Eva Berendsen, Bildungsstätte, Rechtsextremismus, Hessen, Journalistin
Eva Berendsen © Felix Schmitt / Bildungsstätte Anne Frank, Zeichnung: MiG

Buzzword Bingo

Linksextremismus. Eben.

Die Lage ist ernst, die Gefahr von rechts ist real – aber Almania will viel lieber über die Gefahren des Linksextremismus diskutieren. Na dann, bitteschön:

Von Sonntag, 11.06.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 11.06.2023, 12:49 Uhr Lesedauer: 10 Minuten  |  

Es ist Sommer in Deutschland, wir bewegen uns von einem Gedenken an Opfer rechter Gewalt zum nächsten – 30 Jahre Solingen, 4 Jahre Mord an Walter Lübcke, der NSU mordete im Juni viermal: Abdurrahim Özüdoğru in Nürnberg und Süleyman Taşköprü in Hamburg (vor 22 Jahren), İsmail Yaşar in Nürnberg und Theodoros Boulgarides in München (vor 18 Jahren).

Gerade erst war Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Solingen, zur Gedenkveranstaltung an die fünf Opfer der Familie Genç, die bei dem rassistischen Brandanschlag 1993 getötet wurden, und sprach ziemlich gute, ziemlich treffende Gedenkveranstaltungsprosa ins Mikrofon. Er verurteilte das Versagen von Politik und Gesellschaft im Umgang mit rechter Gewalt. Er sprach vom gesellschaftspolitischen Klima, in dem Anschläge wie Solingen, Mölln, Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen überhaupt möglich wurden und spannte den Bogen über den NSU bis zu den Anschlägen und Morden jüngeren Datums, Walter Lübcke, Halle und Hanau. Weil sich im Umgang mit rechtsextremen Gewalttaten dann doch gar nicht so viel getan hat seit 30 Jahren. Er kritisierte die Neigung, die gesellschaftliche Dimension rechter Gewalt in der These vom Einzeltäter zu verwischen und nahm den Staat in die Pflicht, der besonders diejenigen schützen müsse, die ein erhöhtes Risiko haben, Opfer zu werden. Auch mit Blick auf rechte Netzwerke in den Sicherheitsbehörden und der Polizei warnte er: „Wehrhafte Demokratie heißt: Stark sein gegen die, die Hetze verbreiten.“

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Es ist Sommer in Deutschland, ich nicke zu Steinmeiers Worten und verfolge die schrecklichen News über das Umfragehoch der rechtsextremen AfD (18 Prozent!), den Anstieg der geflüchtetenfeindlichen Gewalt, von Polizisten, die rechtsextremes Zeug in Chatgruppen teilen (jetzt neu: auch in Freiburg), und von Reichsbürgern, die Waffen horten.

„Die Lage ist ernst, die Gefahr von rechts ist real – aber Almania will viel lieber über die Gefahren des Linksextremismus diskutieren.“

Die Lage ist ernst, die Gefahr von rechts ist real – aber Almania will viel lieber über die Gefahren des Linksextremismus diskutieren. Damit ist das nächste Kapitel in der unendlichen Geschichte über die Fehlverortungen aufgeschlagen, in welchem Spektrum die Feinde unserer Demokratie eigentlich zu Hause sind. Die Story lässt sich so zusammenfassen: Linke sind genauso schlimm wie Nazis, wenn nicht sogar schlimmer. Länger als die „Lindenstraße“ begleitet uns dieses von der Extremismustheorie inspirierte Narrativ durch die Geschichte der Bundesrepublik. Nur die Charaktere wechseln.

Aktuell hat die Hauptrolle eine Frau.

Lina E. wurde jüngst vom Oberlandesgericht Dresden zu einer Haftstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt. Aus Sicht des Gerichts hat die 28-jährige Antifaschistin mit drei weiteren Autonomen aus Berlin und Leipzig eine kriminelle Vereinigung gebildet, mit der sie u.a. Angriffe auf Rechtsextreme in Eisenach, Wurzen und Leipzig verübt haben soll.

Man muss kein bedingungsloser Fan sämtlicher Antifa-Methoden sein, man kann Taten wie jene verurteilen, die Lina E. und den anderen Angeklagten zu Last gelegt werden – Nazis auflauern und ihnen brutale Gewalt antun – aber wer den Antifa-Ost-Prozess verfolgt hat, kann sich trotzdem die Haare raufen.

