EU-Massenfluchtrichtlinie

Rassistisch motivierte Ungleichbehandlung

Während wir uns bei ukrainischen Geflüchteten liebevoll sogar um die Zusammenführung mit Haustieren gekümmert haben, lassen wir Geflüchtete aus anderen Ländern viele Jahre auf die Zusammenführung mit ihren Kindern, Eltern und Geschwistern warten.

Von Mittwoch, 01.02.2023, 17:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 01.02.2023, 11:05 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Die EU-Massenflucht-Richtlinie von 2001 entstand unter dem Eindruck des Bosnienkrieges und sollte das europäische Asylsystem harmonisieren, verbindliche Mindeststandards bei der Aufnahme Geflüchteter festlegen, sowie die Asylsysteme der Nationalstaaten entlasten. Diese Richtlinie kam zum ersten Mal wenige Tage nach Ausbruch des Ukraine-Krieges zur Anwendung. Sie garantiert Geflüchteten aus der Ukraine Rechte, die Geflüchtete aus anderen Ländern nicht haben. Dies führt zuweilen zu Unmut, da hierdurch auch innerhalb der Gruppe der Flüchtenden eine Zweiklassengesellschaft etabliert wird.

Auffallend ist, wie schnell sich die EU auf die Gewährung des vorübergehenden Schutzes zur Aufnahme der aus der Ukraine geflüchteten Menschen einigen konnte. Derweil warten andere Geflüchtete viele Jahre auf den Nachzug ihrer Familienangehörigen – was manch ein Nachzugsberechtigter schon mit dem Leben bezahlt hat. Bei Ukrainern wiederum sind die Aufnahmeprozesse schnell, adäquat und unbürokratisch – man hat sich sogar liebevoll um die Zusammenführung mit den Haustieren gekümmert, was grundsätzlich zu begrüßen ist, angesichts der Ungleichbehandlung aber ganz anders wirkt.

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Die Frage ist also, warum wurde die Richtlinie, die flüchtenden Menschen sichere Zugangswege ermöglicht und ihre Integration in die Aufnahmegesellschaft drastisch beschleunigt, nicht schon 2015 angewandt? Hier wird stellenweise argumentiert, dass die EU das Erstfluchtgebiet sei und die Ukrainer:innen keine andere Möglichkeit gehabt hätten, als dorthin zu fliehen. In der Richtlinie ist allerdings nirgendwo vermerkt, dass die EU das Erstfluchtland sein muss. Folgte man dieser Logik, hätten Einwohner:innen eines Landes ohne EU-Grenze keinen Anspruch auf eine gesicherte Aufnahme durch die Massenfluchtrichtlinie. Dies ist blanker Hohn, wenn man vergleicht, wie beispielsweise auf die Fluchtbewegungen aus Syrien – auch angesichts noch immer andauernder Kampfhandlungen – reagiert wurde: mit dem Türkei-Deal und dem Aufweichen des Schutzstatus für syrische Geflüchtete.

„Die Bundeswehr war im Rahmen der Nato-Ausbildungsmission mehrere Jahre dort stationiert. Was war Deutschland also anderes in Afghanistan, wenn nicht „Konfliktpartei“?“

Andere argumentieren mit der Betroffenheit Deutschlands als „Konfliktpartei“, was auch umstritten ist und gerade jüngst von der Bundesregierung dementiert wurde. Wenn dem so wäre, hätte die „Betroffenheit“ auch einige wenige Monate vorher erkannt werden können, als die Taliban die Macht in Afghanistan übernahm, sich verzweifelte Menschen an Flugzeuge klammerten und in den Tod stürzten. Die Bundeswehr war im Rahmen der Nato-Ausbildungsmission mehrere Jahre dort stationiert. Was war Deutschland also anderes in Afghanistan, wenn nicht „Konfliktpartei“? Hierzu fiel aber Politiker:innen jedweder Couleur nicht mehr ein als zu bejammern, dass sich 2015 auf keinen Fall wiederholen dürfe. Freilich nicht im Sinne von einem Lerneffekt durch 2015, sondern durch Abschottung und Verhinderung von Fluchtbewegungen aus Afghanistan.

Doch auch innerhalb der vor dem Krieg Geflüchteten werden Unterschiede gemacht. Wer einen ukrainischen Pass besitzt, erhält den Aufenthalt nach § 24 AufenthG, hat Bewegungsfreiheit statt Residenzpflicht und erhält Zugang zu Integrationsleistungen sowie eine gesicherte Gesundheitsversorgung. Andere aus der Ukraine Geflohene, wie Studierende oder Saisonarbeiter:innen ohne ukrainischen Pass, müssen derweil nach 90 Tagen Aufenthalt nachweisen, dass sie nicht in ihre Herkunftsländer zurückkönnen und im Zweifel ein Asylverfahren durchlaufen.

