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Hoda Bourenane © privat, Zeichnung: MiGAZIN

Nicht nur Italien

Wie europäische Staaten die Seenotrettung verhindern

Die zivile Seenotrettung befindet sich in einer Krise. Nicht nur Italien verhindert das Auslaufen von Rettungsschiffen - auch Deutschland. Das kostet weitere Menschenleben.

Von Dienstag, 28.03.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 28.03.2023, 10:50 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Das deutsche Seenotretterschiff „Louise Michel“, das viele Menschen in Seenot retten könnte, wird seit Samstag willkürlich von den italienischen Behörden festgehalten. Der Grund hierfür liegt darin, dass die „Louise Michel“ nach vier Rettungseinsätzen in der lybischen sowie maltesischen SAR-Zone 178 Migranten auf Lampedusa an Land brachte und sie zunächst aus akuter Lebensgefahr gebracht hat.

Die rechtliche Grundlage für die Festsetzung stellt das vom italienischen Präsidenten Sergio Matarella am 2. Januar 2023 unterzeichnete Gesetzesdekret dar. Danach müssen Seenotrettungsschiffe nach jedem Einsatz ohne Umwege, d. h. ohne weitere mögliche Rettungseinsätze einen von der Küstenwache vorgegebenen Hafen anlaufen. Hinzu kommt, dass häufig weit entfernte Häfen zugewiesen werden, die bis zu vier Tage Fahrt von der jeweiligen Position des Schiffes erfordern.

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In anderen Worten führt der Erlass des Dekrets dazu, dass die Rettungskapazitäten ziviler Akteure auf See reduziert werden. Damit wird die Situation auf dem zentralen Mittelmeer als einer der tödlichsten Fluchtrouten der Welt de facto verschärft. Und das, obwohl es bereits einen umfassenden Rechtsrahmen für Such- und Rettungsaktionen gibt, nämlich das Seerechtsübereinkommen der vereinten Nationen (SRÜ) und das internationale Seenotrettungsübereinkommen (SAR-Konvention).

„Der Umgang … zeigt, dass das Dekret zum Zwecke der Regulierung von Migration durch die italienische Regierung missbraucht wird.“

Nach Angaben der Crew habe die Küstenwache bereits nach dem ersten Einsatz den Hafen der westsizilianischen Stadt Trapani zugewiesen bekommen. Das Vorgehen der italienischen Behörden bezeichnet die Hilfsorganisation als inakzeptabel. Am späten Abend sei das Schiff über mehrere Stunden hinweg ohne schriftliche Begründung festgesetzt worden. Ende Februar war bereits das zivile Seenotrettungsschiff „Geo Barents“ der Organisation Ärzte ohne Grenzen auf derselben Grundlage von den italienischen Behörden festgesetzt worden. Die Festsetzung dauerte 20 Tage an, zudem wurde ein Bußgeld von 10.000 Euro verhängt.

Der Umgang mit der „Louise Michel“ oder der „Geo Barents“ zeigt, dass das Dekret zum Zwecke der Regulierung von Migration durch die italienische Regierung missbraucht wird. Es kann nicht abgewiesen werden, dass die Festsetzung vor dem Hintergrund erfolgte, dass mehr als 3.000 Menschen in den letzten Tagen von der nordafrikanischen Küste aus über das Mittelmeer Lampedusa erreicht haben.

Behinderung und Kriminalisierung

Während zivile Seenotrettungsorganisationen das italienische Dekret als Verstoß gegen das internationale Seerecht, die Menschenrechte und das europäische Recht erachten und eine starke Reaktion der europäischen Mitgliedstaaten sowie der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments fordern, bleibt jegliche Reaktion aus.

„In Deutschland steht eine Reform der Schiffsicherheitsverordnung (SchiffSV) bevor, die von dem Verkehrsministerium unter Wissing angestrebt wird.“

Im Gegenteil. In Deutschland steht eine Reform der Schiffsicherheitsverordnung (SchiffSV) bevor, die von dem Verkehrsministerium unter Wissing angestrebt wird. Die neuen Regelungen verlangen unter anderem auch von kleineren Schiffen, Yachten und Beibooten ein Schiffsicherheitszeugnis. Ursprünglich war dies eine Anforderung, die der kommerziellen Schifffahrt entspricht. Bisher waren Fahrzeuge mit einer Länge bis etwa 35 Metern davon ausgenommen. Diese Verschärfung führt nicht zu mehr Sicherheit an Bord, da die Regelungen für Frachtschiffe nicht auf die Einsatzzwecke ziviler Seenotrettung zugeschnitten sind und bestehende Sicherheitsstandards ziviler Rettungsschiffe teilweise unterlaufen. Infolgedessen droht die Seenotrettung drastisch eingeschränkt zu werden.

Es bleibt festzuhalten, dass die Umsetzung dieser Änderung einen deutlichen Bruch mit den Bestimmungen des Koalitionsvertrags hinsichtlich der zivilen Seenotrettung darstellt. Ähnliche Rechtsänderungen wurden bereits 2019 und 2020 von den Verwaltungsgerichten in Hamburg für rechtswidrig erklärt. Diese hatten eine klare politische Motivation, die auch der jetzigen Bundesregierung bewusst ist.

Auch in Griechenland wird zivilen Seenotrettern die Arbeit erschwert. Die griechischen Behörden werfen ihnen Spionage, Schlepperei und Mitgliedschaft in einem kriminellen Netzwerk vor. Die Kriminalisierung der zivilen Seenotrettung soll ultimativ zur Abschreckung weiterer Migranten dienen und jegliche Empathie für die Aktivisten unterbinden.

Dunkle Zeiten für die Seenotrettung

„Zum jetzigen Zeitpunkt scheint eine Seenotrettungsmission europäischer Staaten eine Wunschvorstellung.“

Zum jetzigen Zeitpunkt scheint eine Seenotrettungsmission europäischer Staaten eine Wunschvorstellung. Die Geschehnisse der letzten Tage und Wochen zeigen eindeutig, dass mit allen Mitteln die Abschottung der Festung Europa in den Vordergrund des Handelns gerückt ist. Sowohl Nationalstaaten als auch die Europäische Union schauen sehenden Auges hin, wie Menschenleben hinter wirtschaftliche und politische Interessen treten.

Durch erhöhte Kosten und ständiger Angst vor Kriminalisierung ist es eine Frage der Zeit, bis die europäische Abschreckungspolitik die ersten Seenotrettungsorganisationen in ihrer Handlungsfähigkeit einschränkt und das Leben zukünftiger Migranten weiter gefährdet. Meinung

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