Das harte Urteil sei ein bitteres Signal, sagen zum Beispiel kritische Jurist:innen, weil es stark auf Indizien und windigen Mutmaßungen beruhe. Teile der Anklage und der Urteilsbegründung stützten sich außerdem auf höchst zweifelhafte Aussagen eines Mannes, der nicht ganz freiwillig aus der linken Szene „ausgestiegen“ war und zum Kronzeugen wurde, sowie auf die Aussagen von Neonazis. Wie glaubhaft ist es, wenn ein seinerseits wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung und schwerer Körperverletzung angeklagter Rechtsextremer bekundet, seine politische Gegnerin im Nachhinein an ihrer Stimme erkannt haben zu wollen? Eben.

„Bitter ist es, wenn man das Urteil gegen Lina E. ins Verhältnis zu rechtsextremen Straftätern setzt.“

Bitter ist es, wenn man das Urteil gegen Lina E. ins Verhältnis zu rechtsextremen Straftätern setzt. Zum Beispiel André Eminger. Der enge Vertraute des NSU-Kerntrios soll Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe geholfen haben, neun Menschen mit Migrationsgeschichte und eine Polizistin zu ermorden, drei Anschläge und 15 Raubüberfälle zu verüben. Im NSU-Prozess in München war Eminger mit einer Haftstrafe von zweieinhalb Jahren entsetzlich gut davongekommen. Die Bundesanwaltschaft hatte 12 Jahre Haft gefordert für den Mann, der sich im Plädoyer seines Anwalts als „Nationalsozialist mit Haut und Haaren“ beschreiben ließ. (Von seiner volksverhetzenden Bauchtätowierung „Die Jews Die“ hat sich Eminger übrigens inzwischen verabschiedet, auch damit er entspannt mit seinen Kindern ins Schwimmbad gehen und in einem Aussteigerprogramm des Landes Sachsen bleiben kann. Aber das ist eine andere absurde Geschichte.)

5 Jahre Haft für Antifaschist:innen, 2 Jahre für Faschisten. So las man es dieser Tage oft bei Twitter. Welcome to Germany.

Völlig absurd, wenngleich wenig überraschend ist das, was die konservativ-liberale angebliche Mitte aus dem Fall Lina E. und dem „Antifa-Ost“-Prozess macht. „Der Linksextremismus ist, was Gewaltbereitschaft und Vorgehensweise angeht, gerade die größere Herausforderung“, schreibt zum Beispiel Reinhard Müller in der FAZ. Damit vermag der für Recht zuständige Redakteur das in seinen juristischen Kreisen notorisch hoch geschätzte Wissen von Sicherheitsbehörden einfach umzukehren. Der Chef des Bundesverfassungsschutzes Münch betont seit einigen Jahren die Gefahr des Rechtsextremismus.

Auch wer auf die Zahlen der Todesopfer rechter Gewalt allein seit der Wiedervereinigung schaut, muss es anders sehen: Laut Recherchen von „Zeit online“ und „Tagesspiegel“ zählen wir mindestens 187 Todesopfer von rechter Gewalt (die Amadeu Antonio Stiftung zählt sogar 219), vier von linker Gewalt. Die Zahlen sind zwar eindeutig, aber es bleibt ein fader Geschmack: In einer demokratischen Gesellschaft dürfen wir linke Gewalt, die Tote auch nur in Kauf nimmt, nicht hinnehmen. Wir dürfen auch die Momente nicht verschweigen, als linke Bewegungen und Gruppen in Geschichte und Gegenwart der Bundesrepublik teils weit hinter die eigenen Ansprüche zurückgefallen sind.