Dabei wird im Durchführungsbeschluss der EU darauf verwiesen, dass die Mitgliedsstaaten „den vorübergehenden Schutz auch weiteren Gruppen von Vertriebenen … gewähren (können), sofern diese Personen aus den gleichen Gründen vertrieben wurden und aus demselben Herkunftsland … kommen“. Die Bestimmungen sind oft schwammig und erübrigen sich in Soll/Kann-Formulierungen, was aber auch Spielräume lässt, weitere schutzbedürftige Gruppen zu identifizieren. Die Gruppe der Drittstaatsangehörigen hätte also auch per Beschluss in den „vorübergehenden Schutz“ aufgenommen werden können, um unnötige Bürokratie, Prüfverfahren, Unsicherheiten und Ungleichbehandlungen zu vermeiden – hätte!

„Schlussendlich gibt es keine rechtlichen oder objektiven Gründe, warum man 2015/16 anders vorgegangen ist als 2022/23.“

Schlussendlich gibt es keine rechtlichen oder objektiven Gründe, warum man 2015/16 anders vorgegangen ist als 2022/23. Es hat sich gezeigt, dass die EU und Deutschland sehr wohl in der Lage sind, in kurzer Zeit Tausende Menschen aufzunehmen und diese auch halbwegs menschenwürdig unterzubringen. Zusätzlich wurde hier ein Instrument geschaffen, dass dem oftmals beklagten Fachkräftemangel entgegenwirken könnte. Wenn Geflüchtete arbeiten dürfen, einen sicheren Aufenthaltsstatus erhalten, ist dies auch für Arbeitgeber viel rechtssicherer und verbindlicher, einen Geflüchteten einzustellen. Fehlt die Rechtssicherheit, müssen sie ständig befürchten, dass der eingestellte Azubi oder Facharbeiter jeden Morgen nicht erscheinen könnte, weil er abgeschoben wurde.

Dass dies alles im Sommer der Migration nicht erfolgte, fußt auf rassistischer Gesetzgebung und Unwilligkeit zur Aufnahme von Nicht-Weißen oder Nicht-Christen. Denn auch 2015 war die Massenflucht von Menschen aus unterschiedlichen Herkunftsländern absehbar. Damals wurden aber Gesetze verschärft, Push-Backs an den EU-Außen- und Binnengrenzen von der Ausnahme zur Regel, Frontex aufgerüstet und das Sterben an den Grenzen nicht verhindert, sondern befeuert durch Rücknahmeabkommen und Kriminalisierung von Seenotrettung oder dem Erfrieren lassen an der polnisch-belarussischen Grenze etc.

„Geflüchtete aus anderen Ländern aber annähernd gleichzubehandeln ist ein Gebot der Menschlichkeit.“

Um klarzustellen: Die Ukrainer:innen haben jedes Recht auf eine zügige Schutzgewährung, Aufnahme und Integration. Geflüchtete aus anderen Ländern aber annähernd gleichzubehandeln ist ein Gebot der Menschlichkeit und des Gleichbehandlungsgrundsatzes. Alles andere führt die EU mit ihren gepriesenen Werten von Menschenrechten und Menschenwürde ad absurdum.

Das aber im Gegensatz hierzu auch von intellektueller Seite „Doppelstandards“ im Umgang mit Menschen aufgrund einer irgendwie gefühlten „Nähe“ als Teil der „Realität“ gesehen und somit normalisiert werden, ist der eigentliche Skandal.

Meinung

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  1. Doris Peschke sagt:

    Liebe Migazin-Redaktion,

    die Infos des Migazin schätze ich sehr. Eine Bitte habe ich jedoch: in Deutschland – und leider auch im Migazin – wird immer von der „Massenflucht“- oder „Massenzustrom“-Richtlinie der EU gesprochen. Die richtige Bezeichnung ist jedoch Richtlinie zum temporären (oder vorübergehenden) Schutz – im englischen „Temporary Protection Directive“, was zu gebräuchlichen Abkürzung TPD geführt hat.
    Da Sprache doch sehr wichtig ist, möchte ich darum bitten, vom vorübergehenden Schutz zu sprechen. Die Assoziationen zu diesem Begriff sind doch andere als die zum „Massenzustrom“, der ja eher als Gefahr verstanden wird, während der Schutz etwas positives nahelegt.