Solingen, Brandanschlag, Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit, Haus
Das Haus der Familie Genç nach dem Brandanschlag

Armin Laschet im Gespräch

Anschlag wie 1993 in Solingen auch heute möglich

Die politische und gesellschaftliche Stimmung ist nach Einschätzung von NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) heute weniger ausländerfeindlich als vor 25 Jahren. Dass Einzeltäter einen Brandsatz in ein Wohnhaus werfen, sei aber nie ganz auszuschließen.

Von Ingo Lehnick Donnerstag, 24.05.2018, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 28.05.2018, 10:06 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Ingo Lehnick: Am 29. Mai jährt sich zum 25. Mal der ausländerfeindliche Brandanschlag von Solingen. Was sind für Sie heutige Lehren aus den Vorfällen von damals?

Armin Laschet: Der Brandanschlag von vier rechtsradikalen Tätern auf die Familie Genç war der schwerste und schrecklichste Anschlag in der Geschichte Nordrhein-Westfalens. Er wurde in einer aufgeheizten Stimmung verübt: Nach der Wiedervereinigung 1990 waren die Asylzahlen dramatisch gestiegen und es herrschte eine teils aggressive Haltung gegenüber Ausländern. Es brannten Häuser von Menschen, die seit Jahrzehnten hier lebten. Nach den rassistischen Ausschreitungen etwa in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen und dem Mordanschlag in Mölln wurde in den Pfingsttagen 1993 der Anschlag in Solingen verübt, drei Tage nach der Asylentscheidung des Bundestages.

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Damals wurde befürchtet, dass bürgerkriegsähnliche Zustände entstehen könnten, weil viele türkischstämmige Menschen die Gewalttaten als Bedrohung ihres Lebens ansahen. Es ist ein großes Verdienst von Mevlüde Genç, dass sie trotz ihres Schmerzes und ihrer Trauer schon einen Tag nach dem Anschlag, bei dem sie fünf Familienangehörige verlor, zur Mäßigung aufrief und sagte: Das waren nicht die Deutschen, sondern vier Einzeltäter. Durch diese besonnene Reaktion hat sie maßgeblich dazu beigetragen, die Lage zu entschärfen. Insofern war der Anschlag wirklich ein Wendepunkt. Das Verhalten von Frau Genç sollte Vorbild für uns alle sein, nie zu generalisieren.

Die geplante Teilnahme des türkischen Außenministers Mevlüt Cavusoglu an den Gedenkveranstaltungen sorgt für Kritik, weil in der Türkei Parlamentswahlen bevorstehen. Kritiker befürchten, er könne seinen Auftritt in Deutschland für Wahlkampf nutzen.

Armin Laschet: Ich kann mir nicht vorstellen, dass er bei der Gedenkveranstaltung Wahlkampf machen wird. Ich habe den Außenminister, als Vertreter der türkischen Regierung, auf ausdrücklichen Wunsch von Familie Genç eingeladen. Der 25. Jahrestag des fremdenfeindlichen Verbrechens ist für uns ein Anlass, als Land Nordrhein-Westfalen in der Landeshauptstadt Düsseldorf an den Anschlag und die Größe von Frau Genç zu erinnern. Daran werden wir am 29. Mai gedenken. Das sollte unabhängig von parteipolitischen Interessen geschehen. Ich bin mir sicher, dass auch der türkische Außenminister das Gedenken in den Mittelpunkt stellt und nicht den Wahlkampf, weil er weiß, dass alles andere unpassend wäre. Dass es keine gemeinsame Veranstaltung von Landtag und Landesregierung geben wird, bedauere ich.

Extremismusforscher beobachten ähnlich wie vor 25 Jahren auch heute viel Hetze gegen Flüchtlinge und Einwanderer und warnen vor Abwertung, Diskriminierung und ausländerfeindlicher Gewalt. Wie beurteilen Sie die gesellschaftliche und politische Stimmung?

Armin Laschet: Die Lage ist zwar auch heute angespannt, sie ist aber nicht vergleichbar mit der Stimmung 1992/93. Als 2015 viele Menschen auf der Flucht nach Deutschland kamen, herrschte eine große Willkommenskultur. Millionen Menschen zeigten eine riesige Hilfsbereitschaft vor Ort, hießen Flüchtlinge willkommen und engagierten sich ehrenamtlich. Eine solche Bewegung wäre vor 25 Jahren noch undenkbar gewesen. Leider gibt es auch heute noch Menschen, die die Flüchtlingszuwanderung zu Ressentiments nutzen. Insbesondere im Internet werden dabei auch radikale Töne angeschlagen. Das müssen wir ernst nehmen und dem entgegentreten. Gesamtgesellschaftlich ist die Lage aber trotz der Hetze mancher Gruppen gelassener und ruhiger als vor dem Solinger Anschlag.

Seit 2015 hat sich die Flüchtlingspolitik aber gedreht, es wird mehr auf Flüchtlingsabwehr als auf Willkommenskultur gesetzt. Und die politische Rechtsaußen-Bewegung nutzt ausländerfeindliche Stimmungen und Parolen für sich und versucht die politische Debatte zu bestimmen.

Armin Laschet: Ja, das versucht sie. Aber obwohl die AfD heute im Bundestag und in einigen Länderparlamenten sitzt, ist das gesamtgesellschaftliche Klima heute besser als 1993. Der Schwerpunkt der Flüchtlingspolitik hat sich seit 2015 verschoben. Nach der großen Zuwanderung enden nun viele Verfahren. Jetzt geht es darum, Asyl und Flucht und gesteuerte Einwanderung zu trennen: Wer schutzbedürftig ist, kann sich auf unsere Hilfe verlassen. Aber wer nicht schutzbedürftig ist, muss das Land auch wieder verlassen. Wenn man diese Fragen in einem fairen, die Menschenwürde respektierenden Ton erörtert, kann eine Gesellschaft das aushalten.

Angesichts der aktuellen Übergriffe auf Muslime und Juden und der großen Verbreitung fremdenfeindlicher Einstellungen: Wäre ein solcher Anschlag wie damals in Solingen auch heute möglich?

Armin Laschet: Man kann leider nie ganz ausschließen, dass Einzeltäter einen Brandsatz in ein Wohnhaus von Menschen werfen. Immer wieder erleben wir Angriffe auf Flüchtlingsheime. Dass es eine solch aggressive Stimmung sowohl gegen Juden als auch gegen Muslime gibt, macht mir Sorgen. Eine sachliche Erörterung von Themen, die zum Beispiel den Islam berühren, muss möglich sein, ohne dass direkt ein Shitstorm ausgelöst wird. (epd/mig) Aktuell Interview Politik

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