„Herrscher des Aufenthaltsrechts“
Wie Deutschland seine afghanischen Ortskräfte im Stich ließ
Vor zwei Jahren wurde der Bundeswehrabzug aus Afghanistan beendet. Sechs Wochen später übernahmen die Taliban die Macht. Afghanische Verbündete der Deutschen fürchteten um ihr Leben.
Von Mey Dudin Mittwoch, 05.07.2023, 17:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 04.07.2023, 11:18 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Die Bilder gingen um die Welt. Verzweifelte Menschen klammerten sich an das Fahrwerk einer US-Militärmaschine, als der Evakuierungsflieger am 16. August 2021 vom Flughafen Kabul abhob. Die Taliban hatten zuvor die Macht in Afghanistan übernommen. Länder, die am Hindukusch jahrelang engagiert waren, ließen ihre Staatsangehörigen per Luftbrücke in Sicherheit bringen. Tausende Ortskräfte, die für Bundeswehr, deutsche Botschaft oder deutsche Entwicklungshilfe arbeiteten, blieben zurück und mussten um ihr Leben fürchten. Ein Afghanistan-Untersuchungsausschuss im Bundestag arbeitet seit vergangenem Sommer auf, was bei dem Abzug schiefgelaufen ist.
Nach mehr als 40 Sitzungen mit Befragungen von Zeuginnen und Zeugen ist deutlich, dass es an politischer Führung aus dem Kanzleramt fehlte, gepaart mit zähen bürokratischen Verfahren. Die beteiligten Ministerien hatten unterschiedliche Interessen, Staatssekretärsrunden wurden sich nicht einig und es gab die dramatische Fehleinschätzung, dass die afghanische Armee die Taliban zumindest aus der Hauptstadt fernhalten würde.
Visa-Verfahren der „Flaschenhals“
Ein Risiko-Manager für die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), der die Lage ebenfalls falsch eingeschätzt hatte, sprach von einer „Erfahrung, die bescheiden macht“. Im Ausschuss stellte der Mann, der anonym bleiben soll, einen Vergleich zum fluchtartigen US-Abzug aus Vietnam 1975 an. Alle seien davon ausgegangen, in Afghanistan gebe es kein „Saigon-Szenario“, sagte er. „Und dann waren wir mittendrin.“
Dabei hatte sich die Bundeswehr schon seit Februar 2020, nachdem der Friedensvertrag zwischen den Taliban und den USA unterzeichnet war, darum bemüht, die Evakuierung ihrer afghanischen Helfer nach Deutschland vorzubereiten. Das Visa-Verfahren sei der „Flaschenhals“ gewesen, sagte ein mit dem Ortskräfteverfahren betrauter Oberstleutnant, die Bundeswehr „Bittsteller“.
„Herrscher des Aufenthaltsrechts“
Im Bundesinnenministerium blockierten laut Zeugen die „Herrscher des Aufenthaltsrechts“ eine Gruppenaufnahme und beharrten auf individuelle Verfahren. Dafür war der Nachweis nötig, dass eine Ortskraft wegen der Tätigkeit für die Deutschen persönlich und akut von den Taliban bedroht war. Im Haus habe es „eine klare Linie“ gegen pauschale Aufnahmen gegeben, bestätigte eine Juristin aus dem Innenministerium.
Das Auswärtige Amt und das Entwicklungsministerium hatten es derweil nicht eilig. Sie wollten ihre afghanischen Angestellten im Land behalten, planten sie doch, nach dem Truppenabzug präsent zu bleiben. Ein Diplomat beschrieb die Sorge, dass ein Abzug der Ortskräfte ein gravierendes politisches Signal senden könnte. Eine „rette sich, wer kann“-Situation sollte vermieden werden, betonte auch ein Referatsleiter des Innenministeriums.
Antrag in Pakistan oder Indien
Das Ortskräfteverfahren hat zudem nur funktioniert, solange lediglich zwei Dutzend Menschen pro Jahr nach Deutschland kommen wollten. Für Tausende Schutzsuchende war es ungeeignet. Voraussetzung für die Aufnahme war, dass eine Gefährdungsanzeige beim deutschen Arbeitgeber gestellt wurde. Danach konnte ein Visum beantragt werden.
Normalerweise passiert das an der deutschen Botschaft. Doch an der Botschaft in Kabul gab es seit einem Bombenanschlag 2017 keine Visastelle mehr. Antragsteller mussten also nach Pakistan oder Indien reisen.
Viele Ortskräfte blieben zurück
Im Frühjahr 2021 konnte die Bundeswehr an diesem Punkt immerhin Amtshilfe leisten: Soldaten ließen sich an mobilen Geräten zum Visa-System schulen und nahmen am Stützpunkt Masar-i-Sharif die Namen, Geburtsdaten und biometrische Merkmale ihrer afghanischen Kameraden auf. Dann wurden die Geräte sowie die Reisepässe der Ortskräfte per Luftwaffe zur Bearbeitung nach Deutschland geflogen. Per Luftwaffe kamen die Pässe auch wieder zurück. So konnten Visa an Helfer der Bundeswehr und ihre Familien ausgegeben werden, an rund 2.250 Personen.
Viele andere Ortskräfte hatten solche Unterstützung nicht. Als die deutschen Streitkräfte Ende Juni 2021 abgezogen waren, blieben sie zurück. (epd/mig) Leitartikel Panorama
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