Hanau, Rassismus, Rechtsextremismus, Opfer, Gedenken
Hanau ein Jahr nach dem rassistisch motivierten Anschlag © Szene aus epd-Video, bearb. MiG

Hanauer Initiative Ferhat Unvar

„Sie sollen nicht umsonst gestorben sein“

Am 19. Februar vor drei Jahren erschoss ein Mann in Hanau neun Migranten, seine Mutter und sich selbst. Der Schrecken ist vor Ort noch spürbar. Eine betroffene Mutter hat ihren Schmerz in eine Kraft für andere verwandelt.

Von Donnerstag, 16.02.2023, 20:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 16.02.2023, 16:55 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

„Ich erlebe den Tag immer wieder“, berichtet Serpil Temiz Unvar. „Jeden Tag denke ich: Ferhat wird noch soundsoviele Tage zu leben haben bis zum 19. Februar.“ An jenem Abend vor drei Jahren erschoss ein Mann in Hanau kaltblütig acht junge Männer und eine Frau, alle Migranten. Unvar verlor ihr ältestes Kind, Ferhat war 23 Jahre alt. „Letztes Jahr habe ich am 19. Februar drei Schlaftabletten genommen, um zu vergessen. Ich konnte trotzdem nicht schlafen,“ sagt sie. Ihren Job bei einem kurdischen Magazin gab sie nach dem Anschlag auf. Aber sie versank nicht im Schmerz.

„Zwei bis drei Tage danach sagte ich mich mir: Diese Kinder sollen nicht umsonst gestorben sein“, erzählt die alleinerziehende Mutter von vier Kindern. „Ich will aus Ferhats sinnlosem Tod etwas Sinnhaftes machen. Dann hat sich Ferhats Aufgabe in dieser Welt vielleicht erfüllt.“ Sie erinnere sich sonst nicht an Träume, sagt Unvar, aber einen Traum habe sie klar vor Augen: Sie will zu ihrem Sohn gehen, der in Gesellschaft anderer Jugendlicher ist. Er nickt ihr zu, sagt aber, er müsse erst seine Aufgabe erledigen. „Vielleicht fängt Ferhats Aufgabe mit seinem Tod an“, sinnt seine Mutter mit feuchten Augen. „Ich muss diese Aufgabe erledigen.“

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„Du hast dunkle Haare – das kannst Du gewesen sein.“

Niemand solle mehr fragen müssen: „Warum werden Menschen getötet, weil sie anders aussehen? Warum werden Kinder an den Schulen benachteiligt, weil sie eine andere Haut- und Haarfarbe haben?“ Die Mittvierzigerin hat von der Diskriminierung ihrer eigenen und anderer Kinder an Schulen erfahren. Ein Lehrer habe Ferhat nach einem Vorfall verdächtigt: „Du hast dunkle Haare – das kannst Du gewesen sein.“ Über seinen Bruder habe ein Lehrer gesagt: „Ihr Kind hat keine Chance an dieser Schule.“ Der Sohn habe die Schule gewechselt und ein Abitur mit 1,8 gemacht, heute studiere er. Sechs Monate nach dem rassistischen Anschlag beschloss Unvar, eine Bildungsinitiative zu gründen.

An Ferhats Geburtstag, dem 14. November, rief sie 2020 die „Bildungsinitiative Ferhat Unvar“ ins Leben. Ihr Anliegen sei, Lehrkräfte und Eltern dafür zu sensibilisieren, dass Schülerinnen und Schüler sich nicht alleingelassen fühlten, sagt Serpil Temiz Unvar. Kinder von Migranten sollten keinen Alltagsrassismus mehr erfahren. „Ich will Jugendliche empowern, dass sie für eine gemeinsame Zukunft arbeiten.“ In den beiden Räumen der Initiative am Hanauer Freiheitsplatz gehen junge Erwachsene, Schülerinnen und Schüler ein und aus, die Eintretenden und die Gründerin umarmen sich.

„Ich sehe Ferhat in den Jugendlichen.“

„Ich liebe alle Jugendlichen“, sagt Unvar und strahlt. „Ich sehe Ferhat in den Jugendlichen. Er lebt mit ihnen. Deshalb kann ich weiterleben.“ Manche würden ihr gestehen: „Du hast meinem Leben eine neue Richtung gegeben“, „Wegen dir mache ich eine Ausbildung“ oder „Ich habe mich verlobt“. Inzwischen unterstützen fünf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf Teilzeitstellen die Gründerin, die Freunde von Ferhat und die freiwillig Engagierten.

Das Landesprogramm „Hessen – aktiv für Demokratie und gegen Extremismus“ finanziert seit vergangenem August drei halbe Stellen, die anderen werden durch Spenden getragen. Auch die zunächst durch Spenden aufgebrachte Miete wird seit August durch das Programm gedeckt. „Wir arbeiten 24 Stunden am Tag für dieses Land“, sagt Unvar. Eine Hilfe wäre es aus ihrer Sicht, wenn die Initiative langfristig unterstützt würde und nicht ständig einen Papierberg an Projektanträgen bewältigen müsse.

Unvar: Schule ist ein wichtiger Schlüssel gegen Rassismus

Die Initiative hat ein Workshop-Konzept für Schulklassen ab der siebten Klassenstufe und für Jugendgruppen ausgearbeitet. Themen sind Antidiskriminierung und der Anschlag vom 19. Februar. Im vergangenen Jahr habe die Initiative 60 Workshops gegeben, für kommenden März seien schon 12 gebucht. In diesem Jahr werde ein Konzept für Grundschulen erarbeitet. Daneben bietet die Initiative Workshops für Lehrkräfte und Eltern an. Ferner erarbeitet sie zusammen mit einer Frankfurter Soziologie-Professorin ein Modul über Rassismus im Lehramtsstudium.

„Die Schule ist ein wichtiger Schlüssel, um Rassismus zu erlernen oder zu verlernen“, sagt Unvar. Die Hanauerin mit kurdischen Wurzeln ist dabei, Beziehungen zu ähnlichen Initiativen in anderen Ländern zu knüpfen. „Ferhat hätte zu mir gesagt: Bist du bescheuert? Meinst du, du kannst etwas ändern?“, sagt sie. „Aber er hätte trotzdem gewollt, dass ich weitermache.“ (epd/mig) Leitartikel Panorama

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