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Synagoge (Archiv) © de.depositphotos.com

Zuspitzung in Nahost

Was braut sich in Deutschland zusammen?

Davidsterne an Wohnhäusern, Brandsätze auf eine Synagoge: Der Nahost-Konflikt verschärft auch die Lage in Deutschland. Die Politik verspricht eine harte Linie gegen Antisemitismus. Was bedeutet das?

Von und Mittwoch, 18.10.2023, 21:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 18.10.2023, 19:25 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Als der Raketeneinschlag an einem Krankenhaus in Gaza am Dienstagabend gemeldet wird, schwappt auch in Deutschland sofort eine Welle durch die sozialen Netzwerke. „Spontankundgebung – Jetzt am Brandenburger Tor“, postet eine pro-palästinensische Gruppe auf der Plattform X. Wenig später versammeln sich Hunderte Menschen an dem Berliner Wahrzeichen. In Berlin-Neukölln brennen derweil Barrikaden. Und dann der Schock am frühen Morgen: Vermummte schleudern Brandsätze in Richtung einer Berliner Synagoge.

Hassparolen auf Demonstrationen, Davidsterne an Häusern, verbrannte Israelflaggen – insgesamt 202 antisemitische Vorfälle hat das Netzwerk Rias in den zehn Tagen seit dem blutigen Überfall der Terrormiliz Hamas auf Israel bundesweit registriert. 240 Prozent mehr als zur gleichen Zeit ein Jahr zuvor. Das Kriegsgeschehen im Nahen Osten bringt auch massive Unruhe auf deutsche Straßen und in die Gesellschaft. Was kommt da noch auf uns zu – vor allem, wenn der Konflikt zwischen Israel und der Hamas noch weiter eskalieren sollte?

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Die Ansagen der Politik bis hin zu Bundeskanzler Olaf Scholz sind eindeutig. „Es ist ganz klar, dass wir nicht hinnehmen werden und niemals hinnehmen werden, wenn gegen jüdische Einrichtungen Anschläge verübt werden“, sagt der SPD-Politiker am Mittwoch in Kairo. Auch gewalttätige, mit antisemitischen Parolen begleitete Veranstaltungen seien nicht zu akzeptieren. „Da müssen die Versammlungsbehörden das ihre tun, zum Schutz der jüdischen Einrichtungen die Polizei.“

Demonstrationen verboten

Gerade in Berlin, aber auch in anderen Städten fährt die Polizei genau diese Linie. Der Schutz an jüdischen und israelischen Institutionen wurde hochgefahren. In Berlin wurden fast alle angezeigten pro-palästinensischen Demonstrationen verboten mit dem Hinweis, es seien anti-israelische, antisemitische oder extremistische Parolen zu erwarten. An neuralgischen Punkten, etwa an der Sonnenallee in Neukölln, schritt die Polizei immer wieder ein, wenn sich pro-palästinensische Grüppchen bildeten.

Dennoch lief die Lage in der Hauptstadt in den vergangenen Tagen immer wieder aus dem Ruder. Am Sonntag strömten binnen weniger Minuten rund 1.000 Leute zum Potsdamer Platz und lieferten sich Rangeleien mit Polizisten. Und dann eben die Ausschreitungen und der versuchte Brandanschlag in der Nacht zum Mittwoch. Die Jüdische Gemeinde zu Berlin zieht am Morgen danach ein bitteres Fazit. Die Sicherheitsmaßnahmen hätten wohl Schlimmeres verhindert: „Aber Juden und Jüdinnen in unserer Stadt fühlen sich trotz allem nicht mehr sicher.“

Behörden sehen eher abstrakte Gefährdung

Wie groß ist die Gefahr weiterer Gewalt? Die Sicherheitsbehörden sprechen hier von einer „abstrakten Gefährdungssituation“. Das bedeutet, sie haben keine Hinweise auf konkrete Planungen für Angriffe auf jüdische Einrichtungen oder bestimmte Personen. „Aber wir können auch nicht ausschließen, dass es vielleicht auch zu spontanen Taten kommt“, sagt der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang.

