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Infotafel in Rostock informiert über das rassistische Pogrom in Lichtenhagen © Kien Nghi Ha

Ein kalter Fall 3/3

Unzureichende Aufarbeitung von Rostock-Lichtenhagen: politisch, juristisch, kulturell

Versäumnisse der Aufarbeitung: Politik, Justiz, Wissenschaft und Erinnerungskultur haben beim Pogrom von Rostock-Lichtenhagen versagt. Institutionen vermieden Verantwortung und marginalisierten Opferperspektiven. Eine Analyse.

Von Donnerstag, 24.08.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 24.08.2023, 11:14 Uhr Lesedauer: 15 Minuten  |  

Info: Dieser Text ist der dritte Teil eines Dreiteilers. Der erste Teil kann hier abgerufen werden.

5) Unzureichende Aufarbeitungen: politisch, juristisch, wissenschaftlich, kulturell und erinnerungspolitisch

Nicht nur die Vorgeschichte und der konkrete Tatablauf des Pogroms, sondern auch die Aufarbeitung weist einzigartige institutionelle Versäumnisse auf. Auf politischer Ebene sind die Ergebnisse der Untersuchungsausschüsse des Schweriner Landtag und der Stadt Rostock ungewöhnlich dürftig, da es offensichtlich an Aufklärungsinteresse mangelte und die parlamentarische Arbeit im Parteienstreit endete:1 „Bis heute gibt es keinen der dafür die Verantwortung übernommen hätte. Kein Politiker, egal mit wem ich sprach, alle, wirklich alle, duckten sich in dem Moment weg2 […] Beide Untersuchungsausschüsse sind zu dem Ergebnis gekommen, dass man das [gemeint ist die politische Verantwortung] so nicht mehr nachvollziehen kann.“3 Innenminister Lothar Kupfer bestritt jede Verantwortung und wurde erst Februar 1993 entlassen. Rostocks Oberbürgermeister Kilimann trat Dezember 1993 ohne Schuldeingeständnis und unter Protest zurück. Auch unter den polizeilichen Führungskräften übernahm niemand die Verantwortung. Stattdessen herrschten undurchsichtige Schuldzuweisungen und wechselseitiger Kompetenzstreit: Die verschiedenen Polizeibehörden auf Landes- und Kommunalebenen schoben sich gegenseitig die Verantwortung für das öffentliche Debakel zu und warfen einander Inkompetenz und sogar absichtliches Fehlverhalten vor,4 was die These eines tolerierten Pogroms nährte.

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„Die Rollen von Polizeichef Siegfried Kordus, der auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen nach Hause fuhr und am Montag Verstärkung durch BGS-Einheiten ablehnte, von Landespolizeichef Hans-Heinrich Hansen, der keine Verstärkung nach Rostock schickte, oder Bundesinnenminister Rudolf Seiters, der in Rostock vertrauliche Gespräche mit dem Ministerpräsidenten Seite, Innenminister Kupfer und Kordus führte, sind jedoch nicht hinreichend aufgehellt worden.“5

„Der besonders gescholtene Rostocker Polizeidirektor Kordus wurde bereits eine Woche nach dem Pogrom zum Direktor des Landeskriminalamts befördert. Es wirkte wie eine Belohnung für treue Dienste und untergrub die Ernsthaftigkeit der laufenden Untersuchungen zum polizeilichen Versagen.“

