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Tobias Gehring, Soziolog, Flucht, Flüchtlinge, Afrika, Migazin
Tobias Gehring © privat, Zeichnung: MiGAZIN

Sprachgebrauch

Ohne den „Flüchtling“ geht es nicht

Am Begriff „Flüchtling“ ist manches problematisch. Die häufig vorgeschlagene Alternative „Geflüchtete:r“ ist jedoch kein adäquater Ersatz.

Von Montag, 19.06.2023, 13:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 31.05.2023, 13:28 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Am 20. Juni ist Weltflüchtlingstag. Nicht nur im Namen dieses Aktionstags, sondern auch an vielen anderen Stellen ist der Begriff „Flüchtling“ fest verankert. So existieren das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, die „Zeitschrift für Flucht- und Flüchtlingsforschung“ und das als „Genfer Flüchtlingskonvention“ (GFK) bekannte Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge. Doch seit einiger Zeit ist der „Flüchtling“ in die Kritik geraten. Statt von „Flüchtlingen“, heißt es, solle man lieber von „Geflüchteten“ sprechen.

Problematische Konnotationen von „Flüchtling“

Menschen, die sich für einen diskriminierungsfreien Sprachgebrauch einsetzen, führen zur Begründung dieser Forderung vor allem zwei Argumente ins Feld. Erstens gibt es zu „der Flüchtling“ kein weibliches Pendant. Auf sprachlicher Ebene spiegelt sich damit der dem Begriff auch konzeptuell innewohnende male bias wieder. Dies meint die implizite Orientierung des Flüchtlingsbegriffs, wie er in der GFK etabliert wird, an männlichen Personen.

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Und zweitens wird die Wortendung „-ling“, die sich der „Flüchtling“ u. a. mit dem „Schädling“, dem „Schönling“ und dem „Emporkömmling“ teilt, als abwertend kritisiert. Andere auf „-ling“ endende Wörter wie der „Sträfling“ oder der „Lehrling“ weisen den so bezeichneten Menschen eine passive Rolle zu. Die eine wie die andere Konnotation von „-ling“ ist nicht zuletzt deswegen problematisch, weil öffentliche Diskurse über Fluchtmigration meist zwischen ebendiesen Polen schwanken: Stereotype über Menschen auf der Flucht zeichnen diese mal abwertend als bedrohliche Eindringlinge, mal als hilflose, notleidende Opfer, die scheinbar keine eigene Handlungsfähigkeit besitzen.

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Diesen und ähnlichen Argumenten ist gemein, dass sie auf die Konnotation von „Flüchtling“ zielen, also auf wertende oder emotional gefärbte Bedeutungsinhalte, durch die sich unterschiedliche Bezeichnungen für ein und dasselbe Phänomen voneinander unterscheiden. Ob man von „Flüchtlingen“ oder von „Geflüchteten“ sprechen sollte, wird üblicherweise also auf derselben Ebene diskutiert, auf der auch andere Fragen diskriminierungsfreien Sprachgebrauchs verhandelt werden: „Inuit“ oder „Eskimo“, „Indianer:innen“ oder „amerikanische Ureinwohner:innen“, usw. Solange man sich allein auf dieser Ebene bewegt, gibt es in der Tat wenig, was für den „Flüchtling“ spricht. Rein konnotativ betrachtet ist die Alternative „Geflüchtete:r“ angemessener. Allerdings reicht eine bloß konnotative Betrachtungsweise in dieser Frage nicht aus.

Viele geflüchtete Menschen sind keine Flüchtlinge

Denn Begriffe unterscheiden sich nicht nur durch ihre jeweilige Konnotation voneinander, sondern auch durch ein zweites wichtiges Kriterium: Von wem ist eigentlich die Rede, wenn man diesen oder jenen Begriff verwendet, wer ist damit gemeint, und wer nicht? Diese Bedeutungsdimension eines Begriffs wird in der Sprachwissenschaft als Denotation bezeichnet. Damit nun ein Begriff an die Stelle eines anderen treten kann, müssen beide ungeachtet ihrer konnotativen Unterschiede denotativ gleichbedeutend sein, den jeweils gleichen Personenkreis einschließen. Man kann sich dies vorstellen wie beim Kauf neuer Schuhe: Dass diese schöner und bequemer sind als die ausgelatschten alten, mag ein guter Grund für den Neukauf sein; tätigen sollte man diesen jedoch nur, wenn das neue Paar auch die gleiche Größe hat wie das, welches man bisher trägt. Kurzum: Geflüchtete/r sollte denotativ möglichst dasselbe meinen wie Flüchtling.

