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MiGAZIN Kolumnist Sven Bensmann © privat, Zeichnung MiG

Nebenan

Sabbat-Wochen

Ich habe mir eine Nachrichten-Auszeit gegönnt und Baldur’s Gate gespielt, ein Computer-Rollenspiel, in dem es um die da oben, Politiker, die da unten, Flüchtlinge, geht – und um menschliche Nettogewinne.

Von Montag, 13.11.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 13.11.2023, 11:12 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Ich gebe es zu: Die letzten Wochen habe ich mir aus Gründen der emotionalen und psychischen Gesundheit eine Nachrichten-Auszeit gegönnt, ein Sabbatical sozusagen. Zu viel Kriegspropaganda tut dem Menschen einfach nicht gut.

Am letzten Dienstag dann habe ich doch einmal einen Blick riskiert. „Wenn in Deutschland über Geflüchtete diskutiert wird,“ stand es da skeptisch auf tagesschau.de, „geht es in der Regel emotional zu.“ Zu deutsch: Wir müssen endlich von dieser wahnhaften Idee wegkommen, bei Flucht gehe es um notleidende Menschen, die große Gefahren und Strapazen auf sich nehmen, um einer noch größeren Not zu entfliehenwo so ein Geflüchteter doch eigentlich nur eine Zahl auf dem Papier ist. Und bei Zahlen gilt ja doch ganz unemotional: „Je größer, desto schlümm.“ Früher war mehr Menschlichkeit, Graf Zahl. Bittedankeschön. Genug Internet für heute.

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Stattdessen habe ich, hochemotional, etwas Zeit mit dem Videospiel des Jahres verbracht. Baldur’s Gate 3 – für alle, die es nicht kennen – ist ein Rollenspiel, dass in der High-Fantasy-Tradition von Der Herr der Ringe steht und in den letzten Wochen und Monaten auch außerhalb der Gamerszene große Beachtung für seine tolle Erzähltiefe, aber auch seine progressive Herangehensweise an Themen wie Trans-, Homo- oder Polysexualität, an Feminismus und Sexpositivity wurden immer wieder hervorgehoben – natürlicherweise von den einen positiver, von anderen negativer.

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„…sind sie mindestens ein Störfaktor, weil, so deren Sicht der Situation, das Boot nunmal voll ist und mit all den Flüchtlingen zu kentern droht…“

Gleich am Anfang des Spiels wird der Spieler dabei vor eine Frage gestellt, die im Kontext des Ortes des Erscheinens dieses Textes besondere Aufmerksamkeit verdient: Die Höllen selbst hat eine Reihe von teufelsgesichtigen Humanoiden ausgespuckt, deren Heimat vernichtet wurde, die bloß überleben wollen und sich dabei nun in einem Druidenhain eingenistet haben. Für die naturverbundenen Druiden, die nur im Einklang mit ihrer Umwelt leben wollen, sind sie mindestens ein Störfaktor, weil, so deren Sicht der Situation, das Boot nunmal voll ist und mit all den Flüchtlingen zu kentern droht. Die Spieler:Innen werden in die Mitte dieses Konflikts geworfen, weil sie auf der Suche nach Heilung für die zentrale Motivation der Rahmenhandlung, einen Wurm, der sich konstant durch das Hirn der Protagonist:In frisst, auf die Hilfe der Druiden angewiesen scheint.

Liest man regelmäßig „Bild“ oder NZZ oder folgt der aktuellen Politik der Bundesregierung, dann ist eigentlich klar, was hier zu tun ist – und obwohl das Spiel nie klar zwischen Gut oder Böse unterscheidet, nie einseitig gute Handlungen belohnt oder böse bestraft, nie beurteilt, ist selbst unter den Spielern (die in den Massenmedien ja immer noch gern als toxisch-maskuline Soziopathen oder ähnliches abgetan werden) absolut unbestritten, dass es die moralisch richtige, die gute Entscheidung ist, die eigenen Bedürfnisse hintan zu stellen, um den Flüchtlingen mit ihrem Asyl zu helfen, und das es umgekehrt nur bösen Charakteren angemessen ist, diese Flüchtlinge des eigenen Vorteils wegen und zugunsten einer der anderen Fraktionen hängenzulassen, die immerhin Heilung versprechen.