Noch nicht merkwürdig genug: Der besonders gescholtene Rostocker Polizeidirektor Kordus wurde bereits eine Woche nach dem Pogrom zum Direktor des Landeskriminalamts befördert. Es wirkte wie eine Belohnung für treue Dienste und untergrub die Ernsthaftigkeit der laufenden Untersuchungen zum polizeilichen Versagen. Kordus wurde zwei Jahre später trotz glaubhafter Korruptionsvorwürfe und Berichte über mafiöse Beziehungen nicht angeklagt, sondern nur in den vorzeitigen Ruhestand geschickt – dies ist umso erstaunlicher, da in den letzten 14 Monaten vor Kordus Aufdeckung vier Ermordungen im umkämpften Rostocker Rotlichtmillieu stattfanden.6 Auch zwei andere Spitzenbeamte, die 1992 beim Pogrom in führenden Polizeipositionen waren, wurden durch einen Whistleblower in anderen Fällen des Amtsmissbrauchs beschuldigt.7 Auch der überforderte und von seinen Vorgesetzten im Stich gelassene Polizeieinsatzleiter Deckert wurde trotz massiver Fehler8 ausgerechnet als Dozent an die Polizeifachhochschule Güstrow versetzt. Die Ermittlungsverfahren gegen Kordus und Deckert wurden 1994 und 2000 ohne Konsequenzen eingestellt, wobei Deckert einigen als „Bauernopfer“ galt.

„Ein Richter wurde aufgrund der grotesken Amtsführung, die auch zur Verjährung einer Anklage führte, wegen Rechtsbeugung und Strafvereitelung im Amt angezeigt.“

Auch die anderen juristischen Aufarbeitungsversuche waren von Desinteresse, unprofessioneller Arbeitsweise und Erfolgslosigkeit geprägt. Während des Pogroms wurden nur 370 vorläufige Festnahmen vorgenommen sowie 408 Ermittlungsverfahren eingeleitet – nicht zuletzt gegen linke Gegendemonstrierende. In den meisten Fällen war eine strafrechtliche Verfolgung kaum möglich, da nur wenige qualifizierte, d.h. beweissichernde Festnahmen erfolgten.9 Im Ergebnis wurde ein Großteil der 215 gerichtlich eingeleiteten Verfahren gegen 257 Personen eingestellt. Am Ende wurden nur 44 Urteile ausgesprochen, darunter auch Urteile gegen Linke auf Solidaritätsdemonstrationen: Nur ein Fall bezog sich auf den direkten Angriff auf das Sonnenblumenhaus. Zumeist wurden relativ geringfügige Geld- und Bewährungsstrafen wegen Landfriedensbruchs und Propagandadelikten ausgesprochen. Von elf ursprünglich verhängten Arreststrafen zwischen sieben Monaten und drei Jahren wurden sieben zur Bewährung ausgesetzt. Nur vier Straftäter mussten zwischen zwei und drei Jahren tatsächlich in den Jugendarrest. Insgesamt wird die juristische Aufarbeitung als skandalös bewertet: Die zum Teil sehr langsamen Verfahren mündeten bestenfalls in formale Blitzprozesse ohne sachliche Aufarbeitung mit sehr milden Urteilen, da Richter:innen und Staatsanwälte wenig Engagement und Interesse zeigten. Ein Richter wurde aufgrund der grotesken Amtsführung, die auch zur Verjährung einer Anklage führte, wegen Rechtsbeugung und Strafvereitelung im Amt angezeigt. Selbst in Fällen, wo ausreichend Beweise vorlagen, wurden nur Bewährungsstrafen für vorbestrafte rechtsextreme Gewalttäter verhängt – trotz Verurteilung wegen versuchten Mordes. Das letzte nach elf Jahren abgeschlossene Verfahren gilt aufgrund der absurd langen Prozessverschleppung als eines der „größten Justizskandale der Nachkriegszeit“.10

„Bisher sind weniger als eine Handvoll Monographien und Anthologien erschienen, die sich zentral mit den Angriffen von Rostock-Lichtenhagen auseinandersetzen.“