Daran, dass diese Bedingung erfüllt ist, lassen sich jedoch begründete Zweifel formulieren. Denn jenseits der Umgangssprache ist „Flüchtling“ keineswegs ein Sammelbegriff für alle geflüchteten Menschen. Vielmehr sind in den Begriff zwei gewichtige denotative Bedeutungseingrenzungen eingeschrieben.

Im weiteren Sinne steht „Flüchtling“ – als Gegenpol zu „Binnenvertriebene:r“ – für diejenigen Menschen, die aus ihrem Land in ein anderes geflüchtet sind, etwa aus Syrien nach Deutschland oder aus dem Südsudan nach Uganda. Bereits dies macht „Flüchtling“ zu einem Begriff, der lediglich eine Minderheit aller geflüchteten Menschen bezeichnet: Von 101 Millionen Menschen auf der Flucht, die das UNHCR weltweit zur Jahresmitte 2022 zählte, blieben beinahe zwei Drittel im eigenen Land, u. a. 7 Millionen in der Ukraine und 1 Million in Myanmar.

Und im engeren Sinne bezeichnet „Flüchtling“ – nunmehr im Kontrast zu Kategorien wie „Geduldete:r“ oder „Asylbewerber:in“ – gar nur jene Menschen, welche den rechtlichen Flüchtlingsstatus innehaben. Dies schränkt den Anteil der Flüchtlinge an den geflüchteten Menschen nochmals ein, da hierfür nebst der grenzüberschreitenden Flucht auch deren Ursachen von Bedeutung sind. So ist gemäß der Definition aus der GFK Flüchtling, wer vor Verfolgung aus Gründen wie der Religionszugehörigkeit oder der politischen Überzeugung flieht – nicht aber, wer sein Herkunftsland wegen einem (Bürger-)Krieg verlassen musste.

Dass „Geflüchtete:r“ diese denotativen Bedeutungseingrenzungen mitvollzieht, ist insbesondere in der Gegenüberstellung zum „Flüchtling“ im engeren Sinne nicht zu erkennen. Vielmehr wird teils ausdrücklich die denotative Ungleichheit der beiden Begriffe betont. So schreibt die Organisation Neue Deutsche Medienmacher:innen zum Stichwort „Geflüchtete“: „Da es sich um keinen juristischen Begriff handelt, ist er bei der Berichterstattung in vielen Fällen einsetzbar: geflüchtete Menschen können auch jene sein, die keinen offiziellen Flüchtlingsstatus haben.“ Ganz ähnlich äußert sich der Journalist Uli Röhm im Deutschlandfunk Kultur: „,Geflüchteteʻ […] ist zwar kein juristischer Begriff, aber er umfasst dafür auch alle Menschen, die nach der Genfer Konvention ohne Flüchtlingsstatus sind.“

Ergänzen, nicht ersetzen

Damit aber ist „Geflüchtete:r“ nicht nur ein schönerer und bequemerer, sondern auch ein deutlich größerer Schuh als „Flüchtling“ – und folglich nicht als dessen vermeintlich passgenauer Ersatz geeignet. Wann immer man nicht von geflüchteten Menschen im allgemeinen, sondern von ganz bestimmten geflüchteten Menschen sprechen möchte – von jenen und nur jenen, die ins Ausland geflüchtet bzw. Flüchtlinge im rechtlichen Sinne sind – geht es ohne den „Flüchtling“ nicht. Aber dennoch hat, gewissermaßen im Umkehrschluss, auch „Geflüchtete:r“ seinen Platz. Aufgrund seiner unschärferen, umfassenderen Denotation ist dieser Begriff immer dann angemessen, wenn man ausdrücklich nicht nur von Flüchtlingen im engeren oder weiteren Sinne sprechen möchte, sondern tatsächlich von geflüchteten Menschen aller Couleur – egal, wohin sie geflüchtet sind und welchen Rechtsstatus sie haben.

Der hier skizzierte Vorschlag, „Geflüchtete:r“ als Ergänzung statt als Ersatz für „Flüchtling“ zu gebrauchen, liefe somit auf ein Nebeneinander von „Flüchtling“ als Spezial- und „Geflüchtete:r“ als Sammelbegriff hinaus. Weitreichende Parallelen zum englischen Begriffspaar „refugee“/„forced migrant“ sind an dieser Stelle kaum verkennbar. Ein gleichartiges Paar aus „Flüchtling“ und „Geflüchtete:r“ auch im Deutschen zu etablieren, anstatt in fragwürdiger Weise den einen durch den anderen Begriff zu ersetzen, kann dem klaren, differenzierten Denken über Fluchtmigration nur zuträglich sein. Denn wenig ist dafür so wesentlich wie klare, differenzierte Begriffe. Meinung

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