Contrapunto
Stärken und Chancen einer kontrapunktischen Lesart
Der Begriff Kontrapunkt, stammend aus der klassischen Musik, meint das Zusammenspiel verschiedener Instrumente, die zusammen ein einzigartiges Klangmuster erzeugen. Das lässt sich übertragen.
Von Alexander Böttcher Dienstag, 13.06.2023, 21:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 13.06.2023, 18:06 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Die migrationsgesellschaftliche Normalität ist eine Realität. Hierzu lässt sich mittlerweile ein gewisser, wenn auch brüchiger und sicherlich nicht von allen geteilter, Konsens ausmachen. Eigentlich ist auch zu fragen, wieso diese Normalität nicht auch als Realität verstanden werden sollte. Schließlich handelt es sich bei Migration nicht um ein aktuelles oder neuzeitliches Phänomen. Ebensowenig ist es eines, das nur Europa beträfe.
Doch wie äußert sich die migrationsgesellschaftliche Realität konkret? Sie zeigt sich in ihrer lebensweltlichen und alltäglichen Verortung, beispielsweise im selbstverständlichen Hüpfen zwischen Sprachen: Ein flüchtiger Blick auf die Messengerapp offenbart mir Chats auf Deutsch, Englisch und Spanisch (teilweise noch mit jeweils verschiedenen regions- und landesspezifischen Dialekten). Während ich diesen Text im Zug verfasse, höre ich diverse weitere Sprachen.
Mit dieser Gesellschaftsrealität geht auch eine Differenzierung, manchmal auch Verkomplizierung dessen einher, was für eine Gesellschaft „richtig“ sein soll, was die „korrekte Lesart“ politischer, gesellschaftlicher und historischer Geschehnisse sein soll. Es wird ambivalenter. Dies ist zugleich auch Ausdruck eines demokratischen Systems, welches ohne Pluralität gar nicht funktionieren könnte. Differenzierungen sind jedoch auch Teil dieser Realität. Wie, von wem und zu welchem Zweck diese Differenzen gezogen werden, scheint sich wiederum ebenfalls zu differenzieren. Trotz der Differenzierung der Differenzen lässt sich nach wie vor die dominierende Idee einer Gruppe der sogenannten „Einheimischen“ gegenüber „Migrant:innen“ feststellen. Damit geht die Idee einer dominanten Vorstellung, wie die Dinge aus Sicht jener „Einheimischen“ zu deuten seien, einher.
„Aus der klassischen Musik stammend, meint der Begriff Kontrapunkt das Zusammenspiel verschiedener Musikstimmen bzw. Instrumente, welche miteinander verwoben werden und so ein eigenes einzigartiges Klangmuster erzeugen.“
Durch die Geste einer gewissen Anmaßung möchte ich sagen, dass „wir“, diejenigen mit sogenannten „Mehrfachzugehörigkeiten“, welche manchmal nationalstaatliche Rahmungen in Frage stellen und manches Mal jene zu bestätigen scheinen, intuitiv mit einer kontrapunktischen Deutungsweise vertraut sind. Aus der klassischen Musik stammend, meint der Begriff Kontrapunkt das Zusammenspiel verschiedener Musikstimmen bzw. Instrumente, welche miteinander verwoben werden und so ein eigenes einzigartiges Klangmuster erzeugen.
Der postkoloniale Denker Edward Saïd griff die Idee des Kontrapunkt in seinem Werk „Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht.“ auf. Sein intellektuelles Schaffen ist gerade vor dem Hintergrund der zunehmenden und berechtigten Infragestellung eurozentrischer Erklärungen von Kolonialismus und Imperialismus zu verstehen. Beispielsweise wurden „die Kolonisierten“ häufig aus der europäischen Idee aufgeklärt zu sein ausgeschlossen und damit die Unterdrückung und Versklavung legitimiert. Saïd zeigt auf, wie eine kontrapunktische Betrachtung zu einem vollständigeren Bild beitragen kann, in dem die nicht-erzählten, nicht-sichtbar-gemachten Geschichten und Widerstände als Bestandteil der Erzählung und Deutung von Wirklichkeit werden.
Der Migrationsforscher Erol Yıldız wendet diese Gedanken auf unsere gegenwärtigen Migrationsgesellschaften an. Es geht dann darum, unsichtbar gemachte Erfahrungen und Perspektiven sichtbar zu machen und somit auch die Zweiteilung von „einheimisch“ und „migrantisch“ aufzubrechen.
Ich bin dankbar, den Sprach- und Kulturschatz Südamerikas durch Familie, Literatur, Filme, Musik und Nachrichten zu erfahren. Solche Bezüge schaffen fast schon unmittelbar eine differenzierte, veruneinheitlichende und mit Ambivalenzen klarkommende Denk- und Lebensweise. Meine Schilderung stellen sicherlich keinen Einzelfall dar. Sie dürften für ziemlich viele Menschen in ähnlicher Weise durch den intellektuellen und emotionalen Zugang zu weiteren Kulturen, Gesellschaften, Traditionen, Praktiken, Erzählungen, Religionen sowie Sprachen zur unhinterfragten Normalität dazugehören. Auch sind sie sicherlich nicht an eigene oder familiäre Migrationserfahrungen zwangsweise geknüpft.
„Ein aktuelles und sich wiederholendes Beispiel für die Unfähigkeit einer kontrapunktischen Lesart in der dominierenden Medienlandschaft kann an den Wahlen in der Türkei ausgemacht werden.“
Ein aktuelles und sich wiederholendes Beispiel für die Unfähigkeit einer kontrapunktischen Lesart in der dominierenden Medienlandschaft kann an den Wahlen in der Türkei ausgemacht werden. Neben einer plumpen Skandalisierung wie „es denn sein könne, dass diese ‚Deutsch-Türken‘, die es doch so gut in Deutschland haben, einem solchen Politiker immer wieder zur Macht verhelfen könnten?“ geht die mediale Thematisierung leider selten hinaus. Der Erkenntnisgewinn dieser Berichterstattung ist schnell erreicht.
Eine Erklärung für das Gefühl einer unzureichenden Abbildung der Realität durch den Journalismus mag an den mangelnden Zwischentönen, der immer noch wenig plural aufgestellten Medienlandschaft Deutschlands, liegen.
Dabei gibt es doch so viele Menschen in Deutschland, die Medien sämtlicher Länder in sämtlichen Sprachen konsumieren und einzuschätzen wissen. Wieso kommt von diesem potenziellen Mehrgewinn so wenig am Ende raus? Wo blieben die Zwischentöne, die unsere migrationsgesellschaftliche Realität widerspiegeln würden und müssten? Meinung
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