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Pro-Palästina-Demonstration in der Türkei (Archiv)

Zwei Lager, zwei Wahrheiten

Istrael-Stimmung in Nahost anders als in Europa

Im Westen ist die Situation eindeutig: Israel hat nach dem Hamas-Massaker ein Recht auf Selbstverteidigung. In muslimisch geprägten Ländern ist die Situation ebenfalls eindeutig: Israel missachtet das Völkerrecht.

Sonntag, 22.10.2023, 16:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 22.10.2023, 15:42 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Als die Nachricht eines Raketeneinschlags bei einer Klinik im Gazastreifen mit möglicherweise Hunderten Toten die Runde macht, ist die muslimische Welt in heller Aufruhr. Schon seit Tagen droht die Stimmung in den Ländern der Nahost-Region wegen des Gaza-Kriegs zu kippen. Wütende Menschenmassen strömen mitten in der Nacht in Beirut, Kairo, Istanbul und auch Bagdad auf die Straßen, um sich mit den Palästinensern zu solidarisieren. „Tod für Israel“, riefen Teilnehmer der spontan organisierten Demonstrationen.

Eine türkische Tageszeitung titelt: „Hey Europa! Israel ermordet Kinder in Gaza und Du schweigst.“ Eine andere Version der Dinge, dass auch eine fehlgeleitete Rakete militanter Palästinenser für die Explosion verantwortlich sein könnte – sie dringt in der Türkei und arabischen Welt kaum durch. Mehr als 1.400 Menschen wurden israelischen Angaben zufolge seit dem Großangriff der Hamas am 7. Oktober in Israel getötet; im Gazastreifen beträgt die Zahl der Getöteten nach Angaben des Gesundheitsministeriums 3.785.

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Schuldzuweisungen der Nachbarländer Israels

„Alle hier glauben, dass Israel dafür verantwortlich ist“, sagte der jordanische Außenminister Aiman al-Safadi dem Sender CNN. Ein Treffen von US-Präsident Joe Biden in Amman mit Palästinenserpräsident Mahmud Abbas und Ägyptens Staatschef Abdel Fattah al-Sisi sagte Jordanien kurzerhand ab. 1994 hatten Jordanien und Israel Frieden geschlossen. Lange war das Land neben Ägypten der einzige arabische Staat, der diplomatische Beziehungen zum Nachbarland unterhielt.

Aus Kairo kommen bereits seit Tagen scharfe Töne: Die israelische Reaktion gehe über das Recht auf Selbstverteidigung hinaus und komme einer „kollektiven Bestrafung“ gleich, erklärte der ägyptische Präsident Al-Sisi. Ägypten bemüht sich aber vor allem um Deeskalation in dem Konflikt, wohl auch aus Eigeninteresse.

Belehrungen aus Europa unerwünscht

„Ägypten möchte natürlich auch nicht in den Konflikt dahingehend hineingezogen werden und verhindern, dass man plötzlich Millionen oder Hunderttausende Flüchtlinge auf ägyptischem Staatsgebiet hat“, sagt der Nahost-Experte Daniel Gerlach. „Deshalb handelt man strategisch und relativ emotionslos, was den Umgang mit dem Krieg in Gaza anbelangt.“ Auch die guten Beziehungen zu den USA wolle Ägypten nicht aufs Spiel setzen.

Eine Rolle dürfte auch spielen, dass bei einer möglichen Grenzöffnung und Aufnahme der Menschen aus dem Gaza-Streifen auch Terroristen unter Zivilisten mischen könnten. Aber nicht nur deshalb verbitten sich ägyptische Regierungsvertreter Belehrungen in humanitärem Ton aus Europa. Wenn Europa so besorgt sei um das Wohl der Menschen, so könne Ägypten den Menschen gerne ihre  Weiterreise nach Europa ermöglichen, sagte zuletzt der ägyptische Außenminister Samih Schukri in Anspielung auf die europäische Flüchtlingspolitik, die in den Ländern Afrikas zunehmend an Glaubwürdigkeit einbüßt.

Friedensprozesse in Gefahr?

Die halb abgebrochene Mission von US-Präsident Biden im Nahen Osten habe indes nicht dazu geführt, die Glaubwürdigkeit der Amerikaner zu stärken, sagt Gerlach. „Gegenüber einigen arabischen Staaten ist vermutlich jetzt der Eindruck entstanden: Die Amerikaner haben eigentlich nicht verstanden, was die Stunde geschlagen hat. Sie interessieren sich für die Sicherheit Israels und die Bekämpfung des Terrors, wollen sich aber derzeit nicht für eine Lösung des Nahostkonflikts engagieren, die palästinensische Interessen würdigt.“

Sorge vor einem regionalen Krieg

Nördlich von Israel im Libanon rief die eng mit dem Iran verbündete Schiitenorganisation Hisbollah zu einem „Tag des beispiellosen Zorns“ auf, dem Tausende Anhänger folgten. Schon seit Tagen demonstriert die Miliz mit gezielten Raketenangriffen ihre Kampfbereitschaft. In vielen Ländern der arabischen Welt richteten sich die Proteste auch gegen Vertretungen der USA, die im Krieg an Israels Seite stehen.

