Der Schmerz hört nie auf
Vor 25 Jahren wurde der Solinger Brandanschlag verübt
Tödlicher Höhepunkt ausländerfeindlicher Gewalt: Zwei Frauen und drei Mädchen starben beim Brandanschlag von Solingen. Das feige Verbrechen junger Neonazis erschütterte die Bundesrepublik. Die Brandstifter sind inzwischen frei. Von Ingo Lehnick
Von Ingo Lehnick Montag, 28.05.2018, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 03.06.2018, 21:32 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Der Anschlag schockiert Deutschland und löst weltweit Entsetzen aus: Fünf Frauen und Mädchen einer türkischstämmigen Großfamilie sterben in der Nacht zum Pfingstsamstag 1993 in Solingen, nachdem vier junge Neonazis ihr Haus in Brand gesteckt haben. Das bis dahin schwerste fremdenfeindliche Verbrechen in der bundesdeutschen Geschichte jährt sich am 29. Mai zum 25. Mal. Bis heute wachse der Hass auf Ausländer und sei die Gefahr rechter Gewalt nicht gebannt, warnen Experten.
Neunzehn Menschen schliefen in ihren Betten in der Unteren Wernstraße 81, als das Inferno begann. Eine 27-jährige Frau sprang vor den Augen der Feuerwehrleute in den Tod, eine 18-Jährige und drei Mädchen im Alter von vier bis zwölf Jahren erstickten und verbrannten in den Flammen. Acht Bewohner wurden schwer verletzt. Die Überlebenden und Angehörigen der Opfer leiden bis heute unter den körperlichen und seelischen Folgen.
Brandstifter seit Jahren in Freiheit
Das Bild vom Haus mit dem ausgebrannten Dachstuhl ging um die Welt. In den folgenden Tagen zogen türkischstämmige Jugendliche und Autonome teils randalierend durch die Stadt.
Die vier Täter aus der Neonazi-Szene wurden 1995 vom Düsseldorfer Oberlandesgericht wegen fünffachen Mordes, 14-fachen versuchten Mordes und besonders schwerer Brandstiftung zu Höchststrafen verurteilt. Der 23-jährige Markus G. erhielt 15 Jahre Haft, gegen die drei Mittäter im Alter von 16 bis 20 Jahren wurden zehn Jahre verhängt. Alle vier sind seit Jahren wieder in Freiheit.
Aufgeheizte Stimmung
Der heimtückische Anschlag sei in einer aufgeheizten Stimmung verübt worden, sagte der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet (CDU). Er verwies auf die rassistischen Ausschreitungen in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen sowie den Mordanschlag in Mölln mit drei Toten in den Jahren 1991 und 1992.
Eine aggressive Asyldebatte hatte ein fremdenfeindliches Klima geschürt. Drei Tage vor dem Solinger Anschlag schränkte der Bundestag das Asylrecht drastisch ein. Es mache ihm Sorgen, dass auch heute Flüchtlingsheime angegriffen würden und eine aggressive Stimmung gegen Juden und Muslime herrsche, sagte Laschet. „Gesamtgesellschaftlich ist die Lage aber trotz der Hetze mancher Gruppen gelassener und ruhiger als vor dem Solinger Anschlag.“
Forscher fordert erhöhte Wachsamkeit
Dem widerspricht der Düsseldorfer Rechtsextremismus-Forscher Alexander Häusler und fordert „eine erhöhte Wachsamkeit gegenüber politischen Versuchen, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit gesellschaftsfähig zu machen“. Die Gefahr des rechten Terrors sei seit den 90ern nicht gebannt und es sei sogar zu befürchten, „dass sich eine Tat wie die in Solingen wiederholt“. Seit Jahren steige der Anteil an Menschen, die Hass gegenüber Migranten hegen.
„Eine Politik der Angst und Ausgrenzung bestärkt rechtsextreme Menschen in ihren Ansichten, so dass sie eher zu gewaltsamen Angriffen auf Ausländer bereit sind“, warnte Häusler. In den vergangenen Jahren hätten „auch bislang der Polizei unbekannte Bürger Brandsätze auf Flüchtlingsheime geworfen“.
Solingen, die Heimat
Wo in Solingen einst das Haus der Familie Genç stand, klafft heute eine Baulücke. Fünf Kastanienbäume und ein Gedenkstein erinnern an die Todesopfer. Außerhalb der City steht ein Mahnmal aus einem zerrissenen Hakenkreuz und Tausenden Metallringen.
Mevlüde Genç rief bereits kurz nach dem Anschlag zu Versöhnung auf. Die heute 75-Jährige verlor bei dem Verbrechen zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte. Noch immer höre sie die Schreie ihrer Kinder, ihr Schmerz werde nie enden, sagte Genç. An Wegzug habe sie nie gedacht: „Solingen ist zu meiner Heimat geworden und ich möchte hier bleiben, bis ich sterbe.“
Genç nimmt deutsche Staatsbürgerschaft an
Genç nahm die deutsche Staatsbürgerschaft an, für ihre Haltung erhielt sie das Bundesverdienstkreuz. Am 29. Mai nimmt sie mit ihrem Mann Durmuş an den Gedenkveranstaltungen von Stadt und Land in Düsseldorf und Solingen teil. Mit „tiefer Trauer“ nahm sie auf, „dass das Gedenken an den wichtigsten Tag meines Lebens von politischen Auseinandersetzungen überschattet wird“: Die geplante Rede des türkischen Außenministers Mevlüt Çavuşoğlu in Solingen ist wegen des türkischen Wahlkampfs umstritten.
„Wir sollten in diesem Land friedlich und liebevoll zusammenleben und keinen Unterschied machen zwischen den Nationalitäten“, wünscht sich Mevlüde Genç als zentrale Botschaft des 29. Mai. „Wir sind doch alle Menschen und sollten als Geschwister leben.“ (epd/mig) Feuilleton Leitartikel
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