Kino

Animationsfilm gegen das routinierte Gedenken

Ari Folman stellt im Animationsfilm „Wo ist Anne Frank“ die bekannte Geschichte in einen neuen Kontext. Dabei stößt er auf eine routinierte Erinnerungskultur, die der echten Auseinandersetzung mit dem Vermächtnis wenig Raum gibt.

Von Mittwoch, 22.02.2023, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 22.03.2023, 12:00 Uhr Lesedauer: 2 Minuten  |  

„Boah, nicht schon wieder KZ!“, stöhnt ein Schüler in Bora Dagtekins Hit-Komödie „Fack ju Göhte“ von 2013. Die Aussage bringt noch heute die nicht durchdachte pädagogische Vermittlung des Holocaust an die jüngere Generation auf den Punkt. Ari Folman setzt in seinem Film „Wo ist Anne Frank“ genau bei diesem Überdruss an. Nach „Waltz with Bashir“„ hat der israelische Regisseur nun „Das Tagebuch der Anne Frank: Graphic Diary“, das er gemeinsam mit dem ukrainischen Comiczeichner David Polonsky verfasste, in bewegte Bilder umgesetzt.

Adaptionen des weltberühmten Tagebuchs gibt es ja eigentlich schon genug, aber Ari Folman lotet den Stoff nun mit einer wirkungsvollen Grundidee neu aus. Sein Film erweckt Kitty zum Leben, jene imaginäre Gesprächspartnerin, der Anne all ihre intimen Gedanken anvertraut.

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Quicklebendig

Kitty sucht in unserer heutigen Zeit nach der Autorin des Tagebuchs und ist ein Geist, der nicht zur Ruhe kommt. Denn da die Schreiberin selbst ihr Tagebuch nicht vollenden konnte, stellt Kitty sich jene Frage, die zum Filmtitel wurde: „Wo ist Anne Frank?“ Zu Kittys großer Verwirrung erhält sie Tausende von Antworten. Jeder Passant, den sie anspricht, kennt Anne Frank. Denn die ist buchstäblich überall präsent. Es gibt eine Anne-Frank-Straße und ein Anne-Frank-Theater.

Sogar mit einer lebensgroßen Statue wurde sie verewigt. Ohne es in gelehrige Worte zu fassen, wird Kitty rasch klar: Diese Omnipräsenz führte zu einer gewerbsmäßig betriebenen Erinnerungskultur. Anne Frank wurde zu einem nationalen Kulturgut. Gegen dieses routinierte Gedenken begehrt Kitty auf. Kurzerhand klaut sie das originale Tagebuch und bricht aus dem Museum aus. Im Zuge eines Katz-und-Maus-Spiels mit der Polizei, die um das wie eine Reliquie verehrte Tagebuch besorgt ist, wird Anne Franks Geschichte quicklebendig.

Gegenwartsbezug

Dabei wechselt der Plot zwischen der Gegenwart und der historischen Zeitebene. In den Straßen der 1940er Jahre marschieren Nazi-Schergen, überlebensgroße Schreckfiguren mit Totenköpfen. Die Bebilderung ist eindringlich, drängt sich nicht in den Vordergrund. Mit ihrer zweckgebundenen Ästhetik tritt die Visualisierung hinter die erzählte Geschichte zurück. Denn die steht für sich. So bricht Kitty mit einem gleichaltrigen Jungen auf nach Bergen-Belsen, wo sie am Grabstein von Anne Frank endlich erfährt, was mit der Autorin geschah.

Emotional mag dies vielleicht ein wenig forciert sein. Dennoch schafft es der Film, die Geschichte – auch im Sinne von Historie – auf verblüffende Weise wieder lebendig werden zu lassen. Ari Folman, selbst ein Kind von Auschwitz-Überlebenden, und sein Ko-Drehbuchautor Jani Thiltges belassen es dabei nicht. Sie schließen das Anne-Frank-Motiv an einen weiteren Gegenwartsbezug an: Kitty droht in einem Schlüsselmoment mit der Verbrennung des Tagebuchs – falls eine Gruppe von Bootsflüchtlingen in deren Heimat abgeschoben wird. (epd/mig) Aktuell Feuilleton

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