„Linke und rechte politische Strömungen sind völlig verschieden. Dass ihre Gleichsetzung so populär ist, haben wir der Extremismustheorie zu verdanken.“

Aber auch diese liefern nicht den richtigen Stoff, um behaupten zu können, rechts und links, das sei eigentlich dasselbe. Man muss es jetzt, da die Dauerwerbesendung für die Gleichsetzung von rechts und links in die gefühlt 47. Staffel geht, wieder neu erzählen: Linke und rechte politische Strömungen sind völlig verschieden. Dass ihre Gleichsetzung so populär ist, haben wir der Extremismustheorie zu verdanken. Seit Jahrzehnten wütet sie mit ihrem Hufeisenmodell im öffentlichen Diskurs. Wahrscheinlich ist sie auch deshalb so erfolgreich, weil sie so schön simpel ist: Da viele europäische Parlamente im Halbkreis zusammenkommen, behaupten bekannte deutsche Extremismusforscher:innen, Politik sei auch theoretisch ein Hufeisen: mit der angeblich gemäßigten politischen Mitte im Zentrum und den extremistischen Enden links und rechts, die sich fast berühren. So nah, so gleich – so legt es uns dieses Modell jedenfalls nahe. Eine Theorie gewordene Sitzordnung, die eine Wesensgleichheit von rechts und links propagiert und – das zeigt die aktuelle Debatte zum Fall Lina E. – damit immer wieder neu verfängt.

„Wer die einschlägigen Studien kennt, Betroffenen rechter Gewalt zuhört und einigermaßen aufmerksam durchs Leben geht, weiß, dass menschenfeindliches und antidemokratisches Gedankengut in weiten Teilen der Gesellschaft verbreitet ist. An der Mitte ist nichts gut.“

Wer von diesem Modell profitiert, ist die gesellschaftliche Mitte: Im Hufeisen wird sie uns als gut, demokratisch und gemäßigt vorgestellt, sie scheint bedroht von den extremistischen Rändern am linken und rechten Ende. Damit hat die Extremismustheorie ein extremes Zerrbild unserer Gesellschaft entworfen. Wer die einschlägigen Studien kennt, Betroffenen rechter Gewalt zuhört und einigermaßen aufmerksam durchs Leben geht, weiß, dass menschenfeindliches und antidemokratisches Gedankengut in weiten Teilen der Gesellschaft verbreitet ist. An der Mitte ist nichts gut. Vom „Extremismus der Mitte“ spricht der Gewaltforscher Wilhelm Heitmeyer: Hier, quasi mitten in der Wohnküche von Ikea, machen es sich Antisemitismus, Rassismus, Frauen- und Queerfeindlichkeit schön gemütlich. Aber weil das Böse ja bequem bei Glatzennazis und Antifas verortet werden kann, gerät die Menschenfeindlichkeit, die unter ganz normalen Bürger:innen verbreitet ist, aus dem Blick. Die Mitte ist entlastet und fein raus. Was sie an Menschenfeindlichkeit absondert, gilt in dieser astreinen Logik schon per Definition als völlig normal.

„Für BPOC, Linke und standhafte Demokrat:innen wurde Eisenach diesen und anderen Schilderungen zufolge zur No-Go-Area. Der Staat schaute weg. Die Bevölkerung auch.“

Besonders extrem zeigt sich der Extremismus der Mitte seit Jahren in Teilen Ostdeutschlands, wo wohl auch Lina E. & Co. 2018 bis 2020 aktiv waren. Zum Beispiel Eisenach: „Über Jahre konnten Neonazis machen, was sie wollten“, schreibt etwa die Linken-Politikerin Katharina König-Preuss auf Twitter über die Zustände, die an die „Baseballschlägerjahre“ der neunziger Jahre erinnern: Neonazi-Graffitis prägten das Stadtbild. Kneipen und Veranstaltungshäuser, die von Faschisten betrieben und zur Vernetzung von Neonazis genutzt wurden. Menschen, die sich der rechtsextremen Raumnahme entgegensetzten, erhielten Morddrohungen, ihnen wurde aufgelauert, sie wurden angegriffen, teils schwer verletzt. Für BPOC, Linke und standhafte Demokrat:innen wurde Eisenach diesen und anderen Schilderungen zufolge zur No-Go-Area. Der Staat schaute weg. Die Bevölkerung auch. Oder sie nahm die Zustände mit einem Schulterzucken hin. Im Mai dieses Jahres handelte dann endlich die Bundesanwaltschaft: Mitglieder der Nazi-Gruppe „Knockout51“ aus Eisenach wurden wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und mehrfacher gefährlicher Körperverletzung angeklagt. Man bezieht sich dabei auf Taten, die teils drei Jahre zurückliegen. Es sind dieselben Neonazis, die laut Urteilsspruch aus Dresden von Lina E. & Co. angegriffen wurden.