Die Reaktionen der Staaten, die im Rahmen der Abraham-Abkommen ihre Beziehungen mit Israel normalisiert hatten und sich bisher zurückhaltend äußerten, lesen sich immer schärfer. Die Vereinigten Arabischen Emirate etwa gaben alleine Israel die Schuld an der Explosion bei dem Krankenhaus. Der Golfstaat Bahrain äußerte sich ähnlich. Die Regionalmacht Saudi-Arabien will ihre Gespräche über eine mögliche Normalisierung schon zuvor auf Eis gelegt haben.

Wenige Zwischentöne

„Diejenigen, die die Katastrophe frühzeitig als ein israelisches Kriegsverbrechen mit Hunderten von Toten in Gaza dargestellt haben, waren – was auch immer am Ende bei den Untersuchungen rauskommt – auf jeden Fall erfolgreich“, sagt Experte Gerlach.

Um Ausgeglichenheit bemühte Stimmen gibt es wenige. Eine davon ist die türkische Journalistin Nevşin Mengü. „Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem die Menschen nicht mehr nach der Wahrheit suchen oder sich für sie interessieren. Jeder ist hinter seiner eigenen Desinformation her“, schreibt sie auf der Plattform X in Richtung beider Lager.

Erdogans Balanceakt zwischen Verbündeten und Anhängern

Der Nato-Staat Türkei gilt als Brücke zu Asien, so ist Präsident Recep Tayyip Erdoğan um einen Balanceakt bemüht. Nach der Explosion sprach er von einer „in der Geschichte beispiellosen Brutalität“ Israels. Später verzichtete er auf Schuldzuweisungen. Dass der Gaza-Krieg die Beziehungen zu Israel dauerhaft belastet, ist aber unwahrscheinlich. Erdoğan gilt als Pragmatiker und will etwa bei der Freilassung von Geiseln vermitteln.

In der türkischen Bevölkerung stoßen pro-palästinensische Demonstrationen auf unterschiedliches Echo. Die Mehrheit ist sich in einem Punkt aber einig: die humanitäre Katastrophe in Gaza muss enden – wohl auch im Hinblick auf die Flüchtlingssituation in der Türkei. Die Menschen befürchten, durch den Krieg könnten noch mehr Geflüchtete ins das Land kommen.

Wut im Westjordanland – nicht nur gegen Israel

Im Westjordanland, wo mehrheitlich Palästinenser leben, strömten nach der Explosion Tausende Menschen auf die Straßen. In mehreren Städten kam es zu gewalttätigen Konfrontationen mit Sicherheitskräften. Die Wut richtete sich nicht nur gegen Israel, sondern auch gegen die palästinensische Führung. Demonstranten versuchten auch, den Sitz von Präsident Mahmud Abbas zu stürmen.

Generell ist die Stimmung seit dem blutigen Überfall der Hamas auf Israel im Westjordanland extrem angespannt. Täglich kommt es zu tödlichen Auseinandersetzungen mit israelischen Soldaten oder israelischen Siedlern. Abbas wird unter anderem vorgeworfen, mit Israel zusammenzuarbeiten und sich nicht ausreichend für die Rechte der Palästinenser in dem von Israel besetzen Gebiet einzusetzen. In der Stadt Hebron im Süden des Landes wurde er von Demonstranten als „israelischer Spion“ beschimpft. (dpa/mig) Aktuell

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  1. Gabriel sagt:

    Ich dachte, dass ich wenigstens hier eine ausgewogene Bewertung der aktuellen Situation bekommen würde. Leider Fehlanzeige: Der Raketenbeschuss des Krankenhauses wird auch hier in Frage gestellt und es wird suggeriert, dass es die Palästinenser selbst gewesen sein könnten. Die offizielle Version des israelischen Verteidigungsministeriums wird also auch hier unkritisch widergegeben. Gestern schlugen weitere Raketen in der Nähe von 3 Krankenhäusern ein (Frankfurter Rundschau), bei einem wurde das indonesische Krankhaus erheblich beschädigt. Waren das auch die Palästinenser selbst? Macht euch nur lächerlich, auf Kosten der Opfer.