Die große Diskrepanz zwischen der objektiv erkennbaren gesellschaftspolitischen Bedeutung des Pogroms und der nachlässigen institutionellen Aufarbeitung trifft auch im wissenschaftlichen Bereich zu. Bis heute ist kein großes Forschungsinteresse am Pogrom von Lichtenhagen feststellbar. Das spiegelt sich auch im bisherigen Bestand der Literatur zum Thema wider: Bisher sind weniger als eine Handvoll Monographien und Anthologien erschienen, die sich zentral mit den Angriffen von Rostock-Lichtenhagen auseinandersetzen. Der konjunkturellen Aufmerksamkeitsökonomie folgend sind bisher alle zehn Jahre Jubiläumsbänder zum Thema erschienen. Den Anfang machte das DISS mit seinem diskursanalytischen Ansatz in „SchlagZeilen. Rostock: Rassismus in den Medien“ (1992), der die Ereignisse medienwissenschaftlich zeitnah einordnete. Dann folgte 2002 die journalistische Aufarbeitung von Jochen Schmidt, der als ZDF-Praktikant und Zeitzeuge im Sonnenblumenhaus das Pogrom hautnah erlebte. Obwohl das Buch von den bisherigen Publikationen zum Thema die größte öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr, löste die titelgebende These von der „Politische[n] Brandstiftung“11 trotz der guten journalistischen Vernetzung des Autors weder einen medialen Wirbelsturm noch ein politisches Erdbeben aus. Die These wurde in der Berichterstattung relativiert und der thematische Fokus verschoben. Dieses Desinteresse deutet Schmidt als „Totschweigen“12. Die Angst vor Kontroll- und Glaubwürdigkeitsverlust macht diese Frage anscheinend auch noch nach Jahrzehnten höchst explosiv. Zum 20. Jahrestag erschien dann ein kleiner, nur aus drei lesenswerten Beiträgen bestehender Sammelband, den Thomas Prenzel als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften an der Universität Rostock herausgab und wesentlich miterarbeitete. Dieser Rhythmus wird 2023 mit dem von Gudrun Heinrich, David Jünger, Oliver Plessow und Cornelia Sylla editierten Sammelband „Perspektiven aus der Wissenschaft auf 30 Jahre Lichtenhagen 1992“ leicht verspätet fortgesetzt. Das Buch dokumentiert und fasst die Ergebnisse der Vorlesungsreihe an der Universität Rostock zum 30. Jahrestag des Pogroms zusammen. Wie 2012 kam dieses Projekt aber nicht durch ein institutionell geplantes Programm der Universität, sondern durch Eigeninitiativen von Universitätsangehörigen zustande, die alle in unterschiedlichen Fachbereichen arbeiten und sich Frühjahr 2022 zufällig bei einem Workshop trafen.

Zweifellos ist die Anzahl von wissenschaftlichen Aufsätzen und Bezugnahmen höher, ebenso die zahlreichen journalistischen Erzeugnisse, die zu den Jahrestagen regelmäßig einen Boom erfahren. All das kann aber nicht über die wissenschaftliche Marginalisierung und das letztlich unzureichende Interesse an einer kontinuierlichen Aufarbeitung und vertieften Erforschung hinwegtäuschen. Die Ursachen dafür sind unklar: Wenn wir die Aufarbeitung des NSU-Komplexes zum Vergleich heranziehen,13 kann die These aufgestellt werden, dass die staatspolitische Brisanz des Falls der wissenschaftlichen und journalistischen Aufarbeitung hier nicht im Wege steht – eher kann das Gegenteil behauptet werden. In den letzten Jahren ist ein verstärktes Interesse zu verzeichnen: Darunter zählt etwa das Forschungsprojekt „Doing Memory“ von Tanja Thomas, Fabian Virchow und Matthias Lorenz sowie Rostocker Initiativen mit Lokalforschenden wie etwa Gudrun Heinrich und das Dokumentationszentrum „Lichtenhagen im Gedächtnis“. Vereinzelt existieren auch Bachelor- und Masterarbeiten von interessierten Studierenden sowie einige Dissertationsprojekte.

