Asyldebatte in der Kritik

„Wenn wir so weiter Stimmung machen, muss man mit allem rechnen“

Die Asyl- und Migrationsdebatte wird immer schärfer. Integrationsbeauftragte, kirchliche Vertreter und Zivilgesellschaft mahnen Sachlichkeit an und warnen: Probleme nicht zu migrantisieren.

Montag, 06.11.2023, 18:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 06.11.2023, 15:46 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Reem Alabali-Radovan (SPD), hat den Tonfall in der Asyldebatte beklagt. „Eine Tonlage, die immer schärfer und populistischer wird, sowie täglich neue Scheinlösungen präsentiert, spaltet unsere Gesellschaft in ‚Die anderen‘ und ‚Wir‘“, sagte sie dem „RedaktionsNetzwerk Deutschland“. „Es ist falsch, die Migrationsfrage als Ursache für sämtliche Probleme in unserem Land heranzuziehen.“

Gerade in angespannten Zeiten müsse die Sicherung des gesellschaftlichen Zusammenhalts oberste Priorität haben, sagte Alabali-Radovan. Deutschland habe von seiner Einwanderungsgeschichte immer profitiert: „Die Bundesregierung steht zum Flüchtlingsschutz“, sagte sie. „Menschen mit Einwanderungsgeschichte, ihre Kinder und Enkel sind selbstverständlich Teil dieses Landes.“

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Sozialleistungen „auf Null“, Gewalt gegen Flüchtlinge, Asylverfahren in Afrika

Die Integrationsbeauftragte bezog sich unter anderem auf Äußerungen von Bundesfinanzminister Christian Lindner und Bundesjustizminister Marco Buschmann (beide FDP), die eine Kürzung der Sozialleistungen für Asylsuchende „quasi auf Null“ forderten. CDU-Politiker Jens Spahn hatte gesagt, man müsse notfalls mit „physischer Gewalt“ gegen „irreguläre“ Migration vorgehen.

Zuletzt wurden auch Forderungen nach Asylverfahren außerhalb Europas laut. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) sagte am Montagmorgen dem Hörfunksender WDR5, er könne sich Asylverfahren zum Beispiel in einem afrikanischen Land vorstellen. Wer das Verfahren erfolgreich durchlaufen habe, dürfe nach Europa und auch nach Deutschland kommen – „die anderen gehen aber nicht den gefährlichen Weg aufs Mittelmeer und sind dann nachher doch hier“. Man müsse das Sterben im Mittelmeer beenden, forderte Wüst. Was mit abgelehnten Menschen passiert, ließ Wüst offen.

Lemmermeier: Nicht in Populismus verfallen

Die Integrationsbeauftragte des Landes Brandenburg, Doris Lemmermeier, beklagt ebenfalls einen zunehmenden Populismus in der Migrationsdebatte. „Nur weil der Populismus bei der AfD funktioniert, müssen wir nicht alle in Populismus verfallen“, sagte sie der Deutschen Presse-Agentur in Potsdam. Lemmermeier kritisierte eine nach rechts driftende Rhetorik. Sie startete gemeinsam mit der Arbeitsgruppe Flucht und Asyl und anderen Organisationen vor kurzem einen „Aufruf für eine sachliche Migrationsdebatte in Brandenburg“, den Unterstützer online unterzeichnen können.

Sie mache sich Sorgen, dass eine Stimmung gegen Migranten angeheizt werde. „Wenn wir so weiter Stimmung machen, muss man mit allem rechnen. Wir wollen doch nicht in die Baseballschläger-Jahre zurück“, sagte Lemmermeier. Gemeint sind die Nachwendejahre, in denen rechte Gewalt im Osten Deutschlands eskalierte. „Ich würde alle auffordern, ein paar Schritte in der Rhetorik zurückzutreten.“

Bündnis fordert Umdenken

Zuvor hatte bereits ein Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen und Wohlfahrtsverbände ein Umdenken in der Asylpolitik gefordert. „Statt Geflüchtete gesellschaftlich und rechtlich auszugrenzen, ist ein Umdenken nötig, um ihre Aufnahme zu meistern und sich unserer Gesellschaft bietenden Chancen zu nutzen“, hieß es in einem Aufruf an die Bundesregierung und Landesregierungen, den unter anderem Amnesty International Deutschland, Pro Asyl, der Awo-Bundesverband und der Paritätische Gesamtverband unterzeichnet haben. Die derzeitige Abschottungs- und Abwehrdiskussion helfe dabei nicht und halte Menschen auf der Flucht nicht ab. Es brauche „lösungsorientierte und pragmatische Ideen“.

Kritik ernten populistische Vorstöße auch bei den Grünen. „Angesichts der zunehmenden internationalen Konkurrenz um Arbeitskräfte können wir uns keine migrationsfeindliche Stimmung im Land leisten“, sagte die Innenpolitikerin Misbah Khan. Sie sprach sich dafür aus, den sogenannten Spurwechsel aus dem laufenden Asylverfahren in den Arbeitsmarkt für mehr Menschen zu öffnen.