„Warum ist es uns da, wo es nicht einmal negative Implikationen hat, das eine oder andere zu tun, so einfach, Partei für die Schwachen zu ergreifen, die auf der Suche nach Asyl sind – aber eben nicht in der wirklichen Welt, wo echte Menschen tatsächlich sterben?“

Und mir stellte sich sofort die Frage: Woher kommt das eigentlich? Warum ist es uns da, wo es nicht einmal negative Implikationen hat, das eine oder andere zu tun, so einfach, Partei für die Schwachen zu ergreifen, die auf der Suche nach Asyl sind – aber eben nicht in der wirklichen Welt, wo echte Menschen tatsächlich sterben? Sicher, die meisten werden schon nach wenigen Stunden im Spiel mehr Kontakt zu diesen Flüchtlingen gehabt haben als je mit echten Flüchtlingen, und es ist ja nicht zufällig so, dass ausgerechnet da, wo praktisch gar keine Migranten leben, die Abneigung gegen sie am Größten ist. Aber das kann doch nicht alles sein.

Der Groschen fiel später, als ich eine Folge von artes großartiger Serie 42 sah, in der unter anderem das berühmte Stanford-Prison-Experiment thematisiert wurde, dem bis heute eine große Relevanz zugesprochen wird, auch wenn mittlerweile klar ist, dass es eigentlich von Anfang bis Ende manipuliert war. Die Sendung verwies unter anderem darauf, dass Kinder so lange ziemlich selbstlos Fremden helfen, bis sie dafür eine Belohnung zu erhalten gelernt haben (und ihnen diese vorenthalten wird).

„Der Mensch an sich ist gut, bis man ihm Macht gibt, bis er mindestens glaubt, etwas zu verlieren zu haben.“

Auch wenn die Sendung andere Schlüsse zog, machte ich dafür auch ein Prinzip verantwortlich, das aller Gesellschaft inhärent ist und doch erst erlernt werden muss, das die Frage nach den Kindern ebenso beantwortet, wie die nach den Gehörnten im Druidenhain: Hierarchie. Soll heißen: Der Mensch an sich ist gut, bis man ihm Macht gibt, bis er mindestens glaubt, etwas zu verlieren zu haben.

Das Spiel kennt grundsätzlich keine Hierarchie: sicher, es gibt die Flüchtlinge da unten und die Druiden dort oben, die sie auf die gefährliche Straße setzen wollen, wo der sichere Tod wartet, aber es ist und bleibt eben nur ein Spiel. Wenn das virtuelle Ich stirbt, ist das vielleicht ärgerlich, aber die Lösung höchstens einen Speicherplatz entfernt. Auch die Belohnung für das Kind erzeugt bereits eine Hierarche aus Belohntem und Belohnendem. Der Belohnte hilft, weil er eine Belohnung erwartet, der Unterlegene muss belohnen oder darf keine Hilfe erwarten – spätestens hier sind wir dann auch bei der Arbeitspflicht, bei der Abwertung von Geflüchteten vom Menschen auf seine kapitalistische Verwertbarkeit: Ist der Mensch, der hierherkommt, ein Nettogewinn oder -verlust? Spätestens dann beim Stanford-Prison-Experiment (ebenso wie beim Milgram-Experiment) ist diese klare Machtstruktur dann auch bereits Teil des Versuchsaufbaus, und in der Realpolitik ist diese Hierarchie sowieso immer gegeben: Wir hier oben, die da unten, die, die auch leben wollen, die Sozialhilfe brauchen, die zu uns kommen wollen.

„Die Schwachen und Missratnen sollen zu Grunde gehen: erster Satz unserer Menschenliebe.“ – Friedrich Nietzsche. Der Antichrist. Meinung

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