„Zum Thema Rostock-Lichtenhagen sind bisher lediglich drei Stücke in kleinen Theaterproduktionen entstanden: Davon nimmt nur das Stück „Sonnenblumenhaus“ (2014) von Dan Thy Nguyen und Iraklis Panagiotopoulos die Perspektive der angegriffenen vietnamesischen Community ein.“

Auf der Ebene der kulturellen Verarbeitung fällt ebenfalls im Vergleich zur Themensetzung des NSU-Komplexes etwa im Bereich „Theater“ ein deutlicher Unterschied auf,14 obwohl beide Themen miteinander verbunden sind und trotz wichtiger Unterschiede in ihrer gesellschaftlichen und zeithistorischen Bedeutung vergleichbar erscheinen. Zum Thema Rostock-Lichtenhagen sind bisher lediglich drei Stücke in kleinen Theaterproduktionen entstanden: Davon nimmt nur das Stück „Sonnenblumenhaus“ (2014) von Dan Thy Nguyen und Iraklis Panagiotopoulos die Perspektive der angegriffenen vietnamesischen Community ein.15 Die beiden Stücke „Kein schöner Land“ (2000) der freien Gruppe „Neue Tendenz Theater“ aus NRW und „Bis zum Anschlag“ (2011) von Christof Lange vom Freien Theater Jugend Rostock fokussieren sich dagegen auf Weiße Täter.16 Diese Perspektive nimmt auch der bisher einzige Spielfilm zum Thema ein. In Burhan Qurbanis Kinostreifen „Wir sind jung. Wir sind stark“ (2015) stehen erneut eine Weiße Jugendgruppe und die Tätersicht im Zentrum.17 Im Unterschied dazu sind die Dokumentarfilme weniger bekannt, aber thematisch diverser aufgestellt, da im Laufe der Zeit neue Fragen etwa zur Integrations- und Erinnerungsarbeit dazu kamen. Neben der „Kennzeichen D“-Reportage des ZDF-Teams ist insbesondere der britische Dokumentarfilm „The Truth Lies in Rostock“ (1993) von Mark Saunders und Siobhan Cleary, die bei ihrer Arbeit von der linken Rostocker Initiative JAKO videocoop unterstützt wurden, als zeithistorisches Dokument und als Archivmaterial von besonderer Bedeutung. In Interviews mit Roma-Geflüchteten und vietnamesischen Arbeiter:innen entstanden Bilder und Narrative, die den Angegriffenen bis heute eine Stimme geben und ihre Sicht der Geschichte ansatzweise repräsentieren. Anlässlich des 30. Jahrestags entstand in der Reihe „Die Narbe“ die bisher letzte Fernsehproduktion „Der Anschlag in Rostock-Lichtenhagen“ (NDR 2022). Trotz des Postulats Rassismus zu benennen und Betroffenenperspektiven Raum einzuräumen, gelingt das nicht wirklich. So wurde Mai-Phuong Kollaths Plädoyer die rassistische Gewalt im August 1992 als „Pogrom“ zu bezeichnen aus der dokumentierten Diskussion rausgeschnitten und stattdessen am Begriff „Krawalle“ festgehalten.18

Auch die Stadt Rostock tut sich schwer, diesen Themen und Herausforderungen gerecht zu werden. Zwar wurde von zivilgesellschaftlicher Seite etwa die Ausstellung „Von Menschen, Ansichten und Gesetzen. Rostock-Lichtenhagen – 10 Jahre danach“ (Bund statt Braun, 2002) erarbeitet. Im Laufe der Jahre fanden auch unzählige Veranstaltungen und unterschiedlichste Projekte statt. Trotzdem kann gesagt werden, dass bis 2017 die offizielle wie zivilgesellschaftliche Erinnerungspolitik lediglich ereignisbezogen, kurzfristig und temporär, z.T. auch verklärend und instrumentell war. Statt die institutionelle Verantwortung staatlicher Akteure und den allgegenwärtigen Rassismus im Alltag bis hin zum behördlichen Handeln aufzuarbeiten und in der Bildungsarbeit weiterzuvermitteln, wurde nicht selten der Fokus auf multikulturelle Feste, Versöhnung und Integration gelegt19, um unangenehme und konfliktträchtige Themen zu vermeiden. Diese Kritik lässt sich auch an einem städtischen Vorzeigeprojekt zur erinnerungspolitischen Aufarbeitung des Pogroms verdeutlichen.

