüchternden Effekten der Hassrede betroffen waren. Eine stärkere, rassismussensible Regulierung des Diskurses wird deshalb vornehmlich als Freiheitsbeschränkung wahrgenommen. Dass eine stärkere Regulierung für Menschen, die von Rassismus betroffen sind, ebenfalls freiheitsfördernd wirkt, gerät demgegenüber aus dem Blickfeld. Unter Rückgriff auf die Subalternitätsforschung argumentiere ich daher dafür, gleichheitsrechtliche Erwägungen in die Prüfung der Meinungsfreiheit einzubeziehen.
Was halten Sie vom Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz? Wird es seinem Namen gerecht?
„Ob das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz seinem Namen gerecht wird? Wohl kaum.“
Eine weite Frage und eine, zu der es viel zu sagen gäbe. Es lässt sich wohl festhalten, dass das AGG zur Zeit des Erlasses im Jahr 2006 eine enorme gleichheitsrechtliche Errungenschaft war. Insofern begrüße ich, dass mit dem AGG ein einfachgesetzliches Instrument zur Verfügung steht, um Diskriminierungen justiziabel zu machen. Ob es seinem Namen gerecht wird? Wohl kaum. Allgemein ist das Gesetz schon deshalb nicht, weil es nur Benachteiligungen aus bestimmten Gründen erfasst, nämlich der Rasse, der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität. Die Auswahl dieser Diskriminierungsmerkmale ist weder abschließend noch zwingend, sondern das Ergebnis konkreter politischer Entscheidungsprozesse. Das AGG wird deshalb seit seinem Bestehen von der Forderung begleitet, den Katalog der Benachteiligungsgründe zu ändern und/oder auszuweiten.
Darüber hinaus bietet das Gesetz selbst innerhalb der erfassten Diskriminierungsverhältnisse keinen hinreichenden Schutz vor Ungleichheitserfahrungen. Dies liegt nicht nur an den oben beschriebenen Problemen, die Rechtsbegriffe auszulegen und anzuwenden, sondern auch an ganz konkreten Schwachstellen des Gesetzes. Um einige davon anzureißen sei beispielsweise auf die kurze Klagefrist von 2 Monaten verwiesen, die für die Betroffenen häufig nicht ausreicht, um eine notwendige Beratung rechtzeitig einzuholen. Ebenfalls sieht das AGG nur sehr begrenzte Klagemöglichkeiten für Verbände vor, die es ermöglichen würden, Personen vor Gericht umfassend zu vertreten oder Rechtsverletzungen im eigenen Namen gerichtlich feststellen zu lassen. Zudem ist das Handeln von Behörden und öffentlichen Stellen bislang nicht vom AGG erfasst, sodass institutioneller Rassismus durch das AGG nicht wirksam geahndet werden kann. Fachleute fordern daher seit Jahren umfangreiche Reformen des AGG.
Warum denken Sie, dass es Rassismus in deutschen Gerichtsentscheidungen gibt?
Es liegt leider nahe, dass die Justiz, wie jeder andere Teil der Gesellschaft, solange von Rassismus beeinflusst ist, bis wir es schaffen, diesem gesamtgesellschaftlich wirksam entgegen zu treten. Gleichzeitig zeigt meine Untersuchung, dass die Ursachen rassistischer Entscheidungen vielschichtiger sind und etwas über unser Verständnis von Recht und dessen Anwendung verraten. Entgegen der idealtypischen Vorstellung des neutralen, unpolitischen und objektiven Rechts bestehen in der rechtlichen Bewertung häufig große Interpretationsspielräume. Innerhalb dieser Spielräume können das persönliche Vorverständnis der rechtsanwendenden Person, deren Normalitätsvorstellung und Lebenserfahrung eine entscheidende Rolle spielen. Defizite in der juristischen Methodenlehre verstärken diesen Umstand. Auch die juristische Ausbildung ist bislang nicht darum bemüht, angehende Richterinnen und Richter für diese Zusammenhänge zu sensibilisieren. Hinzu kommt, dass gleichheitsrechtlichen Fragestellungen im Studium und Referendariat nur eine untergeordnete Bedeutung zukommt. Die ohnehin herausfordernde Aufgabe, strukturelle Diskriminierungsverhältnisse zu erkennen und zu bekämpfen, wird also durch die Defizite in der juristischen Ausbildung zusätzlich erschwert.