„Wenn Rechtsextremismus zum Massenphänomen wird – wie wahrscheinlich ist es, dass Sondereinsatzkommandos auch in dem Moment ausrücken, in dem sie gebraucht werden?“

Wer jetzt über Selbstjustiz redet, um Antifas zu verurteilen, hat natürlich einen Punkt. Sie begriffen sich als „eine Art selbst ernannte Sondereinsatzkommandos“, moniert die „Zeit“. Das kann der Staat, der das Gewaltmonopol innehat, nicht hinnehmen. Was aber, wenn das echte Sondereinsatzkommando – wie in Eisenach – erst mit mehrjähriger Verspätung ausrückt? Oder gar nicht? Das ist kein Freifahrschein für Antifas, ihre Hämmer herauszuholen. Aber das Versagen von Politik, Behörden und Gesellschaft nicht nur, aber vor allem in Teilen Ostdeutschlands, muss als Teil dieser Geschichte miterzählt werden: Zu wenig war im Zusammenhang mit dem Antifa-Ost-Prozess von der Untätigkeit und Ignoranz die Rede, wenn es darum geht, rechtsmilitanten Expansionsbestrebungen etwas entgegenzusetzen. Es stimmt schon, dass Bundesinnenministerin Faeser im Kampf gegen Rechtsextremismus entschlossener durchzugreifen scheint als ihre Vorgänger. Aber auch für ein effektives und schnelles Handeln von Behörden braucht es eine Sensibilität und Wachsamkeit der Menschen vor Ort, die Nazi-Aktivitäten melden, die in der Lage sind, zwischen legitimer Meinungsäußerung und Hass zu unterscheiden, die Hetze nicht für völlig normal halten. Sonst kann der Staat seiner Aufgabe nicht nachkommen – in Steinmeiers schönen Solinger Gedenkveranstaltungsworten – und diejenigen schützen, die ein erhöhtes Risiko haben, Opfer zu werden. Wie soll man stark sein gegen Hetzer, wenn man damit völlig allein steht? Schöne Worte helfen wenig, wenn der Rechtsextremismus zum Massenphänomen wird. In den ostdeutschen Bundesländern ist die AfD laut einer neuen Forsa-Erhebung mit 32 Prozent mittlerweile deutlich stärkste Kraft – weit vor der CDU mit 23. Wenn Rechtsextremismus zum Massenphänomen wird – wie wahrscheinlich ist es, dass Sondereinsatzkommandos auch in dem Moment ausrücken, in dem sie gebraucht werden? Eben.

„Ein ganzes linkes Umfeld steht unter Verdacht, kriminell zu sein – davon dürften auch viele Personen betroffen sein, die mühsame antifaschistische Basisarbeit leisten, Anti-AfD-Proteste und Bunt-statt-Braun-Demonstrationen organisieren, Plakate malen, Trillerpfeifen verteilen, um also das zu tun, was Steinmeier wohl unter wehrhafte Demokratie verstehen würde.“

Wie bei einer Fernsehserie, die schon ewig läuft, weiß man, leider, wie es weiter geht: Die sächsischen Behörden sind über den Paragraphen 129 nun mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet. Ein ganzes linkes Umfeld steht unter Verdacht, kriminell zu sein – davon dürften auch viele Personen betroffen sein, die mühsame antifaschistische Basisarbeit leisten, Anti-AfD-Proteste und Bunt-statt-Braun-Demonstrationen organisieren, Plakate malen, Trillerpfeifen verteilen, um also das zu tun, was Steinmeier wohl unter wehrhafte Demokratie verstehen würde. Der Ton im öffentlichen Diskurs ist – von der Leipziger Volkszeitung bis zu den Badischen Nachrichten – gesetzt: gegen die Antifa und alles, was man dafür hält. Dann lieferte der Schwarze Block in Leipzig bei den Demonstrationen vergangenes Wochenende auch noch wie bestellt die Bilder, die zu den markigen Schlagzeilen der Bild-Zeitung passen. Hier ist an keiner Stelle ein Plot-Twist zu erwarten.

Wobei: Wurde die „Lindenstraße“ nicht auch irgendwann abgesetzt? Meinung

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