„Schön, wenn es international ist.“
Hohe Nachfrage und fehlendes Personal in der kultursensiblen Pflege
Sie kamen als Gastarbeiter und sind nun pflegebedürftig: Menschen mit Migrationsgeschichte haben im Alter besondere Bedürfnisse. Das Fehlen von ausreichend ausgebildetem, kultursensiblem Pflegepersonal macht sich hier besonders bemerkbar.
Von Isabell Scheuplein Dienstag, 10.10.2023, 16:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 08.10.2023, 16:16 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Ehrfürchtig betritt Mehmet Satir den Gebetsraum im Keller des Altenheims. Der dicke beige Teppich schluckt fast alle Geräusche und unterstreicht zusammen mit dem sanften Licht, das durch die Oberlichter fällt, die stille und konzentrierte Atmosphäre. Dass es einen solchen Ort in der Nähe gibt, begrüßt der Muslim. Ebenso wie den Umstand, dass die Feiertage in dem Heim gemeinsam begangen werden. Dazu zählen Zucker- und Opferfest genauso wie Ostern und Weihnachten.
Das Victor-Gollancz-Haus in Frankfurt versucht, auf die besonderen religiösen und kulturbedingten Anliegen aller seiner Bewohnerinnen und Bewohner einzugehen. Nebenan befindet sich ein christlicher Andachtsraum.
Hohe Nachfrage nach kultursensiblen Heimen
Etwa ein Drittel der Bewohnerinnen und Bewohner in dem Altenhilfezentrum im Frankfurter Westen hat einen Migrationshintergrund. Sie stammen vor allem aus der Türkei. Die insgesamt 123 Plätze des Heims sind in der Regel belegt, die Nachfrage sei hoch, sagt Migrantenberater Hüseyin Kurt.
Rücksicht auf die unterschiedlichen Gepflogenheiten nimmt auch der Speiseplan. Die Geschmacksrichtung muss stimmen und es muss auch Gerichte beispielsweise ohne Schweinefleisch geben, wie Kurt erläutert. Bei der Pflege wird darauf geachtet, dass viele Frauen sich nur von Frauen berühren lassen wollen. Wichtig sei zudem die Sprache, sagt Kurt: „Es handelt sich um eine Generation von Menschen, die in den 60er oder 70er Jahren nach Deutschland kam, um zu arbeiten. Auf den Spracherwerb hat damals keiner großen Wert gelegt.“
Auch Mehmet Satir spricht wenig Deutsch. Er arbeitete in Deutschland im Baugewerbe, berichtet der 85-Jährige. Und er engagierte sich in einem Moschee-Verein. Sechs Kinder hat er und viele Enkelkinder. Er lebt in der muslimischen Wohngruppe des Heims.
„Schön, wenn es international ist.“
Die Familie ist auch der Stolz von Gülen Demirkale im Nachbarzimmer, die Fotos ihrer Kinder und Enkelkinder stehen an prominenter Stelle in ihrem Regal. Die 88-Jährige stammt aus Istanbul. Die Schneiderin hat lange in einem Kinderheim in Frankfurt genäht, Tischwäsche und Kostüme, wie sie berichtet. In dem Pflegeheim gefalle es ihr sehr gut: „Ich finde es schön, wenn es international ist.“
Für große Probleme sorgt der Mangel an Pflegepersonal, wie Migrantenberater Kurt berichtet. Sehr gerne würde er mehr türkischsprachige Pfleger und Pflegerinnen einstellen, doch die sind rar. Deutschsprachige Mitarbeiter ebenso. Die Fluktuation sei höher als früher, die Konkurrenz bei der Personalgewinnung hoch. Die Situation werde sich noch verschärfen, erwartet er.
Nicht nur die Nachfrage nach kultursensibler oder interkultureller Pflege ist hoch, wie sie das Victor-Gollancz-Haus anbietet. Professor Klaus Müller von der Frankfurt University of Applied Sciences spricht allgemeiner von diversitätssensibler Pflege, die den einzelnen Menschen in den Blick nimmt. Neben der Herkunft müssten Faktoren wie die sexuelle Orientierung eine Rolle spielen. Individuelle Pflegekonzepte seien wichtig. „Die Anforderungen an die Pflege werden hier immer weiter steigen“, sagt der Experte.
Pflegeheim für viele zu teuer
Gleichzeitig fehlten entsprechend ausgebildete und sprachkompetente Mitarbeiter. Studien gingen insgesamt von mehr als 30.000 fehlenden Pflegekräften in den nächsten zehn Jahren aus. Altenheimen und ambulanten Pflegediensten fehle für große Anwerbeprogramme im Ausland das Geld, sagt der Professor. Generell stelle sich die Frage nach der Refinanzierung. „Ganz viele Menschen können sich einen Pflegeheimplatz nicht mehr leisten.“
Anbieter könnten versuchen, Teams aus Mitarbeitern mit verschiedenen Qualifikationen zusammenzustellen, die auch mit unterschiedlichen Sprachkenntnissen aufwarten könnten. Zudem könnten sich etwa ambulante Pflegedienste untereinander vernetzen, um gemeinsam von den sprachlichen und kulturellen Kompetenzen einzelner Mitarbeiter zu profitieren. Dennoch sind laut Müller grundsätzliche Verbesserungen bei der Ausbildung und der Anerkennung des Pflegeberufs nötig.
Dass der Beratungsbedarf unter Menschen mit Migrationsgeschichte groß ist, bestätigt auch das Deutsche Rote Kreuz. Unter seinem Dach nahm 1992 in Frankfurt die bundesweit erste Beratungsstelle für ältere Migrantinnen und Migranten ihre Arbeit auf, sie heißt „Hiwa“, das ist kurdisch und bedeutet „Hoffnung“. Derzeit gebe es zwischen 70 und 100 Beratungen pro Monat, sagt Leiterin Yasemin Yazici-Muth. Kultursensible Pflege sei ein zentrales Thema. Auch die Beratungsstelle rechnet mit einem weiter steigenden Bedarf. (dpa/mig) Leitartikel Panorama
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