Antisemitische Denkmuster sieht er bei Rechtsextremisten, „Islamisten“ und auch bei einigen linksextremistischen Gruppierungen. Doch sagte Haldenwang bei einem Pressegespräch diese Woche auch klar: „Durch die hohe Zahl an Zuwanderung aus dem arabischen oder nordafrikanischen Raum sind viele Menschen nach Deutschland gekommen, die schon in einer antisemitischen Grundhaltung sozialisiert worden sind in ihren Herkunftsgebieten“. Mit „Islamismus“ ist das nicht unbedingt gekoppelt. Diesen Menschen sei in der Jugend oft die Botschaft vermittelt worden: „Israel ist der Feind, die Juden sind der Feind.“

Der Zentralrat der Juden zieht eine direkte Linie von diesen Denkmustern zu Hassparolen auf den Straßen zu Gewalttaten wie dem versuchten Brandanschlag. „Aus Worten werden Taten“, erklärt der Zentralrat. „Die Vernichtungsideologie der Hamas gegen alles Jüdische wirkt auch in Deutschland. Der ‚Tag des Zorns‘ ist nicht nur eine Phrase. Es ist psychischer Terror, der in konkrete Anschläge mündet.“ Berlins Antisemitismusbeauftragter Samuel Salzborn nennt es eine „massive antisemitische Eskalation“ und mahnt: „Wer sich bei solchen antisemitischen Terrorattacken nicht mit Israel solidarisiert, ergreift Partei für den antisemitischen Terror.“

Ein anderer Blick auf den Holocaust

Wut, Angst und Entsetzen von Jüdinnen und Juden sind untragbar für ein Land mit dieser verbrecherischen NS-Geschichte, für ein Land, das die Sicherheit Israels und seiner Bürger zur Staatsräson erklärt hat. Trotzdem lohnt sicher der Blick, was sich da teilweise zusammenbraut. Es wird intensiv diskutiert – auch in sozialen Netzwerken -, wie sehr sich deutsche Politiker nach den Massakern und Geiselnahmen der Hamas mit Israel solidarisiert haben, verglichen wird dies mit den eher verhaltenen Äußerungen zur katastrophalen Situation im Gazastreifen.

„Selektive Sympathie ist eine Form von Apathie“, kritisiert der Leiter der palästinensischen Mission in Berlin. Botschafter Laith Arafeh, der die Autonomiebehörde in Deutschland vertritt, fordert die Bundesregierung auf zu „ernsthaften Bemühungen, um die Aggression gegen unser wehrloses Volk in Gaza zu beenden“.

Der Hinweis auf den Holocaust zieht kaum bei einigen Palästinensern, die als Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Aus ihrer Sicht haben sie nichts zu tun mit der deutschen Schuld für die NS-Verbrechen. Sie sehen sich selbst oft eher als indirekt Leidtragende, da der Massenmord an den Juden in Europa die jüdische Einwanderung nach Palästina beschleunigt und die Gründung des Staates Israel 1948 vorangetrieben habe. „Eure Geschichte ist nicht unsere Geschichte“, rief ein arabischer Redner im März bei einer Protestkundgebung gegen den Besuch des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu.

Doch es gibt auch andere Stimmen. SPD-Politikerin Sawsan Chebli, selbst einst als palästinensische Geflüchtete 1970 nach Deutschland gekommen, sagt: „Genauso wie Muslime als Minderheit erwarten, dass andere sich für sie einsetzen, wenn sie diskriminiert oder angegriffen werden, müssen sie ihre Stimme lauter erheben, wenn Juden in unserem Land bedroht werden. Der Kampf gegen Antisemitismus muss auch ihr Kampf sein.“

Haldenwangs Versprechen

Immer wieder beklagen pro-palästinensische Aktivisten, sie dürften ihre Meinung nicht sagen, selbst wenn sie das friedlich tun wollten. Die sogenannte Palästina Kampagne münzte das am Mittwoch in eine Drohung um: „Wenn der deutsche Staat der palästinensischen Community konsequent das Grundrecht verweigert, zu protestieren, öffentlich zu trauern oder ihre Identität zum Ausdruck zu bringen, ist ziviler Ungehorsam fast vorprogrammiert.“ Ziviler Ungehorsam? Eher kein treffender Ausdruck bei fliegenden Flaschen und Böllern und brennenden Barrikaden. Selbst strengste Sicherheitsvorkehrungen und Verbote können wohl nicht ausschließen, dass sich solche Szenen wiederholen. In sozialen Netzwerken wird weiter für Proteste mobilisiert.

Verfassungsschutzpräsident Haldenwang versucht zu beruhigen. „Wenn jetzt einzelne jüdische Einrichtungen beschließen, dass sie in dieser Situation Abstand nehmen von Aktivitäten und ja, Fußballspiele nicht mehr stattfinden und dergleichen, dann ist das selbstverständlich eine freie Entscheidung“, erklärt der Chef des Inlandsgeheimdienstes. Die Sicherheitsbehörden stünden aber immer bereit, den Schutz solcher Veranstaltungen sicherzustellen und alles zu tun für die Sicherheit jüdischer Menschen und Einrichtungen in Deutschland. (dpa/mig) Aktuell Panorama

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