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Jüdischer Friedhof in Worms (Symbolfoto) © Dirk Weßner @ flickr.com (CC 2.0), bearb. MiG

„Sandstein ist nichts für die Ewigkeit“

Aus Dutzenden Fotos werden 3D-Modelle jüdischer Grabsteine errechnet

Die Inschriften auf alten jüdischen Grabsteinen verwittern zusehends - vielerorts in Bayern werden sie deshalb auf verschiedene Weise dokumentiert. In Franken nutzen Experten nun eine erfolgversprechende Methode, indem sie 3D-Modelle erstellen.

Von Mittwoch, 05.07.2023, 18:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 04.07.2023, 17:14 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Wenn Monika Berwanger über den jüdischen Friedhof in Giebelstadt-Allersheim im Landkreis Würzburg läuft, kann das für Außenstehende mitunter etwas sonderbar wirken. Die Theologin fotografiert dort Grabsteine. Aber sie macht nicht nur ein oder zwei Bilder je Grabstein, sondern 80 bis 120 aus verschiedenen Perspektiven. Ihr Ziel: Völlig verwitterte Inschriften lesbar zu machen. Dabei hilft moderne Technik – und Fachwissen aus Oberfranken.

Der Allersheimer Friedhof im Ochsenfurter Gau liegt rund 700 Meter vom Ortskern entfernt. Es ist ein rund 350 Jahre altes Kulturdenkmal von überregionaler Bedeutung: Auf dem Verbandsfriedhof haben mehr als 4.000 Menschen ihre letzte Ruhe gefunden. Er dokumentiert das jüdische Leben und Sterben vom letzten Drittel des 17. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Ungefähr 1.600 Grabsteine sind noch erhalten, aber immer weniger Inschriften sind noch lesbar – denn der Zahn der Zeit nagt an ihnen.

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3D-Modell aus vielen zweidimensionalen Fotos

„Sandstein ist nichts für die Ewigkeit“, sagt der Historiker Riccardo Altieri, der Leiter des Johanna-Stahl-Zentrums für jüdische Geschichte und Kultur, das vom Bezirk Unterfranken und der Stadt Würzburg getragen wird. Deshalb wird auf jüdischen Friedhöfen schon seit vielen Jahren fotografisch dokumentiert. Doch auf den Fotos etwa aus den 1990er Jahren könne man oft nur sehr wenig erkennen. „Da sind die Grabsteine teilweise verschattet“, sagt Berwanger. Oder die Bilder seien unscharf. Und selbst auf guten Fotografien könne man wegen Flechten und Moosen die verwitterte Schrift kaum lesen.

Hier kommt Wolfgang Hegel ins Spiel, der im Bereich der Kultur- und Heimatpflege des Bezirks Unterfranken arbeitet. Er hatte auf dem jüdischen Friedhof Autenhausen im Landkreis Coburg das gleiche Problem. Anlässlich des Jubiläumsjahres „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“ 2021 wurden dort Fotos erstellt. „Ich habe dann einfach mal die ‚Structure-from-Motion‘-Technik ausprobiert“, erläutert er. Das heißt: Aus vielen zweidimensionalen Fotos wird ein 3D-Modell errechnet.

„Ich hätte das nicht für möglich gehalten.“

Dieses Fachwissen machen sich nun die Unterfranken zunutze – auf kollegialer Amtshilfe-Basis. „Herr Hegel müsste das nicht machen“, betont Altieri. Aber Hegel will. Er lädt alle Fotos eines Grabsteins in ein Photogrammetrie-Programm, das aus den zweidimensionalen Bildern ein 3D-Modell macht. Dieses Modell wiederum wird dann in einem weiteren Programm nachbearbeitet. Mit technischem Geschick kann man so fast unsichtbare Inschriften wieder lesbar machen.

Monika Berwanger ist begeistert: „Ich hätte das nicht für möglich gehalten.“ Nicht nur, dass man verloren geglaubte Inschriften wieder lesen, übersetzen und für die Nachwelt dokumentieren kann – man muss dafür auch nicht Hand an die Grabsteine anlegen: „Oft beschädigt man die empfindlichen Steine schon, wenn man nur versucht, eine Flechte oder Moos abzukratzen.“ Riccardo Altieri ist angetan von der Methode, weil sich quasi jeder, der einen Fotoapparat bedienen kann, an der Dokumentation alter Grabsteine beteiligen kann.

„Jetzt wird das alles einfacher“

„Das ist ein Paradebeispiel für ein Bürger-Wissenschafts-Projekt“, sagt Altieri. Und Wolfgang Hegel ergänzt: „Mit diesem Vorgehen schafft Heimatpflege vor Ort eine Identifikation mit erhaltenswerten Denkmalen.“ Denn anders als früher müssten eben „keine Experten von außerhalb“ mit sündhaft teurem Equipment kommen, die dann irgendwann wieder weg sind – und mit ihnen das Fachwissen über das vor Ort Dokumentierte. Aktuell sei man noch in der Pilotphase, „aber künftig soll eine Beteiligung für jeden überall möglich sein“, sagt Altieri.

Von den 1.600 noch existenten Allersheimer Grabsteinen haben die Theologin Berwanger und ein Team von der Uni Würzburg um die 250 bereits übersetzt – bislang allerdings größtenteils ohne die Hilfe der neuen Technik. „Jetzt wird das alles einfacher und hoffentlich besser gehen“, hofft sie. (epd/mig) Aktuell Feuilleton

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