In Reaktion auf fortlaufende Kritik und Forderungen nach Schaffung von Lern- und Erinnerungsorten in öffentlichen Raum20 lud die Stadt Juli 2016 zehn Künstler:innen und Projekte zu einem Wettbewerb mit einem Gesamtetat von lediglich 105.000 Euro ein.21

Die Entscheidung der Rostocker Jury fiel zugunsten der lokalen Künstlergruppe SCHAUM aus, deren Entwurf als Nachrücker eingebracht wurde. Ihr dezentrales Konzept „Gestern Heute Morgen“ geht von dem zentralen Arbeitsmotto aus: „Die Kunstwerke wollen keine Antworten oder Schuldzuweisungen geben.“22

„Aus meiner Sicht stellt dieses Denkmal eine verpasste Chance dar.“

Was aber bedeutet das? Aus meiner Sicht stellt dieses Denkmal eine verpasste Chance dar. Denn die dezentrale Aufstellung u.a. vor dem Rathaus, dem Redaktionsgebäude der Ostsee-Zeitung und dem Polizeipräsidium ist eigentlich hervorragend geeignet, die Rolle und Verantwortung dieser Institutionen beim Pogrom ganz konkret mit künstlerischen Mitteln und bildungspolitischer Aufarbeitung offen zum Thema zu machen. Stattdessen wurden zum 25. Jahrestag Installationen aufgestellt, die nicht nur sehr unauffällig und leicht zu übersehen sind; ihre abstrakten Symbole und universelle Gesten lenken auch davon ab, sich tatsächlich mit dem rassistischen Pogrom im lokalen Kontext auseinanderzusetzen. Da diese Skulpturen so unverständlich sind, entsteht immer wieder die absurde Situation, dass Besucher:innen diese Gebilde nicht als Erinnerungsorte erkennen und weiter danach suchen, obwohl sie direkt davor stehen.23 Aufgrund ihrer minimalistischen und kostengünstigen Gestaltung, die mit einer Grundfläche von meist nur 0,18 qm auch kaum Raum beansprucht, wirken dieser Mahnmale wie eine formale Pflichtaufgabe, die im Alltag möglichst wenig stören soll und zumindest der Dominanzgesellschaft keine schmerzhaften Erinnerungen oder Lernprozesse zumuten will. In diese Logik passt auch die Benennung der Installation vor dem Sonnenblumenhaus als „Selbstjustiz“, die mit diesem Titel das fragwürdige Risiko der Legitimierung rassistischer Gewalt eingeht.

Auch bei diesem erinnerungspolitischen Projekt offenbarte sich erneut ein altbekanntes Strukturproblem: Das Übergehen und die Unsichtbarmachung von Betroffenenperspektiven. Erst im Nachhinein wurde der Stadt bewusst, dass vergessen wurde, die Opfer des Pogroms einzubeziehen. Daher wurde die sechste Skulptur „Empathie“ von einer NGO finanziert und 2018 den betroffenen Opfern nachträglich gewidmet. Obwohl mit Romani Rose sowie dem Vorsitzenden des Migrantenrat Rostock Selbstrepräsentation ermöglicht wurde, standen bei beiden Einweihungen bedauerlicherweise keine Sprecher:innen der vietnamesischen Community auf dem Programm. Auch die modernisierte Erinnerungspolitik ist mit Marginalisierung und Unsichtbarmachung verstrickt. So lange Arbeits- und Entscheidungsprozesse ohne gleichberechtigte Mitwirkung aller betroffenen Communities stattfinden und entsprechende (auch materielle) Voraussetzungen dafür geschaffen werden, werden zwangsläufig institutionalisierte Ausschlüsse reproduziert.

So verhält es sich auch mit der offiziellen Entschuldigung der Stadt durch Oberbürgermeister Pöker, die schon 2002 ausgesprochen wurde. Aber so lange keine Entschädigungsleistungen und ein Rückkehrrecht für die damals abgeschobenen Opfer des Pogroms angeboten werden, beschränkt sich die „Wiedergutmachung“ auf ein symbolpolitisches Zeichen.

