„Eure Gesetze sind gut. Inschallah.“

Arbeiten in Deutschland für polnischen Mindestlohn

Der Streik osteuropäischer Fernfahrer auf einer Raststätte in Südhessen wirft auch ein Licht auf die Schattenseite der Transportbranche. Inzwischen sind sogar Diplomaten aus den Herkunftsländern alarmiert - auch im fernen Kaukasus gibt es Protest.

Von Donnerstag, 13.04.2023, 17:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 13.04.2023, 14:00 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Die Hose des jungen Georgiers Tornike ist fadenscheinig und gerissen, aber das ist nicht dem modischen „shredded look“ geschuldet. Der Job als Fernfahrer, für den er vor knapp vier Monaten seine Arbeit in einem Metallbetrieb aufgab, erwies sich bisher als Verlustgeschäft. „Ich habe bisher 50 Euro ausgezahlt bekommen“, erzählt der schmale junge Mann mit dem dunklen Bart, dessen Lächeln ein wenig schüchtern wirkt, der Deutschen Presse-Agentur. Wovon er denn in der Zeit gelebt habe? „Meine Familie hat mir Geld geschickt, um auszuhelfen.“

Seit fast drei Wochen harren auf der Raststätte Gräfenhausen in Südhessen an der A5 mittlerweile fast 60 Lastwagenfahrer vor allem aus Georgien und Usbekistan aus, die von ihrem polnischen Auftraggeber ausstehenden Lohn fordern. Unterstützt werden sie nicht nur von deutschen und niederländischen Gewerkschaftern sowie Beratern des Netzwerks „Faire Mobilität“. Der georgische und der usbekische Konsul waren schon mehrmals vor Ort, seit einigen Tagen sind auch zwei Vertreter des georgischen Gewerkschaftsverbandes vor Ort.

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Der Fahrerstreik an der Autobahnraststätte hat eine internationale Dimension bekommen – nicht nur wegen des Solidaritätsvideos südkoreanischer Lastwagenfahrer, das über soziale Medien verbreitet wurde. „In Tbilisi (Tiflis) fand eine Kundgebung vor dem polnischen Generalkonsulat statt, an der auch Familien der Fahrer teilnahmen“, sagt Raisa Liparteliani, die Vizepräsidentin des Georgischen Gewerkschaftsverbands. „Wir haben auch einen Livestream hierher organisiert von dem Protest.“

Unternehmen in der Verantwortung

Zusammen mit dem niederländischen Gewerkschafter Edwin Atema verhandelt Liparteliani im Auftrag der Fahrer mit dem polnischen Spediteur. Sie habe auch versucht, mit polnischen Gewerkschaften Kontakt aufzunehmen. „Aber bis jetzt haben wir noch keine Antwort bekommen.“ Für sie als Georgierin, die die Zukunft ihres Landes in Europa sehe, sei der Umgang mit den georgischen Fahrern enttäuschend. „Ich hoffe, diese Praxis hat keine Zukunft.“

Der Anwalt des polnischen Speditionsunternehmens hat unterdessen bei der Staatsanwaltschaft Darmstadt Anzeige erstattet. In der Anzeige gehe es um die mutmaßliche Unterschlagung von 39 Lastwagen, teilte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft am Donnerstag mit. Eine Anzeige wegen unterbliebener Lohnzahlungen sei hingegen bisher nicht bekannt.

Bis jetzt haben die Fahrer weder Geld erhalten, noch hat der Arbeitgeber Dokumente vorgelegt, die Lohnabzüge untermauern können, die bislang völlig intransparent sind, wie Anna Weirich, Beraterin von „Faire Mobilität“, sagt. Sie verweist auf ein Gesetz mit dem sperrigen Namen „Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz“. Dieses weist den Unternehmen die Verantwortung für ihre gesamte Lieferkette zu – auch wenn diese dank zahlreicher Subunternehmen häufig sehr intransparent sei, so auch in diesem Fall. „Die Kunden sind multinationale, große Unternehmen“, sagt Weirich, die auch diese Unternehmen in der Verantwortung für die Bezahlung der Fahrer sieht.

Kein Einzelfall

Die Fahrer in Gräfenhausen bekommen dank ihres Streiks gerade viel Aufmerksamkeit, doch ein Einzelfall sind sie nicht, betont Weirich. „Das ist grundsätzlich ein Problem der gesamten Branche. Egal, auf welchen Parkplatz Sie fahren – die Fahrer der Lastwagen mit polnischen, litauischen oder rumänischen Kennzeichen erhalten den Mindestlohn dieser Länder.“

Und dieser Mindestlohn liegt deutlich unter dem deutschen Mindestlohn. Bereits Ende 2020 war Polen vor dem Europäischen Gerichtshof mit einer Klage gegen die Entsenderichtlinie gescheitert, deren Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am selben Ort“ lautet.

