Christian Stäblein im Gespräch
Flüchtlingsbischof: „Ich lehne die Debatte über eine Obergrenze ab“
Volle Boote, volle Turnhallen, Krisenstimmung - die politische Debatte über Migration heizt sich wieder auf. Der Flüchtlingsbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland hält dagegen. Er wendet sich gegen den „Abschottungsdiskurs“. Der stärke nur die Extreme, sagt Christian Stäblein im Interview.
Von Verena Schmitt-Roschmann Mittwoch, 27.09.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 27.09.2023, 13:33 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Der evangelische Theologe und frühere Bundespräsident Joachim Gauck hat sich für eine Begrenzungsstrategie bei der Migration ausgesprochen. Gehen Sie da mit?
Christian Stäblein: Wir sollten, finde ich, immer auf unsere Sprache achten und nicht die Probleme denen zuschieben, die hier in schweren Notlagen Schutz suchen. Es ist ein Gebot der Humanität und der christlichen Nächstenliebe, diese Menschen zunächst einmal als Menschen anzunehmen. Wir sollten den Diskurs nicht in einer Sprache führen, die von vornherein die flüchtenden Menschen zum Problem, zur Last nur macht. Als Christ sage ich: In jedem Menschen begegnet uns ein Geschwister.
Konkret: Sie sind gegen eine Obergrenze von etwa 200.000 Menschen und gegen die schärfere Sicherung der EU-Außengrenze?
Ich lehne die Debatte über eine Obergrenze dort ab, wo es bedeutet, dass das Individualgrundrecht auf Asyl durch die Hintertür abgeschafft werden soll. Das würde unsere Gesellschaft beschädigen. Ich erinnere daran, dass wir nach Beginn dieses schrecklichen Angriffskriegs auf die Ukraine bei einem Flüchtlingsgipfel im Kanzleramt wirklich ein riesiges Bündnis erlebt haben. Damals war das erklärte Ziel: Nicht wieder dieselben Fehler wie 2015 und 2016 – wir machen das diesmal anders, strukturiert, mit langem Atem. Ich staune ein bisschen, dass wir doch wieder in dieselben Muster laufen wie nach 2015/16. Wir brauchen eine europäische Lösung, das wissen doch alle.
Zur Person: Bischof Christian Stäblein (56) ist seit 2019 geistlicher Leiter der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und seit 2022 Beauftragter für Flüchtlingsfragen der Evangelischen Kirche in Deutschland.
Aber die Problemdebatte entzündet sich ja nicht an den Ukrainerinnen und Ukrainern, sondern an jenen Geflüchteten, die von weiter her kommen.
Ja, genau. Wir sollten wirklich keine zwei Klassen von Flüchtlingen haben, auch das ist Konsens und wird von allen gerne wiederholt. Es ist völlig klar, dass unser Land bestimmte demokratische und rechtliche Regeln hat, die für alle gelten. Und deshalb gilt: Auch Menschen aus Afghanistan und aus Syrien sind erstmal Menschen in höchster Not, genauso wie die Ukrainer.
Das heißt: Die besonderen Regeln für die Ukraine-Geflüchteten sollten auch für Asylsuchende aus anderen Ländern gelten, also direkter Zugang zum Arbeitsmarkt und zum Wohnungsmarkt?
Ja. Gerade der Zugang zum Arbeitsmarkt ist doppelt geboten. Er gibt den Menschen Würde. Oft warten die Asylsuchenden ja ein, zwei oder sogar drei Jahre auf den Abschluss ihrer Verfahren. Und drei Jahre nicht arbeiten zu dürfen, ist eine schwere Hypothek für die geflüchteten Menschen, die sich doch wie wir alle wirksam erfahren wollen. Auch für uns als Gesellschaft und für die Integration ist das sehr wichtig. Wir erleben doch überall den Mangel an Fachkräften.
Mit Ihrer Position finden Sie kaum noch Gehör. Mit welchen Argumenten kontern Sie die Krisenstimmung im Land?
