Paul Mecheril, Professor, Bielefeld, Erziehungswissenschaft, Antisemitismus, Wissenschaftler, Universität
Prof. Paul Mecheril, Erziehungswissenschaftler, Uni Bielefeld © MiG

Nahost

Wo vernichtet mein Urteil?

Ich weiß es nicht, aber ich bin gegen Grausamkeit und suche sie zu benennen und jene Grausamkeit, die anderen widerfährt, frisst sich in mich hinein und macht mich beschämend stumm.

Von Donnerstag, 16.11.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 16.11.2023, 11:24 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Ist die Forderung nach einer humanitären Pause der Angriffe durch das israelische Militär antisemitisch? Wird in dem Vorwurf, diese Forderung sei antisemitisch, der Vorwurf instrumentalisiert, um mörderische Gewalt nicht zuletzt gegen Kinder fortzusetzen? Wird diese Anfrage an den Vorwurf nicht von einem antisemitischen Ressentiment genährt und nährt dieses?

Antisemitismuskritik beginnt mit Fragen, die ich mir selbst so zu stellen traue, dass ich in Frage stehe. Nicht immer nur und nicht immer nur eindeutig die anderen … bitte, nicht immer nur die anderen

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Das Gesicht und wohl auch der Motor der gegenwärtigen EUropäischen Fluchtpolitik ist die Neo-Faschistin Meloni, deren Nähe alle wichtigen Europäischen Politiker von Orban, über Scholz bis van der Leyen suchen. Diese Politik legt es mit Mitteln der erstens diskursiven und rechtlichen Illegalisierung von Flucht in Zeiten multipler Kriege und der zunehmenden ökologischen, nicht zuletzt von den europäischen Industriestaaten in den zurückliegenden Jahrzehnten hauptverursachten Zerstörung von Lebensgrundlagen vieler, und zweitens der Brutalisierung der Grenzziehungen darauf an, Europa vor der Verunreinigung durch natio-ethno-kulturell als anders kodierten Körper zu schützen. Was hat dieser Rassismus mit den antisemitischen Artikulationen aus bestimmten migrantischen Milieus zu tun? Wer profitiert von pauschalisierenden Antisemitismusvorwürfen gegen migrantisierte, muslimisierte und muslimische Subjekte? Impliziert diese Frage bereits die Legitimation von Antisemitismus?

„Als vorrangiger Maßstab der Kritik fungiert dies: die Minderung von Grausamkeit – überall, für alle.“

Wenn die Hamas als Organisation und programmatisch auf die Zerstörung Israels und die Errichtung eines „Gottesstaates“ aus ist, dann sollte die internationale Staatengemeinschaft (oder welche Instanz auch immer) alles Gebotene und Vertretbare tun (ich sage nicht: tötet die Menschen!), um dies zu verhindern.

Denn, die Verhinderung dessen dient der Idee einer bestimmten politischen Ordnung. Diese gilt es zu bewahren. Gerade jetzt. In ihr steht die demokratische Kritik an dieser Ordnung mit dem Ziel weitreichenderer und zunehmender Demokratisierung im Mittelpunkt. Eine Ordnung der Kritik der Ordnung. Dafür setzen wir uns ein. Es geht um die Demokratisierung der (welt-)gesellschaftlichen Verhältnisse. Wir, wer immer dieses Wir auch sein mag, und es sollte ein maximal inklusives Wir sein und all jene umfassen, die von den Ergebnissen des politischen Entscheidungsprozesses betroffen sind, stehen für eine Ordnung der politischen Möglichkeit von Selbstkritik ein. Als vorrangiger Maßstab der Kritik fungiert dies: die Minderung von Grausamkeit – überall, für alle.