Doch die Realität sieht nicht nur in Gräfenhausen anders aus. „Keiner dieser Fahrer arbeitete je in Polen“, betont Weirich. „Die werden mit Minibussen von der Basis in Polen hierher gebracht und fahren monatelang im Westen.“ Dabei leben sie quasi durchgehend in ihren Fahrzeugen, viele der Fahrer haben ihre Familien seit Monaten nicht gesehen.

„Mafia-Methoden“

Seinen Job als Fernfahrer hat sich Tornike jedenfalls anders vorgestellt: Arbeit in Westeuropa, gutes Geld verdienen, auf dem heimischen Dorf am Fuß des Kaukasus ein Haus bauen, ein gutes Leben haben, eine Familie gründen. Das sind ähnliche Träume, wie sie die meisten Fahrer auf der Raststätte schildern. Die Gespräche mit dem polnischen Speditionsunternehmer hatten sie so verstanden, dass er sich um Arbeitspapiere für Deutschland, Österreich, Italien oder andere Länder im Westen kümmern würde.

„Wir stehen hier, um das uns zustehende Geld für die Arbeit zu bekommen, die wir geleistet haben – keine Kopeke mehr“ betont Koba, ein anderer Georgier. Die Fahrer berichten, dass der polnische Spediteur inzwischen versucht, sie einzeln anzurufen, um jeweils persönlich zu einer Einigung zu kommen. „Wir kämpfen zusammen, wir lassen uns nicht auseinanderdividieren“, versichert etwa Lukhmari, ein stämmiger Fahrer mit Stirnglatze. Er reckt optimistisch den Daumen hoch und zeigt ein breites Grinsen.

Auf Anfragen zu einer Stellungnahme hat der polnische Unternehmer nach wie vor nicht reagiert. Seit er am Karfreitag mit einer Sicherheitsfirma vergeblich versucht hatte, die Lastwagen in Besitz zu nehmen, hat er sich in Gräfenhausen auch nicht mehr blicken lassen. „Mit so einem Kommando zu kommen, das sind Mafia-Methoden. Da hat er sein wahres Gesicht gezeigt“, sagt Atema. Die Polizei ermittelt inzwischen wegen des Vorfalls.

„Vertrag ist Vertrag!“

Gawron aus Usbekistan steht vor seinem Lastwagen und bemüht sich um eine Hotspot-Verbindung. Zu Hause in Samarkand sind seine Frau und seine Kinder, drei und sechs Jahre alt. „Ich habe sie seit drei Monaten nicht gesehen“, sagt er traurig. „Vor allem der Kleine kann das nicht verstehen.“ Gawron fühlt sich getäuscht vom polnischen Unternehmer. „Ich habe hart gearbeitet, ich habe nichts gegen harte Arbeit. Aber dafür will ich auch das Geld, das mir zusteht. Vertrag ist Vertrag!“

Dass die Stimmung dennoch gut ist, dazu trägt auch die Erfahrung von viel Solidarität bei. Wenn andere Fahrer, gerade solche mit osteuropäischen Kennzeichen, an den Streikenden vorbei auf die Autobahn fahren, wird gehupt und gewinkt. Ein Mann bringt spontan Tabak vorbei. Es gebe auch ganz pragmatische Angebote, erzählt Tiny Hobbs von der Gewerkschaft Verdi – etwa die Kleidung einzusammeln, damit die Fahrer nach drei Wochen wieder frischgewaschene Wäsche haben.

Auch das provisorische Streikcamp hat so etwas wie eine Struktur bekommen. Vor der Streikküche steht eine Mülltonne – Ordnung muss eben sein. Ein benachbarter Wagen wurde zum provisorischen Versammlungsort, wo Unterhändler und Fahrer über das weitere Vorgehen diskutieren.

„Eure Gesetze sind gut. Inschallah.“

Am Abend leert sich der Platz. Die Regenwolken haben sich verzogen. Einige Fahrer ziehen sich schon früh in ihre Kabinen zurück, andere stehen in kleinen Gruppen zusammen und kümmern sich um das gemeinsame Abendessen. Wo tagsüber alle gemeinsam sind, trennen sich beim Essen die Nationalitäten. Die Georgier haben auf dem Asphalt einen Holzkohlegrill angeheizt und grillen Hühnchen, es gibt Bier.

Bei den Usbeken gibt es Pilaw mit Halal Fleisch, Cola und Limonade. Ein älterer Mann mit grauem Kinnbart winkt ab, als die große Gemeinschaftsschüssel in seine Richtung geschoben wird. „Ramadan!“ erklärt er und wirft einen Blick zum langsam dunkler werdenden Himmel. „Noch 20 Minuten“, sagt er. Die anderen rücken unterdessen zusammen, laden Gewerkschafter Atema und andere Besucher ein: “Setzt euch, esst mit uns!“

Die Einladung ist nicht nur ein Gebot der Gastfreundschaft, die Fahrer wollen auch etwas zurückgeben: „Wir sind sehr dankbar für die Unterstützung hier in Deutschland“, versichert ein grauhaariger Fahrer. „Eure Gesetze sind gut. Inschallah (so Gott will), wir werden auch unser Recht bekommen.“ (dpa/mig) Aktuell Panorama

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