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Flüchtlinge aus der Ukraine werden erstversorgt am Berliner Hauptbahnhof.

Gezielte Stimmungsmache

Bereitschaft zur Flüchtlingshilfe sinkt trotz steigender Zahlen

Die Hilfsbereitschaft war groß, als im Jahr 2015 zahlreiche Geflüchtete auch nach Hessen kamen. Vielerorts wird sie weiterhin gebraucht, gerade jetzt - doch es hat sich etwas verändert.

Von und Montag, 23.10.2023, 19:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 23.10.2023, 15:13 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Sie organisieren Sportkurse für Flüchtlinge, Fahrradwerkstätten, Bastel- und Musikkurse, begleiten bei Behördengängen – und das meist ehrenamtlich. Zahlreiche Helferinnen und Helfer engagieren sich für das Wohlergehen der Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen mussten und in Hessen ein neues Leben aufbauen wollen. Die Zahl der Asylsuchenden steigt wieder, doch das Engagement ist gesunken.

„In den vergangenen Jahren ist es schwieriger geworden, Ehrenamtliche zu finden“, berichtet Pfarrer Matthias Leschhorn von der Evangelischen Petrusgemeinde in Gießen. Seine Gemeinde koordiniert einen Teil der Freiwilligen, die in der hessischen Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge arbeiten. „Die Leute, die dabei sind, machen das mit riesigem Eifer. Sie wollen Menschlichkeit zeigen und ein Gefühl des Willkommenseins vermitteln“, erklärt Leschhorn. Doch mit zunehmendem Alter falle es ihnen schwerer, das Engagement aufrecht zu erhalten. Auch psychisch sei die Arbeit mitunter belastend.

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Gezielte Stimmungsmache gegen Flüchtlinge

Die hessische Erstaufnahmeeinrichtung (EAEH) für Flüchtlinge ist die erste Anlaufstelle für die Migranten. Die EAEH hat neben dem Hauptankunftszentrum in Gießen landesweit acht weitere Niederlassungen, eine Notunterkunft sowie eine weitere Anlaufstelle am Frankfurter Flughafen, teilte ein Sprecher des Regierungspräsidiums Gießen mit. Demnach steht der Einrichtung ein Pool von rund 40 Ehrenamtlichen zur Verfügung, die in ganz Hessen verteilt sind.

„Im Jahr 2015 gab es viele Menschen, die spontan angepackt haben, beim Aufbau von Notunterkünften geholfen und in Suppenküchen mitgearbeitet haben. Kurz nach Kriegsausbruch in der Ukraine haben wir etwas ähnliches beobachtet“, berichtet Timmo Scherenberg vom hessischen Flüchtlingsrat. Der im Februar 2022 begonnene russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Zahl der Flüchtlinge auch in Hessen weiter deutlich steigen lassen. Doch der Wind sei rauer geworden, die Willkommenskultur habe abgenommen, da gezielt Stimmung gegen Flüchtlinge gemacht werde, sagt Scherenberg. „Aber es finden sich immer Leute, die bereit sind zu helfen.“ Derzeit sei vermehrt Unterstützung in Sachen Integration und Sprachkursen gefragt.

Seit eineinhalb Jahren hören wir: Kommunen überlastet

Auch nach Einschätzung des Marburger Sozialpsychologen Ulrich Wagner ist die Hilfsbereitschaft seit der großen Fluchtbewegung 2015 zurückgegangen. „Es ist schwer, das Engagement über so eine lange Zeit aufrecht zu erhalten. Außerdem erwarten viele, dass die staatlichen Unterstützungssysteme für Geflüchtete inzwischen deutlich effektiver sein müssten“, sagt Wagner. Nach einer gewissen Zeit habe auch ein Gewöhnungseffekt eingesetzt, wodurch die Hilfsbereitschaft abnehme.

Zudem führen laut Wagner einige Debatten zu einer verschobenen Wahrnehmung: „Seit eineinhalb Jahren hören wir, dass die Kommunen mit der Zahl der Geflüchteten überlastet sind“, erklärt der Sozialpsychologe. „Da es keine klare Lösung gibt, führt das zu Unsicherheit. Diese kann schnell umschlagen in Fremdenfeindlichkeit.“ Das werde vor allem von Parteien wie der AfD ausgenutzt.

Kontakt immunisiert gegen Populismus

„Wir alle müssen uns als Bürger mit der Realität auseinandersetzen, wie sie ist, nicht wie sie auf Sozialen Medien oder durch populistische Zitate gezeichnet wird“, betont Wagner. „Es zeigt sich, dass Menschen, die selbst Kontakt zu Migranten haben, weniger Fake News und Populismus glauben.“ Es helfe, Ängste und Vorurteile abzubauen. Der Psychologe appelliert an die Empathie: „Es gibt immer noch Menschen, die seit 2016 in Gemeinschaftsunterkünften leben, nicht arbeiten dürfen – das muss man sich mal vorstellen, das ist kein Spaß.“

Aktuellen Daten zufolge sind derzeit rund 9.600 Menschen an den verschiedenen Standorten der hessischen Erstaufnahmeeinrichtung untergebracht. Ein Großteil der Asylsuchenden stammt demnach aus Afghanistan, der Türkei und Syrien, auch Menschen aus der Ukraine gehören zu den Geflüchteten. Insgesamt sind in Hessen 114.500 Flüchtlinge im Jahr 2022 aufgenommen worden, etwa 97.000 davon stammten nach Daten des Innenministeriums aus der Ukraine.

Umfrage: Mehrheit für Verständigung über Zuwanderungspolitik

Knapp drei Viertel der Bevölkerung wünschen sich einer Umfrage zufolge eine Kooperation von Ampel-Koalition und Union in der Zuwanderungspolitik. 73 Prozent der Befragten sprachen sich für eine Verständigung zwischen der Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP und der Oppositionsfraktion von CDU/CSU aus, wie aus einer am Montag vergangener Woche veröffentlichten „Trendbarometer“ der Fernsehsender RTL/ntv hervorgeht. Dafür spricht sich unter den Anhängern aller drei Ampel-Parteien demnach jeweils eine Mehrheit aus (SPD: 64 Prozent; Grüne: 54 Prozent; FDP: 92 Prozent). Eine Mehrheit von 70 Prozent hält Deutschland laut der Umfrage für damit überfordert. 27 Prozent der Befragten glauben hingegen, dass Deutschland die Zahl an Asylbewerbern noch verkraften kann. Nur unter den Anhängern der Grünen meint dies eine knappe Mehrheit von 56 Prozent.

Wie aus der Umfrage „DeutschlandTrend“ für das ARD-“Morgenmagazin“ hervorgeht, sehen die Deutschen beim Thema Zuwanderung und Flucht derzeit den meisten politischen Handlungsbedarf. 44 Prozent nannten dies als das wichtigste Problem, um das sich die Politik vordringlich kümmern müsste, wie der WDR am Donnerstag in Köln mitteilte. Auf dem zweiten Platz sei mit 18 Prozent der Themenkomplex Umwelt und Klima angegeben worden. Mit Abstand folgten den Angaben zufolge weitere Themen wie Soziale Ungerechtigkeit (13 Prozent), Wirtschaft (11 Prozent) sowie Inflation und der Bereich bewaffnete Konflikte/Frieden/Außenpolitik (jeweils 10 Prozent). (dpa/epd/mig) Aktuell Gesellschaft

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