Die demokratisierende Kritik, um die es hier geht, bezieht sich auch auf den Nationalstaat (ich sage nicht: auf das Existenzrecht Israels!). Wenn es entschieden um die Minderung von Grausamkeit geht, werden nicht zuletzt heute die funktionalen und normativen Grenzen der Praxis des Nationalstaatlichen deutlich. Das Nationalstaatliche als Ordnungsprinzip ist nur bedingt in der Lage, die politischen Probleme und Fragen der Gegenwart (nicht zuletzt: multiple menschenverzehrende Tragödien und die trennenden Spuren, die diese Tragödien in den Körpern hinterlassen; das die Zukunft einer Menschheit der Vielen nichtende Anthropo- oder besser: Kapitalozän; Fluchtbewegung und die faschistische Reaktion, nicht zuletzt in Europa, die zu den Gewehren greift und abdrückt …) zu erkennen, zu bearbeiten, geschweige denn zu beantworten.

Ich zähle die Toten in Gaza.
Ich zähle vergeblich.
Wie dumm ich bin.

„Welche politische Instanz entscheidet nach welchen Gesichtspunkten, welche Form von Leid und Elend in Kauf genommen werden muss, um größeres Leid zu verhindern?“

Das Selbstverteidigungsrecht der Nation ist etwas, dass wir gegenwärtig offensichtlich noch benötigen, wie viele Menschen in der Ukraine und auch in Israel bezeugen werden. Und zugleich ist der Topos des Selbstverteidigungsrechts der Nation nicht mehr zeitgemäß, war es womöglich niemals, so wie die Idee der Nation, des Volkes womöglich immer unzeitgemäß war, konstitutiv unzeitgemäß ist. Welche politische Instanz entscheidet nach welchen Gesichtspunkten, welche Form von Leid und Elend in Kauf genommen werden muss, um größeres Leid zu verhindern? Die Dysfunktionalität und Grausamkeit der libidinösen Bindung an partikulare Kollektivität offenbart sich nicht zuletzt im Krieg. Wir sind Zeitzeuginnen so vieler Kriege (die in ganz unterschiedlichen Formen ausgetragen und gezeigt werden). Die leidenschaftliche politische Bindung an jenes Partikulare, das sich in Formen wie Volk, Nation, Kultur, Religion zum Ausdruck bringt, ist potenziell grausam, weil es das, was die Form nicht ist, nicht zulässt und zuweilen zu vernichten trachtet.

Aber vielleicht sind die markierten Fragen und Überlegungen, also dieser Text, auch Teil der Praxis, die die Erkundung der Bedingungen der Möglichkeit der Besprechung von Fragen und der Erwägung von Auswegen und ihrer Beschreitung erschwert. Nicht erst seit dem siebten Oktober, seither aber in besonderer Intensität wird von vielen gesprochen und noch viel mehr geurteilt. Zuweilen scheint es gar einen Beurteilungs- und Bekenntniszwang zu geben. Bekenne Dich zu unserer Analyse- und Affektgemeinschaft, oder Du wirst verdammt sein (von uns) – welch sakrale Anmaßung. Bist Du für oder gegen Israel? Bist Du für oder gegen den (Stand-)Punkt, von dem aus der Westen der Verantwortung für das Leid in der Ukraine, in der Levante, im Sudan (jedes Kind, sagt Jean Ziegler, das Hungers stirbt, wird ermordet) bezichtigt wird? Bist Du für oder gegen den Nationalstaat? Bist Du für oder gegen borders? Bist Du für oder gegen die Kritik des Kolonialismus? Und zwar einer Kritik, die unsere Kritik ist? Bist Du für oder gegen Israelkritik? Bist Du für oder gegen Antisemitismus? Und bist Du damit für oder gegen Rassismus?