Schluss mit Angriffen auf das Asylrecht

Scharfe Kritik kam auch aus der Linkspartei: „Es gibt keine Flüchtlingskrise, sondern eine Versorgungskrise. Um diese zu lösen, muss massiv in die öffentliche und soziale Infrastruktur investiert werden. Darüber müssen Bundeskanzler Scholz und die Ministerpräsident:innen der Länder beraten. Die immer drastischeren Angriffe auf die Rechte geflüchteter Menschen müssen dagegen sofort beendet werden. Sie schüren rassistische Ressentiments, tragen zu gesellschaftlicher Verrohung bei und helfen keiner einzigen Kommune“, erklärte die fluchtpolitische Sprecherin der Linksfraktion Clara Bünger am Montag. Fluchtbewegungen ließen sich nicht einfach an den Grenzen aufhalten. „Solange es Fluchtursachen gibt, werden Menschen gezwungen sein zu fliehen. Das Asylrecht gilt auch und gerade dann, wenn viele Menschen Schutz benötigen“, so Bünger.

Auch der Präsident des PEN-Zentrums Deutschland, José F.A. Oliver, kritisierte den Tonfall: „Diese Wortwahl ist unsäglich und im Grunde ihres Wesens ein Angriff auf die Würde der Menschen, die zur Flucht gezwungen werden“, sagte er dem „RedaktionsNetzwerk“. Auf diese Weise beschreibe man die „eigene politische Unfähigkeit, den Menschen eine Orientierung ins Zusammenleben zu geben“.

Stäblein: „Wettbewerb nach unten“

Einen sachlichen Ton in der Asyldebatte forderte auch der Flüchtlingsbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Christian Stäblein. Ihm erscheine die Debatte derzeit wie ein „Wettbewerb nach unten“, sagte der Berliner Landesbischof. Das sei problematisch. „Ich wünsche mir, dass wir die Debatte wieder versachlichen“, sagte er.

In der derzeit erhitzt geführten Debatte über Flucht und Migration sieht Stäblein nach eigenen Worten die Gefahr, die eigenen Werte infrage zu stellen. Er halte das Grundrecht auf Asyl als Individualrecht für eine große Errungenschaft. „Wir beschädigen uns als Gesellschaft selbst, wenn wir in Notsituationen meinen, es nicht mehr gelten lassen zu müssen“, sagte er.

Türkische Gemeinde: Probleme nicht migrantisieren

Die Türkische Gemeinde in Deutschland (TGD) kritisierte den Vorstoß von Unions- und FDP-Politikern, die Problematik des Antisemitismus im Kontext des Nahostkonflikts mit der Reform des Staatsbürgerschaftsrecht zu verknüpfen. „Diese beiden Themen zu verknüpfen und damit Generalverdacht gegen Menschen mit Migrationsgeschichte bzw. muslimisch geprägten Menschen zu begründen ist politisch, ethisch und fachlich äußerst fragwürdig“, erklärte TGD-Bundesvorsitzender Gökay Sofoğlu. Es müsse möglich sein, sich solidarisch mit jüdischen Mitbürgern zu zeigen, ohne dabei andere Gruppen pauschal abzuwerten.

CDU-Chef Friedrich Merz hat die Ampel-Koalition zuletzt wiederholt zu einem Stopp ihrer geplanten Reform des Staatsbürgerschaftsrechts aufgefordert. Die Möglichkeit einer Einbürgerung nach schon drei Jahren statt wie bislang mindestens fünf Jahren sei angesichts der aktuellen Lage „abwegig“, sagte Merz am Sonntag in der ARD-Sendung „Bericht aus Berlin“. „Wenn wir im Staatsbürgerschaftsrecht so vorgehen, dann dürfen wir uns über weitere Demonstrationen dieser Art nicht wundern“, sagte er.

FDP-Politiker Kubicki will Änderungen

Bereits zuvor hatte sich FDP-Vize Wolfgang Kubicki für Änderungen an den beschlossenen Plänen für neue Einbürgerungsregeln ausgesprochen. „Wir haben in den vergangenen Wochen viel über importierten Islamismus und Antisemitismus gesprochen und dies als massives Problem für die deutsche Gesellschaft definiert“, sagte Kubicki dem Boulevardblatt „Bild“.

Die Bundesregierung will mit dem neuen Staatsbürgerschaftsrecht kürzere Mindestaufenthalte für Einbürgerungen einführen – statt acht Jahren sollen fünf Jahre reichen, bei besonderen Integrationsleistungen auch nur drei. Im Gesetz ist bereits vorgesehen, dass der deutsche Pass für Menschen ausgeschlossen sein soll, die aus antisemitischen oder rassistischen Motiven Straftaten begangen haben. Voraussetzung soll auch sein, den Lebensunterhalt in der Regel ohne Sozialleistungen bestreiten zu können. (dpa/epd/mig) Leitartikel Politik

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  1. Levent Öztürk sagt:

    Es ist wirklich zu befürchten, dass all die sehr schrecklichen durch Hass und Hetze entstandenen Ereignisse, wei die Brandanschläge mit vielen ermordeteten türkischen Frauen und Kindern in Mölln, Solingen, Ludwigshafen, Nürnberg etc. oder Bombenattentate mit vielen schwerletzten und ermordeteen Türken, wie in Köln-Keupstr., Nürnberg etc. oder bewaffnete Anschläge, wie in München, Hanau etc. bzw. die NSU-Anschläge und NSU-Serienmorde wiederholen werden. Und immer wieder trifft es die türkische Community in Deutschland seit Jahrzehnten wie ein roter Faden dass erst Hass verbreitet, dann gehetzt wird und dann sich solche schrecklichen Anschläge auf in Deutschland lebende Türken durchgeführt wird. Man betrachte bitte lediglich die derzeit intensiv hochgefahrene gegen in Deutschland lebende Muslime, Türken Araber gerichtete Hetze der Bild-Zeitung, von all den in deutschen Medien unerwähnt bleibenden täglichen Anschlägen auf Moscheen kaum zu schweigen!