„Anti-Asiatischer Rassismus wurde nicht nur in Rostock, sondern allgemein in Deutschland bisher historisch verkannt, verdrängt und in allen Bereichen stark unsichtbar gemacht.“

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass anti-Asiatischer Rassismus nicht nur in Rostock, sondern allgemein in Deutschland bisher historisch verkannt, verdrängt und in allen Bereichen stark unsichtbar gemacht wurde. Ob diese gravierenden Defizite in den nächsten Jahren ein Stück weit abgebaut werden können, ist mit Skepsis zu betrachten, solange der politische Wille in den Institutionen und bei entscheidenden Gatekeepern fehlt. Obwohl Deutschland nicht nur postmigrantischer, sondern aufgrund zunehmender Migrationsprozesse aus dieser Weltregion auch Asiatisch-diasporischer wird, ist die strukturelle Sensibilität für diese Thematik in der deutschen Gesellschaft nach wie vor nur gering ausgeprägt. Das zeigen nicht zuletzt die Koalitionsvereinbarungen der aktuellen Bundesregierung vom Dezember 2021: Trotz Aktualität und Vielzahl der dokumentierten Corona-Rassismusfälle gegen Asiatisch Aussehende in Deutschland wird das Thema „anti-Asiatischer Rassismus“ im Unterschied zu anderen Rassismusformen dort nicht einmal erwähnt. Folglich werden die Institutionen des Bundes keine spezifischen Maßnahmenpakete gegen anti-Asiatischen Rassismus konzipieren oder das Thema systematisch berücksichtigen, da dieses Problem dort nicht explizit anerkannt ist. Das ist insoweit konsequent, da auch im bisherigen „Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus“ (Bundesministerium des Innern 2017) anti-Asiatischer Rassismus kein Thema ist. Asiatische Deutsche, Asiatisch-diasporische und Asiatische Menschen sind in Deutschland im Unterschied zu anderen Betroffenengruppen immer noch nicht ausdrücklich als vulnerable und schutzwürdige Gruppe anerkannt. Das bedeutet, dass aus dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen auch heute noch nicht die richtigen Lehren gezogen wurden.

Im Erscheinen: Verwobene Geschichten in Hito Steyerls „Die leere Mitte“ (1998) aus Asiatisch-deutscher Perspektive. In: Ömer Alkin/Alena Strohmaier (Hg.): Rassismus und Film. Marburg: Schüren Verlag, 2023. Zur kolonialen Matrix des anti-Asiatischen Rassismus: Gelbe Gefahr, Unsichtbarkeit und Exotisierung. In: Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) (Hg.): Rassismusforschung: Rassismen, Communities und antirassistische Bewegungen, Bd. 2, Bielefeld: transcript 2023.

Info: Dieser Text ist der dritte Teil eines Dreiteilers. Der erste Teil kann hier abgerufen werden.