Die Ereignisse vor und nach dem siebten Oktober (nicht aber am 7. Oktober) sind nicht einfach einzuschätzen und zu beurteilen. Analytisch, affektiv und kommunikativ ist es schwer, der Komplexität, der Multiperspektivität und Widersprüchlichkeit der Ereignisse (nicht am 7. Oktober und nicht an den Tagen des Bombardements; Gewalt kann kontextualisiert werden, auch relationiert – nicht aber Leid) zu entsprechen. Wie sprechen? Wie sich aus der aufgewühlten, zuweilen aufgeblasenen und aufgeplusterten, aufgeladenen, und zum zumindest symbolischen Töten bereiten Atmosphäre der Gegenwart zurückziehen? Wie sich nicht aus der aufgewühlten, zuweilen aufgeblasenen und aufgeplusterten, aufgeladenen, und zum zumindest symbolischen Töten bereiten Atmosphäre der Gegenwart zurückziehen? Wie in der Gegenwart bleiben? Wie diese mit anderen teilen? Wie diese mit anderen teilen, die anders verletzt sind und in anderen Narrativen und Erfahrungen zu Hause sind? Wie diese mit anderen anders teilen, so dass Ansätze der Minderung von Grausamkeit gestärkt werden – überall, für alle?

„Die Intellektuellen zeigen, dass auch ihr Blick analytisch eingeschränkt und ihr Urteil geprägt ist von Parteinahme und von dem aus ihrer Biografie resultierenden Affektiven. Sie sprechen klug, aber auch falsch.“

Viele Intellektuelle haben sich seit dem siebten Oktober geäußert (Butler, Illouz, Žižek, um nur einige zu nennen). Die Intellektuellen zeigen, dass auch ihr Blick analytisch eingeschränkt und ihr Urteil geprägt ist von Parteinahme und von dem aus ihrer Biografie resultierenden Affektiven. Sie sprechen klug, aber auch falsch. Das ist nicht verwunderlich, da es vielleicht menschlich ist, dass nicht zuletzt in Krisen, im vielfachen und sich überlagernden und sich auszuschließen scheinenden Leiden und Leid, das verstörend affiziert, der Mensch analytisch eingeschränkt spricht und zu viel zu schnellen Urteilen neigt. Mag sein.

Mag sein; und gegen das Anthropologische, es transzendierend, braucht es Besonnenheit, gerade in Zeiten des Krieges, gerade in diesen Zeiten.

Was weiß ich nicht?
Inwiefern ist mein Nicht-Wissen funktional für das Vertuschen von Unrecht und Ungerechtigkeit?
Inwiefern ist mein Urteil einseitig und parteiisch?
Wo vernichtet mein Urteil?
Wen?

Vielleicht verlangt die Zeit des Krieges für die, die ihn beobachtend und kommentierend erleiden, das eigene Wissen weniger als Instrument der Anklage einzusetzen und stärker als suchendes, bescheidenes, gleichwohl entschiedenes Angebot zum wechselseitig aufklärenden Gespräch bereit zu stellen. Vielleicht. Wie kann es gelingen? Wie kann es in einer Weise gelingen, die nicht auf das gute Gefühl derer beschränkt ist, die kommentieren und beobachten, sondern einen Beitrag zu weniger Grausamkeit leistet? Überall.

Info: Dieser Beitrag ist eine Kooperation von MiGAZIN mit dem Netzwerk Rassismuskritische Migrationspädagogik Baden-Württemberg, das unter dem Dach von adis e.V. Antidiskriminierung – Empowerment -Praxisentwicklung organsiert ist. Das Netzwerk versteht sich als Forum von Menschen aus den Feldern Soziale Arbeit, Schule, Bildung/Weiterbildung, Hochschule sowie angrenzenden Professionen, die sich fachlich und (fach-)politisch in den Feldern Soziale Arbeit, Schule, Weiterbildung – und auch darüber hinaus – einmischen und dort Rassismus selbststärkend, reflexiv-kritisch und wenn nötig auch skandalisierend zum Thema machen. Das Netzwerk informiert Interessierte in regelmäßigen Abständen von circa zwei Monaten per E-Mail-Newsletter über aktuelle Entwicklungen, Veranstaltungen und Publikationen im Feld der Migrationspädagogik.

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