Kino
Universelles Dilemma der Migrationserfahrung auf den Punkt gebracht
In ihrem berührenden Kinodebüt „Past Lives - In einem vergangenen Leben“ erzählt die südkoreanisch-kanadische Regisseurin Celine Song von zwei Kindheitsfreunden, die sich nach langer Zeit wiedersehen. Es geht um Identität, Migration und Liebe.
Von Kai Mihm Dienstag, 15.08.2023, 18:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 15.08.2023, 16:11 Uhr Lesedauer: 2 Minuten |
„Past Lives“, das Kinodebüt der südkoreanisch-kanadischen Dramatikerin Celine Song, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. In einer schlicht anmutenden Geschichte spürt der Film existenzielle Themen auf und erzählt über große Gefühle, die ganz leise, fast unscheinbar daherkommen. Darüber hinaus funktioniert er als kluge Reflexion über Identität, Migration und das Verhältnis von Spiritualität und Weltlichkeit.
Im Mittelpunkt steht Nora, die aus Südkorea stammt und als 12-Jährige mit ihren Eltern nach Kanada zog. In Korea hieß sie Na Young und hatte einen besten Freund namens Hae Sung. Doch mit ihrer Auswanderung bricht der Kontakt ab. Zwölf Jahre später: Nora lebt inzwischen als Theaterautorin in New York. Aus einer Laune heraus sucht und findet sie ihren alten Freund auf Facebook. Es stellt sich heraus, dass er schon länger nach ihr forschte, aufgrund ihrer Namensänderung ohne Erfolg.
Über regelmäßige Skype-Gespräche entwickelt sich erneut eine vertrauensvolle Beziehung. Bis Nora den Kontakt unvermittelt abbricht, als fürchte sie, dass die Vergangenheit ihre Zukunft beeinträchtigen könnte. Weitere zwölf Jahre vergehen. Nora ist inzwischen glücklich mit dem Amerikaner Arthur verheiratet, auch er ein Autor. Der Ingenieur Hae Sung lebt ohne feste Bindung in Seoul. Nun kündigt er an, für einen Besuch nach New York zu kommen.
Migrations-Dilemma auf den Punkt gebracht
Dieser längste Abschnitt des Films, der mit Hae Sungs Ankunft ganz beiläufig auch zu einem feinen New-York-Film wird, bildet das berührende Herzstück der Geschichte. Es wird zu einer Auseinandersetzung über Identität und Schicksal. Noras gegenwärtiges Leben, ihre über Jahrzehnte aufgebaute amerikanische Identität, wird durch das Treffen mit Hae Sung erheblich ins Wanken gebracht.
In einer der besten Szenen erzählt sie ihrem Mann amüsiert-verwirrt, wie sehr sie sich im Kontakt mit Hae Sung wieder als Koreanerin fühlt. In wenigen Sätzen wird hier ein universelles Dilemma der Migrationserfahrung auf den Punkt gebracht. Arthur entgegnet, dass Nora auch im Schlaf nur koreanisch spricht – ihre Träume, ihr tiefstes Inneres, könnte man sagen, bleiben für ihn unverständlich.
Der Vergangenheit nachhängen
Doch Celine Songs Weltsicht ist zu humanistisch, um Arthur zu einem Hindernis auf dem Weg zum Liebesglück der Kindheitsfreunde zu degradieren. Mit nüchterner Klarheit hinterfragt Arthur seine eigene, undankbare Situation. Seine stille Hilflosigkeit angesichts des drohenden Entgleitens seiner Frau gehört zu den berührendsten Momenten des Films, dessen Titel „Past Lives“ eine melancholische Mehrdeutigkeit gewinnt.
Hat Nora früher die richtigen Wege gewählt? Hängt Hae Sung womöglich zu sehr der Vergangenheit nach? Ohne Sentimentalität oder Nostalgie erzählt Celine Song von Vergangenem und Gegenwärtigem, von alten Beziehungen und neuen Perspektiven. Und nicht zuletzt geht es auch um den Widerstreit von Vernunft und Verlangen. (epd/mig) Aktuell Feuilleton
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