Ich stimme zu: Diese Position dringt immer weniger durch. Aber in den Kirchen und in humanitären Organisationen gibt es weiter sehr viele Menschen, die dafür einstehen und bereit sind, enorme Hilfe zu leisten. Die vielen Menschen aus der Ukraine wurden hier vom ersten Tag in den Gemeinden aufgenommen, ich nenne nur die Markus-Gemeinde in Steglitz. Die Kirche ist die Stimme, die bedingungslos für die Würde des Menschen eintritt.
Es häufen sich Warnungen, dass ohne Begrenzung der Migration die AfD weiter Zulauf gewinnen wird. Sehen Sie die Gefahr, dass sich die Stimmung weiter aufheizt?
Es ist wichtig, im Gespräch zu bleiben. Und da sind sicher die Kirchengemeinden gefragt, zum Beispiel, wenn es Schwierigkeiten bei der Unterbringung gibt. Das dient dem gesellschaftlichen Frieden vor Ort. Aber ein Abschottungsdiskurs und die Etikettierung als „Festung“ wird aus meiner Sicht eher die Extreme stärken. Das gilt auch für die Debatte darüber, ob wir das Individualrecht auf Asyl einschränken. Das wird am Ende extremistischen Kräften nützen und nicht dem gesellschaftlichen Frieden.
Was würden Sie einem Dorfpfarrer raten, zu dem der Bürgermeister sagt: Ich muss hier meine Turnhalle zur Flüchtlingsunterkunft machen, wo sollen unsere Kinder turnen?
Wichtig ist, gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Die Aufnahme der Ukrainerinnen und Ukrainer hat gezeigt, dass wir nicht auf Dauer Sammelunterkünfte nutzen sollten, sondern die Menschen schnell Privatunterkünfte oder andere, kleinere Unterkünfte brauchen. Das dauerhafte Umfunktionieren von Turnhallen ist sicherlich keine gute Lösung für den gesellschaftlichen Frieden. Aber ich spreche hier nicht als Politiker, ich will mir auch gar nicht anmaßen, der bessere Politiker zu sein. Ich spreche als Christ, der die Stimme für die erhebt, die keine haben. Das gilt für viele.
Hinter Migration stehen oft kriminelle Schleuser. Wie gehen Sie damit als Kirche um?
Ich zögere ein bisschen mit meiner Antwort. Wenn ich an die Grenze zwischen Polen und Belarus schaue, dann ist klar: Da wird kriminell gehandelt, da werden Menschen instrumentalisiert. Trotzdem zögere ich, weil diese Debatte so tut, als sei das das Hauptproblem. Am Ende steht die ständige Verschärfung von Regeln. Doch das verhindert eben nicht die humanitären Katastrophen. Im Mittelmeer sind in den letzten Jahren Zehntausende bei dem Versuch, nach Europa zu kommen, gestorben. Manche sagen, das führe irgendwann zur Abschreckung. Das ist zynisch und menschenverachtend. Ich sage, das führt zum Verlust unserer Werte und Humanität.
Welche konkreten Schlüsse würden Sie also ziehen für die Debatte in diesem Herbst?
Wir brauchen eine Erneuerung des gesellschaftlichen Paktes, des Selbstverständnisses, in aller Nüchternheit aufnahmebereit zu sein, aber so, dass es für alle funktioniert – für die Menschen, die hier leben, und für die, die kommen. Das ist möglich, davon bin ich überzeugt. Hierfür ist Europa und eine gemeinsame Lösung wichtig. Und noch mal: Ich sage das nicht als Politiker, ich sage das als Mensch, der den Zuspruch Gottes laut macht.
Aber wie kriegt man das hin?
Das ist eine gute Frage. Die Kirchen können es nicht allein. Wir haben ja viel Erfahrung mit verschiedenen Bündnissen für Toleranz und Demokratie und Menschenrechte. Vielleicht braucht es in diesem Fall ein besonders großes Bündnis, nicht nur von Gruppen, die sich einig sind, sondern eines, in dem auch Kontroversen und Emotionen ausgehalten werden. Darauf weist Joachim Gauck ja zurecht hin. Wir müssen viel mehr hinhören, viel mehr. Und nicht nur auf einer Seite. (dpa/mig) Aktuell Interview Panorama
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