Welche Auswirkungen haben rassistische Urteile auf die Betroffenen und die Gesellschaft im Allgemeinen?
„Rassistische Entscheidungen erodieren so das Vertrauen in den Staat und seine Organe und rütteln damit an einer wesentlichen demokratischen Grundvoraussetzung.“
Eine spannende Frage, zu deren hinreichender Beantwortung sicher eine eigene Untersuchung angezeigt wäre. Ich kann aus meiner Beschäftigung berichten, dass Betroffene ein Gerichtsverfahren – unabhängig vom konkreten Ergebnis – als aufwühlend, belastend oder sogar re-traumatisierend erleben, etwa wenn die Konfrontation mit einer Tatperson notwendig ist. Durch die mangelnde rassismuskritische Sensibilität vieler Gerichte verstärkt sich die ausgrenzende Erfahrung nicht nur, sie potenziert sich, indem der Staat die Ungleichheit zu normalisieren und legitimieren scheint. Dies hat aus meiner Sicht viel mit der besonderen Funktion zu tun, die Gerichte innerhalb des Rechtsstaats einnehmen. Als unabhängige und neutrale Institutionen sollen Gerichte sicherstellen, dass Menschen in einem fairen Verfahren rechtliches Gehör erfahren. Vor Gericht unverstanden zu bleiben, kann das Gefühl, gesellschaftlich ausgeschlossen zu sein, enorm verstärken. Rassistische Entscheidungen erodieren so das Vertrauen in den Staat und seine Organe und rütteln damit an einer wesentlichen demokratischen Grundvoraussetzung. Die Betroffenen spüren, dass es an dem notwendigen Korrektiv fehlt, rassistische Denk- und Verhaltensweisen zu sanktionieren. Wenn sogar der Schiedsrichter ungerecht ist, wieso sollten es die Spieler sein?
Die Auswirkungen rassistischer Entscheidungen auf die Gesellschaft sind im Einzelnen schwer zu fassen. Für das demokratische Gemeinwesen birgt struktureller Rassismus in der Justiz jedenfalls eine enorme Gefahr. Die Unrechtserfahrungen Einzelner können einen Rückzug aus gesellschaftlich geteilten Räumen oder dem Diskurs zur Folge haben. Dieser Rückzug führt zu einem Verlust an Stimmen und mithin an demokratischer Vielfalt.
Wie können wir als Gesellschaft darauf reagieren, wenn rassistische Tendenzen in der Justiz offensichtlich werden?
Zunächst möchte ich darauf verweisen, dass das Recht selbst verschiedene Reaktionsmöglichkeiten vorsieht. Eine Entscheidung kann beispielsweise innerhalb des vorgesehenen Instanzenzugs korrigiert werden. Dies mag die erlebte Ungleichheitserfahrung nicht gänzlich ausgleichen, setzt aber zumindest dem Vertrauensverlust eine positive Erfahrung entgegen. In einem anderen mir bekannten Einzelfall wurde ein rassistischer Richter im Wege einer Dienstaufsichtsbeschwerde aus dem Dienst entfernt und so an der weiteren Verbreitung rassistischer Narrative im Amt gehindert. Es gibt also durchaus rechtliche Instrumente, mit denen rassistischen Tendenzen in der Justiz entgegengewirkt werden kann, wenngleich diese bisher zu selten Wirkung zeigen.