  1. Vgl. Diederichs: Das Polizeidebakel von Rostock; Guski: Nach Rostock-Lichtenhagen, S. 32-34.
  2. Jochen Schmidt: Das Haus brennt! – Die Asyldebatte und ihre Parallelen 1992 und heute, Vortrag in Synagoge und Kulturzentrum Marburg, 27.09.2016. (Zugriff am 25.02.2023), hier 9:00-9:12.
  3. Ebd., hier 35:45-35:55.
  4. Vgl. Wikipedia (Zugriff am 25.02.2023).
  5. Prenzel: Rostock-Lichtenhagen, S. 24.
  6. Vgl. Benjamin Unger: Zeitreise. Rostocker Polizeichef im Rotlicht-Strudel. In: NDR, 06.01.2023. (Zugriff am 25.02.2023).
  7. Vgl. DER SPIEGEL: Polizei Tod im Bienenstock. In: DER SPIEGEL, Nr. 49/1994, 04.12.1994. (Zugriff am 25.02.2023).
  8. Hierzu zählt der „Pakt von Rostock“ mit einem selbsternannten Anführer des gewalttätigen Mobs, um auf dieser Grundlage den Rückzug der letzten Polizeieinheiten vor dem Wohnheim anzuordnen. Vgl. Diederichs: Das Polizeidebakel von Rostock.
  9. Vgl. Wikipedia (Zugriff am 25.02.2023).
  10. Peter Gärtner: Urteile im Lichtenhagen-Prozess. In: Weser-Kurier, 18.06.2002 zit. nach Guski: Nach Rostock-Lichtenhagen, S. 35-38, hier S. 38.
  11. Diese These ist nicht neu, sondern wurde bereits unmittelbar nach dem Pogrom diskutiert. Vgl. etwa das Kapitel „Rostock-Gate: Das politisch zugelassene und geförderte Pogrom?“ in Funke: Brandstifter, 103-177.
  12. Schmidt: Das Haus brennt!, 45:05-46:47; 51:20-54:28, hier 54:02.
  13. Beispielsweise listet Amazon im Februar 2023 unter der Buchrubrik „Terrorismus & Extremismus“ 127 Angebote zum Stichwort „NSU“ mit einer relativ hohen Trefferquote und nur drei Angebote zu Lichtenhagen, die sich aber allgemein mit Rechtsextremismus beschäftigen.
  14. Ein herausragendes Beispiel ist das dezentrale und interdisziplinäre Theaterprojekt „Kein Schlussstrich!“ mit einer angegliederten Ausstellung sowie einem umfangreichen Diskurs- und Rahmenprogramm, welches 2021 zum zehnjährigen Gedenken der Opfer der NSU-Morde von 18 Trägern in 15 Städten mit mehr als 700 Vorstellungen durchgeführt wurde. Eine zusammenfassende Übersicht findet sich hier. (Zugriff am 25.02.2023).
  15. Das Stück erwähnt zwar die anti-ziganistischen Angriffe auf die Roma-Familien in der ZAST, kann aber ihre Erfahrungen auch aus praktischen Gründen nicht repräsentieren, da ihr Verbleib durch Abschiebungen unklar war.
  16. Vgl. Guski: Nach Rostock-Lichtenhagen, S. 40-41.
  17. Vgl. Figge, Maja: Rassistische Gewalt und ihre Rahmungen. Zur filmischen Erinnerung in Burhan Qurbanis WIR SIND JUNG. WIR SIND STARK. In: montage AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation. 25,2 (2016), S. 37–54.
  18. Vgl. Bündnis „Gedenken an das Pogrom. Lichtenhagen 1992“: Kommentar zur NDR Sendung „Die Narbe“, 28.04.2022. (Zugriff am 25.02.2023).
  19. Vgl. Guski: Nach Rostock-Lichtenhagen, S. 43-44.
  20. Vgl. Guski: Nach Rostock-Lichtenhagen, S. 50; Tanja Thomas / Fabian Virchow: Hegemoniales Hören und Doing Memory an rechte Gewalt. Leviathan Sonderband 37 (2021), S. 205-226; Gudrun Heinrich: Rostock Lichtenhagen 1992–2017. Aufarbeitung und Erinnerung als Prozess der lokalen politischen Kultur. In: Martin Koschkar / Clara Ruvituso (Hrsg.): Politische Führung im Spiegel regionaler politischer Kultur. Wiesbaden: Springer VS 2018, S. 293–309.
  21. Hansestadt Rostock: Nichtoffener Kunstwettbewerb „Erinnern und Mahnen an Rostock-Lichtenhagen 1992“. 2016.
  22. Projektwebsite (Zugriff am 25.02.2023).
  23. So Claudia Carla (Evangelischen Akademie der Nordkirche) und Lisa Radl (Stadtteilmanagerin Rostock-Lichtenhagen) in Heinrich-Böll-Stiftung Mecklenburg-Vorpommern: Rostock-Lichtenhagen 1992: Gedenken im öffentlichen Raum, 0:50-1:03; 5:35-6:00. (Zugriff am 25.02.2023).
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