„Insbesondere Menschen, die nicht nachteilig von Rassismus betroffen sind, stehen in der Verantwortung, sich mit den eigenen Privilegien und unbewussten rassistischen Vorannahmen kritisch auseinanderzusetzen.“
Denn, das Problem besteht in den meisten Fällen nicht in dezidiert rechtsextremen oder rassistischen Richtern und Richterinnen. Jenseits politischer Überzeugungen wirken sich rassistische Wissensbestände auch deshalb auf gerichtliche Entscheidungen aus, weil die Gerichte unzureichende Kenntnisse über die unterschiedlichen Erscheinungsformen von Rassismus haben. Erforderlich ist daher, sich mit Gerichtsentscheidungen innerhalb der Fachdisziplin rassismuskritisch auseinanderzusetzen, diese zugleich öffentlich zu diskutieren und weiterhin über die exkludierenden Mechanismen von Rassismus aufzuklären. Als Gesellschaft sollten wir dabei lernfähig sein. Insbesondere Menschen, die nicht nachteilig von Rassismus betroffen sind, stehen in der Verantwortung, sich mit den eigenen Privilegien und unbewussten rassistischen Vorannahmen kritisch auseinanderzusetzen.
Welche Maßnahmen könnten ergriffen werden, um die Wahrscheinlichkeit rassistischer Urteile zu verringern?
Einige Maßnahmen sind bereits angeklungen. Ich würde die bestehenden Potenziale in zwei Kategorien unterteilen. Zum einen bestehen zahlreiche Möglichkeiten, das geltende Recht zu ändern und den Rechtsschutz gegen Rassismus zu stärken. Der Anspruch muss allerdings darüber hinaus gehen. Denn auch ein ausdifferenzierter Rechtsschutz vor rassistischer Benachteiligung kann nicht verhindern, dass infolge gerichtlicher Argumentation Schutzlücken für die Betroffenen entstehen. Rechtswissenschaft und Rechtspolitik sind daher angehalten, ihre antirassistische Kompetenz zu stärken. Einzelne Entscheidungen zeigen, dass – jenseits gesetzlicher Änderungen – bereits eine erhöhte Sensibilität für rassistische Ungleichheit die Entscheidungen in gleichheitskritischer Hinsicht verbessert. Das Justizpersonal selbst muss nicht nur kompetenter darin werden, Rassismus in den sich verändernden Erscheinungsformen zu erkennen und rechtlich zu fassen. Auch die eigene gesellschaftliche Position und daraus resultierende Erfahrungslücken müssen im Recht stärker reflektiert werden. Es würde helfen, wenn das juristische Personal insgesamt diverser wäre und so vielfältigere Erfahrungen in sich vereinen würde. Dies würde nicht nur eine gerechtere Verteilung gesellschaftlicher Machtpositionen mit sich bringen, sondern die Rechtsanwendung qualitativ stärken.
Wie ist der Forschungsstand zum Thema. Was sollten künftige Studien zu diesem Thema untersuchen?
Lange gab es im deutschsprachigen Raum nur wenige Publikationen zum Thema Recht und Rassismus. Dies hat sich in den letzten Jahren erfreulicherweise geändert. Gleichwohl ist das Forschungsfeld noch immer im Werden begriffen. Eine Institutionalisierung und teilweise auch die Berücksichtigung der Forschungsergebnisse im Mainstream stehen daher erst am Anfang.
Neben weiterer Grundlagenforschung und umfangreicher Begriffsarbeit braucht es nach meinem Dafürhalten vor allem empirische Untersuchungen, um die Schwachstellen des Rechtsschutzes in der Praxis erkennen und beheben zu können. Wie eingangs bereits erwähnt: Das zu untersuchende Feld ist groß und gerade im Gerichtssaal selbst wirken sich rassistische Wissensbestände besonders stark aus. Die Rechtswissenschaft sollte sich daher einer interdisziplinären Zusammenarbeit öffnen und von den etablierten Untersuchungsmethoden der Soziologie und Politikwissenschaft genauso lernen wie von der internationalen Rassismus- und Gleichheitsforschung.
Frau Stix, vielen Dank für das Gespräch! (es/mig)
- (Urt. v. 11.12.2018, 22 KLs 230 Js. 15079/18 (11/18))
- (Urt. v. 24.11.2016, Ks 102 Js 3382/16)
- (Urt. v. 18.06.2014, Sa 855/13)
- (Beschl. v. 05.05.2021, 55 BV 2053/21)
- (AG Tübingen, Urt. v. 06.07.2011, 7 O 111/11)
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